„Auch du bist ein Bürger und kein Untertan“
Demokratieschulungen für Flüchtlinge - diese Idee stößt durchaus auf Widerspruch. Manche wenden ein, dass Geflüchtete doch gar nicht an der Demokratie partizipieren könnten, da sie von Wahlen ausgeschlossen seien - solche Kritik kommt meist von Leuten, die schon lange hier le-
ben. Flüchtlinge, jedenfalls solche, die schon in ihrer Heimat politisch aktiv waren, em-
pören sich, dass ihnen etwas beigebracht werden soll, was sie schon längst begriffen hätten.
Die eine wie die andere Kritik blendet die Vielfältigkeit von Demokratie aus. Alle vier Jahre sein Kreuz auf einem Zettel zu machen, ist das Geringste, was das Leben hier von einer Diktatur unterscheidet. Zweifellos ist es eine notwendige Bedingung, damit alle anderen demokratischen Rechte geschützt bleiben.
Der Ärger der Flüchtlinge ist verständlich. Neuzugewanderte sind mit einer Vielzahl von Erklärversuchen der deutschen "Kultur" konfrontiert, die zwar meist gut gemeint sind, aber oft ihre Zielgruppe verfehlen. Wer an Aktionen und Demonstrationen gegen sein Regime mitgewirkt hat, braucht so manchen Werteunterricht nicht. Er könnte oft sogar noch manchem Deutschen eine Lektion in puncto Menschenrechte erteilen.
Dieser Gedanke war der Ursprung der Idee des Projekts "Vom Flüchtling zum Bürger und zur Bürgerin" des Vereins Wadi: Menschen, die aus Diktaturen hierher fliehen, haben sich oft in ihren Ländern für Freiheit und Menschenrechte eingesetzt, manche unter Einsatz ihres Lebens. Sie könnten eine große Bereicherung für unsere Demokratie sein. Doch der Zugang bleibt ihnen weitestgehend verwehrt - teils, weil sie gar nicht wissen, wo sie sich überall beteiligen könnten.
Das liegt auch daran, dass viele Deutsche einen Demokratie-Pessimismus pflegen. Sie sagen gerne Dinge wie: "Die da oben machen doch, was sie wollen." Diese Haltung gibt so manche(r) Flüchtlingshelfer(in) an die Zugewanderten weiter.
Manche Dinge scheinen banal
Ihnen ist nicht bewusst, dass sie dadurch entscheidendes Wissen zurückhalten. Denn tatsächlich wissen sie, wie man hier ganz legal für seine Rechte streitet. Sie wissen, dass sie sich an den Betriebsrat wenden können, wenn ihnen das Kantinenessen nicht schmeckt. Sie wissen, dass sie mit gleichgesinnten Nachbarn eine Bürgerinitiative gegen Verkehrslärm gründen können. Und wollten sie Sonnenblumen auf dem Grünstreifen der Straße pflanzen, würden sie herauskriegen, wo sie dafür einen Antrag stellen können. Solche Dinge kommen ihnen nur banal vor.
Aber das sind sie nicht für jeden. Der Mitgründer des Projekts Hussein Ghrer erzählt in Workshops gerne zweifelnden Deutschen, wie es ihn gefreut habe, als er den Gemüsegarten im Kindergarten seines Sohnes mitgestalten durfte. Erst habe er gedacht, die Einladung sei zu einem Arbeitseinsatz. "Aber als ich sah, wie dort die anderen Eltern diskutierten, habe ich begriffen: Wir dürfen tatsächlich selber entscheiden, was wir pflanzen wollen!"
Ghrer hat sich in Syrien für Pressefreiheit eingesetzt und saß dafür mehrere Jahre im Gefängnis. Als Schüler ging es ihm um weniger Großes: Er wollte mit ein paar Kumpels den Schulhof verschönern. Zu dritt fragten sie den Direktor und der begrüßte die Idee. Aber er musste "oben" nachfragen, vor allem beim Geheimdienst. Das Ergebnis: Eine AG Schulverschönerung durfte es nicht geben. Nur als Einzelpersonen hätten sie saubermachen dürfen, aber sicher keine Blumen pflanzen oder Wände bemalen.
Nicht jeder, der hier als Flüchtling ankommt, hat sich in seinem Land für Demokratie eingesetzt. In dem Workshop für Gruppen von zehn bis 15 Flüchtlingen sitzen meist zwei bis drei Teilnehmer(innen), die der demokratischen Opposition in ihren Ländern angehörten, etliche weitere haben sich an Protesten beteiligt. Aber es gibt auch die, die Politik wenig interessiert. Und es gibt einige, die ihre Werte, meist kaschiert als "Religion", über Menschenrechte und Demokratie stellen - einige davon, weil sie sich nichts anderes vorstellen können. Andere argumentieren in den Mustern islamistischer Ideologie.
Eine politisch derartig diverse Zielgruppe ist eine Herausforderung. Darum geht es in den Workshops auch erstmal nicht um Demokratie. Sie setzen bei der Eigenverantwortung an, beim "Empowerment".
Die Teilnehmenden sollen Situationen nachstellen, in denen sie sich ungerecht behandelt fühlten. Oft geht es dabei um Behördenerlebnisse, manchmal um Begegnungen mit Passant(inn)en oder um den Einlass in einen Club. In allen Fällen glauben die Teilnehmer(innen), dass sie Rassismus erlebt haben. In einigen Situationen haben sie damit offensichtlich recht, in vielen ist das aber nicht so eindeutig. Zu überlegen, was den anderen motiviert, ist eine wichtige Voraussetzung, um handlungsfähig zu werden: Warum kontrolliert der Schaffner besonders streng? Warum meckern die Nachbarn?
Viele Geflüchtete meinen, sie könnten nichts tun
Im Workshop wird über die Motivation der Beteiligten diskutiert. Als Nächstes fragen die Workshopleiter(innen), wie man in der Situation helfen kann. Darauf gibt es zwei Sorten von Antworten: Viele glauben, man könne nichts tun, etwa wenn das Jobcenter eine Ausbildung zum Lagerlogistiker vorschlägt, man selber aber lieber Elektriker lernen würde. Gelegentlich wird auch Gegengewalt vorgeschlagen, etwa beim Clubeinlass: "Dann hole ich meine Kumpels." Die meisten lehnen dies aber ab und sind überzeugt, dass man nichts tun sollte.
Sofern es die Situation erlaubt, ermutigen die Workshopleiter(innen) die Teilnehmenden, eine Gegen­argumentation zu entwickeln. Aber zweifellos gibt es Situationen, in denen man Hilfe braucht. Fast nie kommt jemand darauf, dass es Organisationen gibt, die in solchen Fällen helfen können.
Im Kernteil der Workshops sollen die Teilnehmer(innen) überlegen, was sie in ihrem Nahumfeld gern ändern würden. Dann wird über die Vorschläge abgestimmt: Anhand einer Idee wird diskutiert, wie man das erreichen könnte. Der am häufigsten genannte Punkt ist immer: Deutsche kennenlernen.
Um Hilfe zu fragen war im Herkunftsland nicht üblich
In einem Deutschaufbaukurs an einer Hochschule hatten sich die Teilnehmer(innen) überlegt, die deutschen Student(inn)en zu Essen und Musik einzuladen. Aber sie waren ratlos, wie sie einen Raum dafür bekommen könnten. Darauf angesprochen, ob jemand vom Asta der Hochschule gehört habe, meldete sich nur ein Student. Er wusste, dass das ein gewähltes Gremium war, auch, dass es eine Ausländervertretung gab. Aber er wusste nicht, dass sie sich mit ihren Anliegen dorthin wenden konnten. Nachdem die Trainer(innen) das erklärt hatten und glaubten, es sei nun klar, was zu
tun sei, meldete sich ein anderer und fragte: "Aber was gibt mir die Kompetenz, dort nach einem Raum zu
fragen?"
Ein syrischer Kollege erkannte sofort, dass diese Frage den Kern der Workshop-Idee betraf: "Genau darum geht es hier. Du hast die Kompetenz, weil auch du ein Bürger bist, kein Untertan."
Der Begriff des Bürgers, wie er im Programm "Vom Flüchtling zum Bürger und zur Bürgerin" verwendet wird, ist im Sinne des "Citoyen" zu verstehen, der zurückgehend auf die Zeit der Französischen Revolu­tion ausdrückt, dass die Bürger(innen) eigenverantwortlich am Gemeinwesen teilnehmen und es mitgestalten.
In den Hauptfluchtländern gibt es das Prinzip des "Citoyen" nicht. Dort, wo der Staat im Besitz von Diktatoren und Clans ist, müssen die Menschen es ertragen, wenn Polizisten sie ohrfeigen. Sie können nichts tun, wenn Verwandte verschleppt werden. Es kann sich kein anderes Verhältnis zu Gesellschaft und Staat entwickeln als eines der Korruption, Passivität und Furcht. Menschen in den Hauptfluchtländern sind keine Bürger(innen), sie sind Untertanen, Objekte. Das Aufwachsen in solch einer Gesellschaft prägt: Es gibt weder freie öffentliche Diskurse noch ein Verständnis von "öffentlichem Raum" oder gar Gemeinwohl.
Die meisten Deutschen machen sich nicht bewusst, dass die Idee des selbstverantwortlichen Bürgers unmittelbarer Bestandteil von Demokratie ist. Darum interpretieren sie es falsch, wenn Zugewanderte keine Verantwortung übernehmen. Dabei sollten sie das aus zwei Diktaturen wissen. Auch über diese Diktaturen wird in den Workshops diskutiert - und darüber, dass die Deutschen lange gebraucht haben, um aus den Trümmern eine demokratische Gesellschaft aufzubauen.
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