Wege aus dem Slum: Bildung und Aufklärung
Catherine möchte lächeln, aber es gelingt ihr nicht, sosehr sie es auch versucht. Ein auswendig gelerntes Lied kann sie singen, aber auch das strahlt keine Fröhlichkeit aus. Freude kommt keine auf, nicht hier in dieser Wellblechhütte in Kibera, dem größten Slum Nairobis und mit mehr als einer halben Million Einwohner(inne)n wahrscheinlich der größte ganz Afrikas. Zwar ist das Schicksal hier für die meisten Kinder ähnlich: ein Teufelskreis der Armut, aus dem schwer zu entkommen ist. Aber die siebenjährige Catherine hat es besonders hart getroffen: Ihre Mutter ist tot, ihre 14-jährige Schwester muss für sie und ihren fünfjährigen Bruder sorgen. Der Vater hat eine neue Familie und sogar ein gutes Einkommen. Aber er kümmert sich nicht nur nicht um seine Kinder - er bedroht auch jeden, der versucht, ihnen zu helfen.
Auch Paula Mwigena. Die Sozialarbeiterin der St.-Charles-Lwanga-Schule hat ein inniges Verhältnis zu Catherine. "Die Kinder müssten betteln gehen, wenn sich niemand um sie kümmern würde", erklärt sie. "Deswegen müssen wir Lösungen für sie finden, auch wenn die Situation besonders schwierig ist."
Catherine und ihr kleiner Bruder Charles gehen in das Zentrum St. Charles Lwanga im Kibera-Slum. Seit 1995 betreuen hier Ordensbrüder, Sozialarbeiter(innen), Lehrer(innen) und Erzieherinnen mehr als 500 Kinder und Jugendliche aus dem Slum und geben ihnen durch Bildung die Chance, dem Elend zu entkommen.
Brother Hilary Kazoora, der Leiter des Zentrums, kennt die Lebenssituation vieler einzelner Kinder sehr gut. Die Schicksale ähneln sich. "Das Leben in Kibera ist geprägt von hohen sozialen Konflikten, extremer Arbeitslosigkeit und großer häuslicher und außerhäuslicher Gewalt", erklärt er. "Vor allem die Kinder leiden unter den Auswirkungen dieser Lebensbedingungen. Und es gibt viele Kinder in Kibera." Die meisten von ihnen sind schon in jungen Jahren Opfer von sexueller und sonstiger Gewalt geworden. Viele Kinder zeigen Verhaltensstörungen oder sind traumatisiert. Diese Traumatisierung wirkt sich auch auf den Schulbesuch aus: Die Kinder sind nicht in der Lage, sich in staatliche Schulen zu integrieren. Sie gehen einfach nicht mehr hin. Ohne Schulabschluss sind die Zukunftsaussichten jedoch noch düsterer. »
Der Vater misshandelte die ganze Familie
Catherine würde wahrscheinlich dieses Schicksal erleiden, wenn sie nicht in die St.-Charles-Lwanga-Schule ginge. Ihr Vater ist gewalttätig und hat die gesamte Familie misshandelt. Die lokale Kirchengemeinde, die momentan die Miete für die kleine, zugige Wellblechhütte zahlt, möchte die Unterstützung für die Kinder am liebsten einstellen, weil auch sie Drohungen vom Vater bekommt. "Selbst die Verwandten der Kinder dürfen sich seiner Meinung nach nicht um sie kümmern", sagt Paula Mwigena. "Catherine kann sich deswegen momentan kaum auf den Unterricht konzentrieren." Aber Mwigena will mit dem Besitzer der Hütte reden, ob die Kinder in dieser Notlage vorerst auch ohne Mietzahlungen dort wohnen bleiben können. "Und wir müssen dem Vater klarmachen, dass wir die Erziehungsberechtigten sind, wenn die Kinder in der Schule sind."
Die Brothers of St. Charles Lwanga sind ein Orden aus Uganda, gegründet 1927, benannt nach dem heiligen Charles Lwanga, der 1886 in Uganda den Märtyrertod gestorben ist. In Uganda, Kenia und Tansania engagieren sie sich in Sozialeinrichtungen für Jugendliche. Seit 1990 arbeiten sie in verschiedenen Slums in und um Nairobi. Die St.-Charles-Lwanga-Schule im Kibera-Slum besteht seit 1995. Dort unterrichten die Lehrer(innen) besonders benachteiligte Kinder aus dem Kibera-Slum in den Klassenstufen eins bis acht, den kenianischen Grundschuljahren. Daneben erhalten Jugendliche eine praktische Berufsausbildung, beispielsweise als Kfz-Mechaniker(in), Elektriker(in), Schneider(in), Kellner(in) oder Koch/ Köchin. Für Kinder im Vorschulalter gibt es eine Betreuung ab dem sechsten Lebensmonat. "Viele Mädchen werden hier schon im Teenageralter schwanger", erklärt Brother Hilary. "Sie haben dann ihre Ausbildung bei uns abgebrochen, weil sie keine Betreuung für ihre Kinder hatten. Das haben wir jetzt geändert. Die Mädchen können ihre Kinder direkt hier in die Betreuung geben, während sie ihre Ausbildung machen."
Bei vielen Kindern ist allerdings der enge Kontakt zu den Sozialarbeiter(inne)n eine der wichtigsten Komponenten der Bildung und Betreuung in der St.-Charles-Lwanga-Schule. Als Paula Mwigena in Catherines Wellblechhütte über die ungewisse Zukunft des Mädchens spricht, fängt Catherine leise an zu weinen. Sie klammert sich fest an die Sozialarbeiterin, die für sie fast wie eine Ersatzmutter geworden ist. Catherine möchte nur weg von diesem Ort. In der Schule fühlt sie sich wohler. Dort kann sie ihre Probleme vergessen. Paula Mwigena versucht dafür zu sorgen, dass sich das Mädchen auf den Unterricht konzentrieren kann. Aber nicht nur psychologische Einzelunterstützung leistet die Sozialarbeiterin. Sie arbeitet ganz praktisch daran, dass die heranwachsenden Mädchen in der St.-Lwanga-Schule ihre Zukunft im Blick haben: mit Sexualaufklärung. "Und wenn euch die Jungs auch weismachen wollen, dass man beim ersten Mal nicht schwanger wird", ruft sie den Mädchen zu. "Glaubt es nicht! Beim ersten Mal kann man genauso schwanger werden wie bei jedem anderen Mal."
Sexuelle Aufklärung gibt es kaum
"Natürlich ist das bei den Mädchen in diesem Alter erstmal ein Tabuthema", erklärt Mwigena später. "Sexuelle Aufklärung durch die Eltern findet kaum statt. Aber bei so vielen Teenagerschwangerschaften im Kibera-Slum ist es unsere Pflicht, den Mädchen so viel sexuelle Selbstbestimmung wie möglich mitzugeben." Oft würden die jungen Mädchen mit falschen Versprechungen zum Geschlechtsverkehr verführt. "Und dann müssen sie mit einem Kind oft alleine sehen, wie sie über die Runden kommen." Paula Mwigena verteilt auch Hygieneartikel an die Mädchen und klärt über ihre Nutzung und Entsorgung auf - Themen, die bei den Mädchen zu Hause in den engen Wellblechhütten nicht zur Sprache kommen.
Dafür wissen sie alle ganz genau, wie "Haushalt" geht. Die Mädchen müssen von klein auf mithelfen, vor der Schule und nach der Schule: Wasser holen, Feuer machen, kochen, spülen, putzen. Vor allem die Ältesten in den Familien haben umfangreiche Aufgaben. "Wenn sie zur Schule kommen, haben viele von ihnen schon gearbeitet, aber noch nicht gegessen", sagt Paula Mwigena. Für das Essen sorgt die Schule daher auch. Bis nachmittags um fünf Uhr bleiben die meisten Kinder auf dem Schulgelände. Nach dem Unterricht spielen sie wild auf dem staubigen Hof, selbst die Ältesten: die Zeit einer von außen betrachtet unbeschwerten Kindheit inmitten einer feindlichen Umgebung, in der die Kinder früh erwachsen werden und Verantwortung übernehmen müssen. Und mit einer Gewalt konfrontiert werden, die Kindern erspart bleiben sollte.
Kurz bevor das Tor nach draußen, zum Slum, aufgeht, spielt die Schulband, der Schulchor singt, die kleineren Kinder tanzen dazu. Es ist kurz vor Sonnenuntergang in Nairobi. Die Dunkelheit bricht schnell herein so nah am Äquator. Catherine wirkt in diesem Moment fast noch unbeschwert.
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