Zusammenhalt muss erlebbar werden
Das Thema "gesellschaftlicher Zusammenhalt" hat Konjunktur. Viele Menschen sehen ihn als gefährdet an. Die Gründe dafür sind vielfältig. Tatsächlich haben Unternehmensskandale, die Wahl Donald Trumps, die Probleme der Regierungsbildung in Deutschland und andere Ereignisse das Vertrauen in die Eliten und die gesellschaftlichen Institutionen erschüttert. Die Medien mit ihrer "Ökonomie der Aufmerksamkeit"1 verstärken die Wahrnehmung einer Erosion des Zusammenhalts. Aufgrund der vielen Missbrauchsfälle und einiger Finanzskandale hat leider auch die Kirche an Vertrauen eingebüßt.
Aber: "Was kümmert der gesellschaftliche Zusammenhalt die Caritas?"2 Warum und wozu die Initiative des Deutschen Caritasverbandes (DCV) für gesellschaftlichen Zusammenhalt (2018-2020)? Mögliche Antworten kristallisieren sich bei folgenden Fragen heraus: Was verlöre die Gesellschaft, wenn sie ihre Fortentwicklung den populistischen Spalter(inne)n des Zusammenhalts überließe? Wie wichtig sind ein höheres Maß an Gemeinsamkeiten (Sprache, Werte, Ziele), ein gesellschaftliches "Wir-Gefühl", verbunden mit der Bereitschaft zur Solidarität? Ohne Solidarität dürfte es sehr viel schwerer sein, die finanziellen Ressourcen und das Engagement aufzubringen, die Situation der Armen und Benachteiligten zu verbessern.
Es steht nicht so schlecht um den Zusammenhalt
Es ist gar nicht so einfach, genau zu bestimmen, was man mit "gesellschaftlichem Zusammenhalt" meint. Das kommt auch in den üblichen Definitionsversuchen zum Ausdruck, zum Beispiel in einem Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums des Innern: "Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Demokratie ist keine Tatsache und kein erreichbares Endziel, sondern ein politisch-sozialer Prozess, getragen von sozialmoralischen, lebensweltlichen kollektiven Einstellungen und Verhaltensweisen: Vertrauen in Verfassung, Institutionen und soziale Infrastruktur, Engagement für das Gemeinwohl, politische Beteiligung und Konfliktbereitschaft nach demokratischen Spielregeln. Sie sind politisch weder kontrollier- noch steuerbar, wohl aber können sie auf verschiedenen Ebenen beeinflusst und gefördert werden."3
Die Bertelsmann-Stiftung hat versucht, anhand verschiedener Dimensionen den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland zu messen.4 Sie hat die Menschen beispielsweise nach ihren sozialen Beziehungen sowie nach ihrem Vertrauen in ihre Mitmenschen und in gesellschaftliche Institutionen befragt, ihr Gerechtigkeitsempfinden erforscht und einzuschätzen versucht, wie ausgeprägt Solidarität und Hilfsbereitschaft nach wie vor sind. Auch wurde gefragt, ob soziale Regeln anerkannt werden und die Menschen das Gefühl haben, sich am gesellschatlichen Leben beteiligen zu können. Das Ergebnis mag viele überraschen: Um den Zusammenhalt in Deutschland steht es gar nicht so schlecht, vor allem dort nicht, wo Vielfalt akzeptiert wird, der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund relativ hoch und das Durchschnittsalter relativ niedrig ist. Hohe Armutsquoten und niedrige Bildung stehen auf der anderen Seite für einen geringeren Zusammenhalt. "Überall, wo humanistische Werte hoch im Kurs stehen, ist der Zusammenhalt hoch, während ausgeprägte Präferenzen für Sicherheitswerte eher mit geringem sozialem Zusammenhalt einhergehen. Wer vor allem um seine Sicherheit fürchtet, öffnet sich anderen Menschen gegenüber vermutlich weniger und hält mit ihnen auch nicht in dem Maße zusammen, wie dies bei Menschen der Fall ist, die Offenheitswerte [...] präferieren."5
Will man den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht nur über Befragungen "messen", sondern soziologisch Ursachenbündel für zurückgehende oder sich verändernde Formen der sozialen Kohäsion bestimmen, so kommt man auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche, die den Zusammenhalt sichern, oder, wenn sie ihre Funktion nicht mehr erfüllen, eben auch gefährden. Wenn beispielsweise der Staat sein Gewaltmonopol und die Rechtsstaatlichkeit nicht mehr sichern kann, wenn der Arbeitsmarkt für viele Menschen nicht mehr zugänglich ist oder die Menschen den Eindruck haben, dass sachorientierte Problemlösungen und vernünftige Kompromisse in der Politik keine Chance mehr haben, dann geht das auf Kosten des Zusammenhalts. In Anlehnung an das "zivilisatorische Hexagon" von Dieter Senghaas lassen sich diese Bereiche in der nebenstehenden Abbildung schematisch darstellen6 - und zugleich die Aufgaben der Caritas benennen.
Caritas fördert den Zusammenhalt
Die Caritas kann nämlich in fast allen diesen Bereichen tätig werden und die Menschen zur Teilhabe daran befähigen. Sie unterstützt Menschen in Arbeitslosigkeit. Sie tritt in der Öffentlichkeit anwaltschaftlich für die Benachteiligten ein. Sie fördert die Selbstorganisation der Betroffenen und investiert in die Bildung der Bildungsfernen.
Der Auftrag dazu ergibt sich für alle Christen und insbesondere für die Caritas aus dem Kern der christlichen Botschaft. Papst Franziskus drückt dieses Proprium durch die "absolute Vorrangigkeit des ‚Aus-sich-Herausgehens auf den Mitmenschen zu‘"7 aus und betont: "Im Mittelpunkt des Evangeliums selbst stehen das Gemeinschaftsleben und die Verpflichtung gegenüber den anderen."8 "Ein authentischer Glaube - der niemals bequem und individualistisch ist - schließt immer den tiefen Wunsch ein, die Welt zu verändern, Werte zu übermitteln, nach unserer Erdenwanderung etwas Besseres zu hinterlassen."9
Das passt gut zu den Schwerpunkten für das politisch-anwaltschaftliche Handeln der Caritas, auf die auch das Impulspapier der Delegiertenversammlung des DCV "Gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland erhalten und fördern"10 näher eingeht:
- Befähigungs- und Teilhabegerechtigkeit;
- gleiche Chancen im Bildungszugang;
- Förderung freiwilligen Engagements;
- bessere Unterstützung bei Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen;
- Verbesserung der Wohnsituation, sozialer Wohnungsbau;
- bessere Eingliederung von Migrant(inn)en, Einwanderungsgesetz, Familienzusammenführung;
- Forderung nach steuerpolitischen Maßnahmen;
- Beiträge zur Verbesserung der öffentlichen Debatten.
Erste einzelne Ideen zur Umsetzung dieser Punkte wurden auf der Auftakttagung "Was kümmert der gesellschaftliche Zusammenhalt die Caritas?"11 gesammelt. Dabei betonten die Teilnehmenden: "Zusammenhalt muss erlebbar werden." Generationenübergreifende und interkulturelle Begegnungen gelten als Schlüssel - und sollten daher nicht nur dem Zufall überlassen bleiben. Begegnung braucht zum einen Räume. Diese lassen sich zum Beispiel in der Kita der Pfarrei oder im Seniorenheim der Caritas öffnen. Um vom "Nebeneinander" zum "Miteinander" zu kommen, braucht Begegnung aber auch ein gemeinsames Interesse. Milieuübergreifende Events wie Fußball oder gemeinsames Kochen und Essen schlagen ebenso Brücken wie das gemeinsame Herstellen und Genießen von Kultur: Film, Theater, Musik, Malen. Nicht zuletzt kann man auch an Aktionen anderer Akteure, wie beispielsweise die bevorstehende 72-Stunden-Aktion, andocken, um Menschen zusammenzubringen.
Aus diesen Begegnungen kann Weiteres erwachsen: Wo beispielsweise durch eine mehrsprachige Bewerbung von Angeboten auch Migrant(inn)en angesprochen und zur Teilnahme motiviert werden, wird für Zugewanderte wie für die Mehrheitsbevölkerung deutlich, dass Migrant(inn)en zur Gesellschaft gehören. Dies gilt gleichermaßen für die Beschäftigung von Migrant(inn)en, auch bei der Caritas, die Begegnung und Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglicht. Wo in Familienzentren und Mehrgenerationenhäusern beispielsweise Jüngere ehrenamtlich Computerkurse für Senior(inn)en anbieten, erhalten Wertebildung und Persönlichkeitsentwicklung nicht nur junger Menschen neue Impulse. So können generationenübergreifende Begegnungen auch zu Elementen der ganzheitlichen Bildung werden, die wiederum zur Teilhabe an der Gesellschaft befähigen.
Wer beteiligt wird, gehört dazu
Daran wird eine weitere Dimension des "Zusammenhalt-Erlebens" deutlich: das Zugehörigkeitsgefühl, das durch die Erfahrung selbstbestimmter Teilhabe entsteht. Diese Erfahrung stärkt die Caritas zum einen, wenn sie als "Anwältin mit Mandat" tätig wird. Dazu gilt es, Formate der Beteiligung zu entwickeln oder auch die eigenen Positionen und Kampagneninhalte für betroffene Zielgruppen sprachlich aufzubereiten. In Zeiten der Digitalisierung drängen sich weitere Stellschrauben geradezu auf: So ist die Beteiligung an der sich immer stärker abzeichnenden "Arbeitswelt 4.0" - auch von benachteiligten Gruppen - ein ebenso wichtiges Befähigungsziel wie Medienkompetenz und ein konstruktiver Umgang mit den Social Media. Letzteres berührt ein weiteres wichtiges Handlungsfeld, nämlich zur Verbesserung der Debattenkultur in der breiten Öffentlichkeit beizutragen. Dafür braucht es "Rüstzeug". Argumentationstrainings für Mitarbeitende gegen rechtspopulistische Parolen sind da ein erster Schritt. Dahinter liegen aber - mitunter auch sehr komplexe - Haltungsfragen, für deren Klärung die Initiative genutzt werden sollte.
Nicht zuletzt richtet sich der Anspruch, selbstbestimmte Teilhabe erfahrbar zu machen, aber auch direkt an die verbandliche Struktur der Caritas und an ihre Dienste und Einrichtungen. Auch hier liegen Haltungsfragen zugrunde: Wie begegnen wir Klient(inn)en und Mitarbeitenden? Die Ausbildung von "Demokratie-Berater(inne)n" - wie sie beispielsweise in Münster oder Speyer derzeit erprobt werden - lässt hier wertvolle Impulse erwarten.
Ohne Zweifel sind die Handlungsfelder, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, ausgesprochen vielfältig. Dementsprechend reichhaltig werden sicher auch wieder die Beiträge zu dieser neuen Caritas-Initiative sein, zu denen alle Einrichtungen und Dienste in den nächsten drei Jahren aufgerufen sind. Lasst uns keine Angst vor Verschiedenheit haben und der Kreativität keine Grenzen auferlegen!
Anmerkungen
1. Frank, G.: Ökonomie der Aufmerksamkeit. München: Carl Hanser Verlag, 1998.
2. So lautete der Titel der Auftakttagung der neuen Initiative der Caritas am 31. Januar 2018 in Frankfurt/M. Dieser Beitrag geht auf die Ergebnisse dieser Tagung zurück.
3. Jaschke, H.-G.: Bedingungsfaktoren des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Berlin, 2009, S. 7.
4. Bertelsmann-Stiftung: Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt - messen, was verbindet. Gütersloh, 2017.
5. Ebd., S.90.
6. Senghaas, D.: Region - Nation - Europa. In: Teufel, E. (Hrsg.): Was hält die moderne Gesellschaft zusammen? Frankfurt/M., 1996, S. 160.
7. Apostolisches Schreiben "Evangelii Gaudium", Rom, 2013, Ziffer 179.
8. Ebd., Ziffer 177.
9. Ebd., Ziffer 183.
10. Dokumentiert in: neue caritas Heft 2/2018, Download: www.caritas.de/initiative (Positionen).
11. Auftakttagung am 31. Januar in Frankfurt, siehe Fußnote 2.
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