Ist ein inklusives Schulsystem wirklich gewollt?
Die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems, das eine gleichberechtigte Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf ermöglicht, ist eine aktuell gesellschaftliche Aufgabe, der sich auch katholische Schulen überzeugt und engagiert stellen müssen. Dazu gehört es, dass sich katholische Grund- und weiterführende Schulen für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf öffnen."1
Mit dieser programmatischen Aussage der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) im Hintergrund diskutierten Vertreter(innen) des Deutschen Caritasverbandes (DCV) und der relevanten Fachverbände Ende 2012 die Zukunft der Förderschulen. Die Idee eines Forschungsprojektes wurde geboren. Eine erste Projektskizze offenbarte das grundsätzliche Definitionsproblem: Was inklusive Bildung oder inklusive Schule heißt, sieht jeder anders. Ein deutlich überarbeiteter Projektvorschlag reduzierte den Schwerpunkt auf "inklusiven Unterricht" und wurde Anfang 2014 akzeptiert. Das Projekt "Inklusiver Unterricht" hatte schließlich das Ziel, an ausgewählten Standorten (mit Förderschulen sowie Grund- und Hauptschulen in katholischer Trägerschaft) über drei Jahre hinweg konkrete Maßnahmen zur Annäherung beim Unterricht zwischen Regel- und Förderschule zu erproben. Zudem sollte eine Diskussion darüber angeregt werden, wie Schulen in katholischer Trägerschaft mit der Empfehlung der DBK umgehen. Eine Förderung durch die Aktion Mensch wurde beantragt und genehmigt.
Ein Projekt mit zwiespältigen Ergebnissen
Nach Abschluss des Interessenbekundungsverfahrens wurde im März 2015 mit elf Schulen und einem Schulbegleitungsdienst ein Projektverbund gegründet. In mehreren sogenannten "Werkstätten" und in einem Expertengespräch wurden für Schulleitungen, -träger und Lehrer(innen) Fortbildungen, kollegialer Austausch sowie grundlegende Diskussionen über die Umsetzung der Inklusion in Schulen organisiert.
Im Verhältnis zu dem hohen Aufwand sind die Projektergebnisse sehr zwiespältig: Sehr gute Fortschritte wurden in den beteiligten Schulen damit erreicht, eine Balance herzustellen zwischen gemeinschaftlichem Lehren und Lernen in heterogenen Gruppen (gemeinsamer Unterricht) und in homogenen Gruppen (Empowerment). Individualisierte Lehr- und Lernformen sowie - falls nötig - beratende, therapeutische und pflegerische Angebote für die Schüler(innen) wurden im Unterricht abgesichert. In einer Fachveranstaltung zum Abschluss des Projektes im September 2016 war eine inspirierte und inspirierende Aufbruchsstimmung greifbar.
Auf der anderen Seite wurde schon in den verschiedenen "Werkstätten" deutlich, dass inklusionsorientierter Unterricht nicht nur eine Frage der Didaktik und Methodik ist, sondern einen einschneidenden Umbau der Organisation erfordert. Dazu müssen die Beteiligten vor Ort mutig und engagiert für Veränderungen eintreten. Das wiederum verlangt gesellschafts- und bildungspolitische Weichenstellungen, die bisher fehlen oder eher das Engagement in der Praxis belasten.
Hohes Engagement und Anstrengungen der beteiligten Personen vor Ort stoßen also selten Veränderungen auf breiter Ebene an. So sieht es auch eine Studie der Bertelsmann-Stiftung: Dort wird behauptet, dass die Inklusion in Deutschland trotz der konkreten Fortschritte gefährdet sei. Die Diskrepanz zwischen steigenden Inklusionsquoten und gleichbleibenden Exklusionsquoten lasse aufmerken. Die Gründe könnten nur in einer regional zwar unterschiedlich hohen, aber insgesamt nicht abnehmenden Überweisung von Schülern mit Anpassungsschwierigkeiten und Förderbedarf aus dem Regelschulbereich in die Förderschulen liegen. Viele gut gemeinte Maßnahmen und Innovationen verändern also das Schulsystem nicht. "Das gefährdet die grundlegende Umgestaltung des Bildungssystems, denn der Erhalt der Förder- und Sonderschulen bindet wichtige finanzielle und personelle Ressourcen, die dringend für die Inklusion in Regelschulen benötigt werden."2
Alte Denkmuster kommen zum Vorschein
Nachfolgend einige Beispiel für die schulische Inklusionsdebatte:
Der niedersächsische Philologentag in Goslar forderte vor wenigen Wochen "am Kindeswohl orientierte, differenzierte Lösungen statt Einheitsschuldogmatismus". Konkret ist damit gemeint, dass die Förderschulen dauerhaft erhalten bleiben.3
Eine bekannte Diskussion aus den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, als Bildungspolitiker, Verbände und Elternvertreter(innen) sich wegen der Gesamtschulen stritten, wiederholt sich hier: Die Befürworter wollten den potenziellen Zugang zu allen Abschlüssen auch für die sogenannten bildungsfernen Schichten. Damals wie heute wird der "Einheitsschule" vorgeworfen, dass sie genau das nicht erreiche, nämlich die notwendige Förderung der Schüler mit Beeinträchtigungen, ob sie nun soziale, geistige, körperliche oder seelische Ursachen haben. Das Muster der Argumentation ist gleich: "Einheitsschule" (oder "Schule für alle") ist eine Gleichmacherei und die Schüler(innen) können nicht entsprechend ihrer Begabungen gefördert werden. Leistungsstärkere Schüler würden zu wenig gefordert und gefördert, wohingegen leistungsschwache Schüler durch die besseren Leistungen ihrer Mitschüler gedemütigt werden.4 Man könnte leicht auf den Gedanken kommen, dass es der "inklusiven Schule" bald ähnlich wie der Gesamtschule ergehen wird: Die gesellschaftliche Anerkennung fehlte vielerorts, in manchen Bundesländern brachte ein Wechsel der Landesregierung das Ende der Akzeptanz; ein großer Teil der Versuchsschulen beantragte, in das gegliederte Schulwesen zurückgeführt zu werden.
Welche Argumente gibt es dafür, welche dagegen?
Der Begründer der Sonderpädagogik, Otto Speck, spricht den Schulen oder Klassen im Förderschulsystem das Prädikat "inklusiv" zu: Auf die Frage, was inklusive Schule ist, antwortet er: "... zusammenfassend ist festzustellen, dass mit dem gleichen Recht, mit dem sich Regelschulen als ,inklusiv‘ verstehen, weil sie Kinder mit besonderem pädagogischem Förderbedarf aufnehmen, diese jedoch funktional und partiell auch exklusiven Settings zuordnen müssen, auch spezielle Schulen oder Klassen als ,inklusiv‘ zu gelten haben, weil sie nachweislich diejenigen Kinder mit besonderem pädagogischem Förderbedarf inkludieren, die in der Regelschule nicht entsprechend hochwertig gefördert werden können oder dort allzu sehr partiellen Exklusionen und sozialer Ablehnung ausgesetzt wären"5.
Auch hier wird das gleiche Argumentationsmuster verwendet: Nur wenn das System der speziellen Schulen neben dem Regelschulsystem erhalten bleibt, können Schüler(innen) mit speziellen Anforderungen an Schulorganisation, Methodik und Didaktik die Förderung und den Unterricht erhalten, den sie brauchen. Hans Wocken hält dagegen: Er widerlegt jede einzelne These aus Specks Essay und kommt zu dem Schluss: "Ich bewerte das Essay von Otto Speck als eine begriffsakrobatische, ideologische Rechtfertigung von Förderschulen."6
In die gleiche Richtung argumentiert der Leiter der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention, Valentin Aichele, den entsprechenden Artikel 24 als Aufforderung, die "Sonderschulen schrittweise auf-zugeben". "Der Aufbau eines inklusiven
Bildungssystems, insbesondere bei Aufrechterhaltung paralleler Strukturen, verursacht zusätzliche Kosten. Ohne die Verlagerung der Ressourcen aus dem System der Sondereinrichtungen in das allgemeine Schulsystem und die Einzelintegration in einer allgemeinen Schule kann der Aufbau nicht erfolgreich gelingen."7
Was folgt aus diesem kleinen, nicht repräsentativen Ausschnitt aus der Debatte zum Thema Inklusion? Meine These heißt: Jedes Projekt, jedes Modell mit seinen überaus engagierten Protagonisten bleibt ein singuläres Ereignis. Es ist zwar für den unmittelbaren sozialen Raum häufig wertvoll, es ist auch hilfreich für die Identität der überzeugten Verfechter einer bestimmten Organisationsform, aber das Bildungssystem und besonders das Schulsystem wird auch mit der Durchführung Tausender solcher Projekte und Modelle nicht auf die Inklusion vorbereitet. Dazu fehlt der dringend erforderliche politische Wille.
Nur ein schöner Schein?
Unzählige (bildungs-)politische Reden und Verlautbarungen, Positionspapiere und Empfehlungen bekennen sich dagegen geradezu inbrünstig zur schulischen Inklusion. Dennoch ist das bloß ein schöner Schein. Hier nur zwei Beispiele zur Erhärtung dieser These:
Erstens wird auch ohne die Kosten für eine echte Schulreform zur Umsetzung der inklusiven Bildung in Deutschland nicht genügend Geld bereitgestellt, um allein den maroden Zustand vieler Schulbauten zu ändern: Es vergeht seit einigen Jahren kein Monat, in dem nicht in den Medien über den Zustand der öffentlichen Schulen berichtet wird. In der "Zeit" vom 21. Dezember 2016 ist zu lesen, dass sich die Sanierungskosten für alle Schulen in Deutschland auf 34 Milliarden Euro belaufen. Schon 2010 gab dagegen das Deutsche Institut für Urbanistik an, dass für die Renovierung aller 44.000 Schulen in Deutschland 73 Milliarden Euro nötig wären.8 Dabei schreibt niemand ein Wort darüber, ob dabei auch an die Kosten für die Barrierefreiheit der Schulen gedacht wurde. Es ist eher nicht anzunehmen! Wie soll unter dieser Voraussetzung Geld für den personellen, baulichen und organisatorischen Umbau hin zu einem inklusiven Bildungssystem bereitgestellt werden?
Zweitens wird Inklusion nicht als Wettbewerbsvorteil für die deutsche Wirtschaft
eingestuft. Erwartet man einen positiven Einfluss auf die Wirtschaft, laufen die Bildungspolitiker(innen) zu höchstem Engagement auf: Ein enormes Medienecho erhielt die Absicht der Bundesländer, eine Offensive für digitale Bildung zu starten. Die Kultusminister(innen) verkündeten stolz eine umfangreiche Digitalstrategie kurz vor Jahresende. Und vorsorglich wurde darauf hingewiesen, dass sich Eltern in das Ziel in keiner Weise einmischen könnten.9 Dagegen war bisher von einer gemeinsamen, umfangreichen Inklusionsstrategie aller Bundesländer bisher noch nichts zu hören.10 Und immer wenn es passt, wird das Wahlrecht der Eltern zwischen Förder- und Regelschule hochgehalten. Auch eine gemeinsame Definition und Zielperspektive für inklusive Schulen fehlen weiterhin.11 Sicherlich enthält die 56-seitige Strategie zur Digitalisierung der Kultusministerkonferenz auch viel heiße Luft, weil praktische Umsetzungsschritte fehlen, aber sie ist das Ergebnis eines gemeinsamen Willens.
Hier ist die Kirche gefragt
Könnten nicht Wohlfahrtsverbände und Kirchen die Lücke füllen, die der fehlende politische Wille hinterlässt? In empirischen Untersuchungen weltweit wird immer nachgewiesen, dass die Lehrpersonen der Schlüssel zu erfolgreichem Unterricht sind. Die besondere Anerkennung kirchlicher Schulen in unserer Gesellschaft ist auch ein Zeichen, dass großes Potenzial zur Innovation einschließlich der Professionalisierung der Lehrkräfte vorhanden ist. Kirchliche freie Schulträger und alle Akteure der katholischen Schulen tragen dafür Mitverantwortung, dass der menschenrechtliche Anspruch der Menschen mit Behinderung auch im Hinblick auf inklusive Bildung ohne Einschränkungen eingelöst wird. Beginnen können alle sofort. Abwarten, bis die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen sind oder bis die politisch Verantwortlichen eindeutige Wege eröffnet haben, ist keine Option.
Anmerkungen
1. Pressemitteilung der DBK vom 7. Mai 2012: "Inklusive Bildung von jungen Menschen mit Behinderungen in Katholischen Schulen in freier Trägerschaft. Empfehlung der Kommission für Erziehung und Schule der Deutschen Bischofskonferenz", S. 5, www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse/2012-074a-Inklusive-Bildung-Empfehlung-Kommission-Erziehung-Schule.pdf
2. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Update Inklusion - Datenreport zu den aktuellen Entwicklungen. Gütersloh, 2014, S. 4.
3. news4teachers vom 1.12.2016, www.news4teachers.de/2016/12/rrrrums-philologen-wollen-die-inklusion-faktisch-beerdigen-grundsatzbeschluss-foerderschulen-muessen-erhalten-bleiben
4. Vgl. z.B. Fend, H.: Gesamtschule im Vergleich. Bilanz der Ergebnisse des Gesamtschulversuchs. Weinheim u.a., 1982.
5. Speck, O.: Was ist ein inklusives Schulsystem? VHN Jg. 85 (2016), S. 185-195, S. 193 f.
6. Speck, O.: Des Deutschlands neue Kleider: "all inclusive"! Eine Kritik des "dual-inklusiven Schulsystems". In: Wocken, H.: Am Haus der inklusiven Schule. Anbauten - Anlagen - Haltestellen. Hamburg, 2016, www.hans-wocken.de/Texte/Speck-Schulsystem.pdf
7. Presse-Statement Valentin Aichele vom 19.3.2014; www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuell/news/meldung/article/valentin-aichele-landesregierungen-und-parlamente-in-den-laendern-sind-gefordert-studie-inklus/
8. Schule: "Versetzung gefährdet", In: Süddeutsche Zeitung Magazin Heft 14/2010, http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/33354/Versetzung-gefaehrdet
9. "Es ist ein gesellschaftlicher Konsens über die Notwendigkeit des Erwerbs geeigneter "Kompetenzen in der digitalen Welt" anzustreben, damit Eltern diese in der Schule nicht nur akzeptieren, sondern auch aktiv unterstützen, da es kein Elternrecht als Abwehrrecht gegenüber staatlichen Befugnissen wie Lehr- und Bildungsplänen gibt" (S. 22), www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2016/Bildung_digitale_Welt_Webversion.pdf
10. Dem wird sicherlich widersprochen werden, hat doch die KMK schon 1994 Empfehlungen veröffentlicht: KMK: Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in der Schule der Bundesrepublik Deutschland. Beschl. v. 6.5.1994, www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1994/1994_05_06-Empfehl-Sonderpaedagogische-Foerderung.pdf; diese Empfehlungen haben bekanntlich nicht zur Reduzierung der Sonder- oder Förderschulen beigetragen.
11. Bei der praktischen Umsetzung der Inklusionsorientierung werden in fast allen Bundesländern die beiden Systeme (auf Dauer) nicht verändert oder einfach nur das Regelsystem ohne die erforderliche Unterstützung belastet.
Inklusion will gelernt sein
Verbessertes Bundesteilhabegesetz verabschiedet
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Verdi oder der Dritte Weg
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