Die Bedürftigkeit zählt, nicht die Herkunft
KaRAvi!“ – Katerina Papapanou spricht laut und sehr deutlich. „KaraVI!“ antworten 15 junge Menschen im Chor. Es klingt ähnlich, aber das genügt Papapanou nicht. „KaRAvi!“, wiederholt sie und blickt in fragende Gesichter. „Hört ihr denn nicht den Unterschied?“ Es ist Textprobe im „Neos Kosmos Social Spot“, einem Sozialzentrum der Caritas Griechenland in Athen. Geflüchtete aus Afghanistan studieren hier eine adaptierte Fassung von Homers „Die Odyssee“ ein. Katerina Papapanou, die für das kulturelle Angebot im Sozialzentrum verantwortlich ist, wacht über die Aussprache. Ihr Kollege, Chalil Alizada, führt Regie. „Wir haben uns für dieses Stück entschieden, weil es eine Vielzahl von spannenden Rollen bereithält“, erklärt der gebürtige Afghane. „Und weil es nah an unserem Leben ist – die Reise, das Boot, das Meer.“
Jeden Tag kommen Boote
Laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) kamen 2019 bislang 12.258 Geflüchtete auf dem Seeweg nach Griechenland (Stand: 23. Juni 2019). Es sind vor allem Menschen aus kriegs- und krisengeschüttelten Ländern wie Afghanistan, Syrien und Irak, die die lebensgefährliche Überfahrt von der Türkei auf die griechischen Inseln wagen. Dort müssen sie einen Asylantrag stellen und ausharren, bis ihr Schutzstatus feststeht – so will es der EU-Türkei-Deal. Oft dauert es Monate, manchmal mehr als ein Jahr, bis die Betroffenen wissen, wie es für sie weitergeht: Ob sie auf das griechische Festland gebracht werden, ein anderes EU-Land sie aufnimmt oder ob sie zurück in die Türkei müssen.
So geht es auch Shukria Moradi. Zusammengesunken sitzt sie auf einer schmalen Bank im berüchtigten Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. „Das Leben in ­Afghanistan, unsere Flucht, das alles war schrecklich“, erzählt die junge Frau, die mit ihrer Mutter und den beiden Schwestern Ende 2018 auf Lesbos ankam. „Aber Moria hat mich gebrochen, physisch und psychisch. Wir haben keinen Einblick in unser Asylverfahren. Wir wissen nichts. Ich kann nicht mehr schlafen. An manchen Tagen kaum sprechen. Und wenn doch: Ich habe hier keine Stimme.“
Ausgelegt ist Moria für rund 3.000 Menschen. Doch gerade in den Sommermonaten, wenn täglich Boote mit Geflüchteten anlanden, werden es schnell zwei- bis dreimal so viele. Dann platzt das ohnehin eng belegte Lager aus allen Nähten, und Neuankömmlinge müssen sich im benachbarten Olivenhain eine Bleibe schaffen. Dort wohnen sie in viel zu kleinen Zelten, unter Plastikplanen oder selbstgebastelten Verschlägen. Schlafen auf feuchten Matratzen, Holzpaletten oder einem Stück Karton und stehen für eine Mahlzeit mehrere Stunden Schlange.
Mit dem Camp Kara Tepe haben die Gemeinde Mytilini, die Caritas und weitere zehn Hilfsorganisationen eine Art Gegenentwurf geschaffen zum benachbarten berüchtigten Lager Moria. Errichtet auf einem alten Verkehrsübungsplatz und aufgeteilt in sieben Viertel gleicht das Kara Tepe eher einem freundlichen Dorf. Es gibt schattige Gemeinschaftsflächen, ein Fußballfeld, eine Teeküche und blau-weiß bemalte Wohncontainer. Es gibt Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter. Und auch Juristen, die rechtliche Beratung anbieten. Erwachsene können Griechisch- und Englischkurse besuchen, die Kinder eine Schule oder den Kindergarten. 1300 besonders vulnerable Menschen finden hier einen sicheren Hafen – bis ihre Reise weitergeht.
Wann immer möglich, vernetzt die Caritas auf Lesbos die Geflüchteten mit den Kolleg(inn)en auf dem Festland. „Leider wissen wir oft selbst nicht, wohin die Menschen gebracht werden. Die Entscheidung trifft die griechische Regierung“, erklärt Maritina Koraki, Projektkoordinatorin auf Lesbos.
Eine Oase für besonders Schutz­bedürftige
Für besonders schutzbedürftige Menschen hat die Caritas in Athen mit finanzieller Unterstützung von Caritas international und gemeinsam mit der armenischen Kirche und der Hilfsorganisation Papa Giovanni XXIII eine Oase der Ruhe geschaffen: das gemeinschaftliche Wohnprojekt „Neos Kosmos Shelter“. Knapp 50 Menschen finden dort für einen Zeitraum von acht Monaten Zuflucht, können Erlebtes verarbeiten und Gedanken für die Zukunft fassen. Menschen wie Fatima Rahnawi, die mit ihrem Mann und zwei Kindern aus dem Irak nach Griechenland floh. Die Caritas stellt ihnen eine kleine Wohnung, gekocht werden kann in der Gemeinschaftsküche. Die Familie erhält Hilfe bei den Behördengängen und die Kinder können eine Nachmittags-Betreuung besuchen. Was wie ein Rundum-sorglos-Paket klingt, ist schlichte Überlebenshilfe. Fatimas Rahnawis Mann ist schwer an Krebs erkrankt. Ihr kleiner Sohn hat die Grauen der Flucht bislang nicht überwunden. Und auch Fatima Rahnawi trauert noch um ihr drittes Kind, das sie – im fünften Monat der Schwangerschaft – auf der Flucht verlor.
Den sozialen Frieden wahren
Es ist ein Spagat, den die Caritas leisten muss. Zwar erholt sich Griechenland langsam von der Wirtschaftskrise, dennoch lag die Arbeitslosenquote im vergangenen Jahr bei 19,6 Prozent, unter Jugendlichen bei fast 39 Prozent. Auch wer eine Beschäftigung hat, verdient wenig im europäischen Vergleich. 16.200 Euro beträgt ein durchschnittliches Jahreseinkommen, kaum genug für ein Leben in einer Großstadt wie Athen. Deshalb stehen die Caritas-Angebote für geflüchtete Menschen auch allen Griech(inn)en offen. Entscheidend ist die Bedürftigkeit, nicht die Herkunft.
Dass dieses Konzept aufgeht, zeigt sich in einem weiteren Sozialzentrum der Caritas im Athener Stadtteil Kipseli. „Was findest du schön an dir?“, fragt Christiana Rigoutsou, die als Psychologin für die Caritas Hellas arbeitet, und gibt den kleinen Spiegel an Caterina Stavropoulos1 weiter. Diese blickt etwas ratlos drein. Es fällt ihr nicht leicht, etwas Positives über sich selbst zu sagen. Zögerlich beginnt sie zu sprechen: "Ich mag meine Haare. Und ich denke, ich bin ein eher ruhiger Mensch, ausgeglichen und sensibel." Alles wird auf kleine Papierblumen notiert. Sie sollen - zu einer Kette zusammengefügt - die Frauen immer an ihre Schönheit und Stärke erinnern. "Du hast eine schöne Brille", "du bist immer pünktlich", "du hast ein großes Herz", rufen die übrigen Frauen munter durcheinander. Die Übersetzerinnen haben alle Hände voll zu tun, die französischen, griechischen und arabischen Komplimente für alle verständlich zu machen. Und es gelingt: Am Ende der Sitzung haben alle ein kleines Lächeln auf dem Gesicht. "Die Frauen nehmen die Termine sehr ernst. Sie sind vertraut miteinander, können zusammen lachen und weinen", erzählt Aspasia Zouliati, die das Zentrum leitet. "Es gibt in Athen sehr viele Hilfsorganisationen, die Frauen und Kinder unterstützen. Aber es fehlen vergleichbare Angebote für Männer, dabei ist der Bedarf immens. Viele wurden Opfer von Folter, fast alle haben Gewalt erfahren. Das möchten wir als Nächstes angehen."
Ob die Geflüchteten in Griechenland ankommen, ob sie einen Job und eine Wohnung finden, hängt letztlich auch davon ab, ob sie die Sprache sprechen. "Ohne Griechisch hat man auf dem ohnehin angespannten Arbeitsmarkt keine Chance", erklärt Katerina Papapanou. Deshalb bietet die Caritas bereits im Flüchtlingslager auf Lesbos, aber auch in den Sozialzentren in Athen täglich Griechisch-Kurse an.
"Land in Sicht", schallt es auf Griechisch durch den "Neos Kosmos Social Spot". Ungläubig starrt der junge Schauspieler durch sein Fernrohr. Auch alle anderen hält nichts mehr auf den Plätzen, sie drängen sich um ihn. Jeder möchte sich mit eigenen Augen davon überzeugen. Chalil Alizada hat recht: Es ist das Theaterstück ihres Lebens. Und es bringt sie ihrer neuen Heimat einen Schritt näher: volle Kraft voraus.
Anmerkung
1. Name von der Redaktion geändert.
Sozialpädagogik statt Haft
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