Langzeitarbeitslose dürfen nicht abgehängt bleiben
Seit nunmehr zwölf Jahren ist das Sozialgesetzbuch II in Kraft. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Grundsicherung für Arbeitsuchende seither dauerhaft ein großes Experimentierfeld war und ist. Zwischenzeitlich wurde das Gesetz neunmal geändert. Zudem wurde in einer Reihe von Bundesprogrammen so ziemlich alles ausprobiert, was man sich denken kann: Die "Initiative 50 plus" richtete sich an ältere Langzeitarbeitslose, die durch individuell ausgerichtete Förderangebote mit guter Betreuung und Qualifizierung wieder an den ersten Arbeitsmarkt herangeführt werden sollten. Mit dem Bundesprogramm "Kommunal-Kombi" sollten zusätzliche Arbeitsplätze in Regionen mit besonders hoher und verfestigter Arbeitslosigkeit gefördert werden. Das Bundesprogramm "Bürgerarbeit" setzte stark auf die frühe Aktivierung und anschließende Förderung in einer Beschäftigungsphase. Mit dem aktuell laufenden Bundesprogramm "Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt" sollen sehr arbeitsmarktferne Menschen wieder eine Chance auf Integration in den ersten Arbeitsmarkt erhalten. Ein Förderschwerpunkt liegt dabei auf Leistungsberechtigten, die wegen gesundheitlicher Einschränkungen besonderer Förderung bedürfen. Gezeigt wird, dass durch die Beschäftigung soziale Teilhabe nicht nur für die Langzeitarbeitslosen, sondern auch für die im Haushalt lebenden Kinder erfahrbar wird. Das ebenfalls noch laufende Pilotprogramm "Respekt" des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ermöglicht gezielt zusätzliche Hilfen für junge Menschen in einer schwierigen Lebenslage. Ziel ist es, sie mit ganzheitlich ausgerichteten Förderangeboten zurück auf den Weg in Bildungsprozesse zu holen. Das SGB II war damit von Anfang an als lernendes System angelegt. An der Wende zur 19. Legislaturperiode ist es nun sinnvoll, Bilanz zu ziehen und zu sehen, was erreicht wurde.
Hohe Sockelarbeitslosigkeit trotz guter Konjunktur
Leider muss festgestellt werden, dass Deutschland trotz günstiger Entwicklungen am Arbeitsmarkt in den vergangenen zehn Jahren weiterhin eine hohe Sockelarbeitslosigkeit hat. Etwa eine Million Menschen sind seit Einführung des SGB II durchgehend im Leistungsbezug. Vor allem Menschen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen schaffen den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt nicht. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung geht von 200.000 Menschen aus, die wegen ihrer geringen Leistungsfähigkeit langfristig keine Chance auf ungeförderte Beschäftigung haben werden. Bedenklich ist auch, dass es keine Informationen über den Verbleib von fast 95.000 Jugendlichen gibt, die sich im Übergangssystem von Schule und Beruf befinden. Das Deutsche Jugendinstitut geht davon aus, dass sich circa 21.000 junge Menschen zwischen 15 und 27 Jahren vollständig aus allen institutionellen Kontexten verabschiedet haben.
Sieben Forderungen an die Politik
Die Erfahrungen, welche die Caritas in ihren Einrichtungen und Diensten in den letzten zwölf Jahren mit dem SGB II und den verschiedenen Bundesprogrammen gemacht hat, zeigen, dass Nachbesserungsbedarf in sieben Bereichen besteht:
Förderung längerfristig anlegen
- Die Angebote sind bisher nur kurzfristig angelegt. Die damit verbundenen häufigen Brüche, wenn ein Programm endet, sind für die Leistungsempfänger(innen) ein großes Problem. Bereits während der befristeten Förderung machen sie sich große Sorgen, was danach kommt. Das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, den Kontakt zu den Kolleg(inn)en am Arbeitsplatz zu verlieren und keine Anerkennung mehr zu bekommen, ruft Ängste hervor. Das Dilemma kann nur aufgelöst werden, wenn künftig eine längerfristig angelegte Förderung möglich wird.
Konzepte für soziale Teilhabe
- Es hat sich gezeigt, dass viele Langzeitarbeitslose den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt zumindest mittelfristig nicht schaffen können. Es muss sogar davon ausgegangen werden, dass einige unter den jetzigen Arbeitsmarktbedingungen gar keine Chance mehr auf eine Erwerbsintegration haben. Deshalb sind Förderkonzepte nötig, die auf die soziale Teilhabe ausgerichtet sind.
Funktionierende Methoden zur Regel machen
- Die befristeten Bundesprogramme bergen das Problem, dass immer neue Zielgruppen nur für einen begrenzten Zeitraum unterstützt werden. Die positiven Erfahrungen, die mit einzelnen Förderkonzepten gemacht wurden, sind - mit wenigen Ausnahmen, wie zum Beispiel die Einführung eines § 16h SGB II (Förderung schwer zu erreichender junger Menschen) - nicht systematisch im SGB II umgesetzt worden. Deshalb ist eine Weiterentwicklung der Regelinstrumente in dem Sinne wichtig, dass positive Erfahrungen aus den Bundesprogrammen auch im Normalbetrieb umgesetzt werden.
Flexibel bleiben- jeder Mensch ist unterschiedlich
- Die Gruppe der Langzeitarbeitslosen ist sehr heterogen, was die Förderbedarfe betrifft. Deshalb müssen je nach Förderbedarf passgenaue Hilfen bereitgestellt werden können. Es braucht also keine überregulierten Instrumente, in denen bis ins kleinste Detail festgelegt wird, was man machen darf und was nicht. Es muss genügend Freiheit vor Ort bestehen, die Förderung auf den individuellen Fall hin zu gestalten.
Vielfalt der Förderinstrumente
- Da die Langzeitarbeitslosen unterschiedliche Förderbedarfe haben, erfordert es auch eine Instrumentenvielfalt. Es ist notwendig, niedrigschwellige Förderungen zu ermöglichen, wie das bisher schon in den Arbeitsgelegenheiten geschieht. Diese müssen jedoch zu arbeitsmarktnahen Angeboten weiterentwickelt werden. Dafür müssen die Kriterien Zusätzlichkeit, öffentliches Interesse und Wettbewerbsneutralität im § 16d SGB II gestrichen werden. Dem Problem der Verdrängung könnte begegnet werden, indem die lokalen Beiräte hier gestärkt werden und die Kompetenz erhalten, solche Verdrängung zu kontrollieren. Die Politik sollte den Mut haben, neue Wege zu gehen, damit sozialversicherungspflichtige Förderung auch in ausreichendem Maße angeboten werden kann. Klar ist, dass Programme mit Lohnkostenzuschüssen zur sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung (§ 16e SGB II) sehr kostenintensiv sind. Hier regt die Caritas die Erprobung des Passiv-Aktiv-Transfers an. Notwendig ist es auch, Langzeitarbeitslose und Personen, die durch die Digitalisierung von Arbeitslosigkeit bedroht sind, durch entsprechende Weiterbildungen und Umschulungen zu fördern. Diese Angebote, die in den letzten Jahren stark zurückgefahren wurden, müssen ausgebaut werden.
Durchdachte Hilfeplanung für Jugendliche
- Eine große Herausforderung sieht die Caritas bei der Integration von Jugendlichen mit komplexen Förderbedarfen. Hier kann der neue § 16h SGB II zwar helfen, eine Integration in Ausbildung und Arbeit zu unterstützen. Es fehlt aber in Deutschland eine flächendeckend vorhandene Verpflichtung unterschiedlicher Leistungsträger zur Kooperation. Heute hängt eine adäquate Förderung häufig davon ab, ob in der jeweiligen Region die unterschiedlichen Akteure aus Jugendhilfe, Jobcenter und Kommune miteinander arbeiten wollen. Das hat zur Folge, dass Jugendliche häufig zwischen den Hilfesystemen SGB II, III, VIII und XII hin- und hergeschoben werden und nicht die notwendige Förderung erhalten. Deshalb braucht es eine Pflicht zur Kooperation, welche eine umfassende Hilfeplanung - unter Beteiligung der Jugendlichen - ebenso sicherstellt wie den Zugang zu den notwendigen Förderinstrumenten.
Last, not least: Mittel aufstocken
- Eine gute Förderung setzt auch hinreichend Mittel voraus. In den vergangenen Jahren wurden regelmäßig Mittel des Eingliederungstitels in den Verwaltungstitel verschoben. Damit ist es zwar möglich, eine bessere Betreuung der Langzeitarbeitslosen durch Fachpersonal zu gewährleisten. Die Mittel fehlen aber für die Bereitstellung von Förderangeboten. Dies belegen auch Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Eine neuere Untersuchung1 zeigt, dass die Förderung der beruflichen Weiterbildung in den letzten fünf Jahren um 40 Prozent zurückgefahren wurde. Bei der öffentlich geförderten Beschäftigung zeigt sich, dass die Platzzahlen sogar um 70 Prozent zurückgefahren wurden. Das bedeutet, dass die Fördermittel dringend aufgestockt werden müssen, die zu einem auskömmlichen Eingliederungstitel und Verwaltungstitel führen.
Diese sieben Erkenntnisse müssen in der nächsten Legislaturperiode endlich umgesetzt werden, damit Langzeitarbeitslose nicht weiterhin abgehängt blei-ben.
Anmerkung
1. Beste, J. u.a.: Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit. IAB-Stellungnahme. Nürnberg, 2/2017.
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