Vom ersten Tag an in die Schule – auch ohne Papiere
Bildung und Dazugehören sind Kinderrechte – ohne Wenn und Aber. Jasmin Merdan/fotolia.de
Kann ein Kind eingeschult werden, dessen Eltern ohne gültigen Aufenthaltstitel und ohne Kenntnis der Behörden in Deutschland leben? Es gibt Schulen, in denen diese Frage eindeutig mit "Ja!" beantwortet wird. So erläuterte eine Schulsekretärin1, die für eine Studie2 der Universität Bremen telefonisch befragt wurde: "Es darf nicht an Papieren scheitern. Wir müssen jedes Kind aufnehmen, die Bildung darf niemandem verwehrt werden." Der Schulrat habe kürzlich darauf hingewiesen, dass jedes Kind aufgenommen werden müsse.
Auch auf der höherrangigen Ebene bei Schulbehörden, Schulräten oder spezialisierten Stellen fanden sich eindeutige Aussagen, dass eine Schulaufnahme sinnvoll und möglich ist. Die Antwort sei sehr einfach, es könne nicht nur eingeschult werden, sondern müsse! Alle Kinder hätten ein Recht auf Bildung. Das sei eine Selbstverständlichkeit. Das müssten eigentlich auch alle Grundschulen in der Stadt wissen. Die Aussagen zeigen: Die Einschulung aller Kinder kann unabhängig vom Aufenthaltsstatus möglich gemacht werden.
100 Grundschulen in Großstädten befragt
In der Praxis ist es aber keine Selbstverständlichkeit. Eindeutige Aussagen wie die obige waren selten in der Studie, für die 100 Grundschulen anhand von drei Fallbeispielen zu ihrer Schulanmeldungspraxis befragt wurden. Die Schulen wurden nach dem Zufallsprinzip in allen Landeshauptstädten und in Großstädten mit einer Bevölkerung von über einer halben Million ausgewählt.
Rechtlich ist die Situation eindeutig: Auch Kinder ohne Papiere haben einen Rechtsanspruch auf Schule und sollten ohne Angst vor Aufdeckung zur Schule gehen können. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die seit 2010 uneingeschränkt in Deutschland gilt, sichert allen Kindern unabhängig vom Aufenthaltsstatus ein Recht auf Schule zu. Bereits aus den meisten Landesgesetzen geht ein diskriminierungsfreies Schulzugangsrecht hervor, wenn auch die Schulpflicht zum Beispiel bei Asylsuchenden oft erst nach einer Frist einsetzt.
Eine Hürde für die Einschulung sogenannter papierloser Kinder hat der Bundestag im November 2011 beseitigt. Schulen sowie Bildungs- und Erziehungseinrichtungen wurden von behördlichen Übermittlungspflichten explizit ausgenommen (siehe § 87 Aufenthaltsgesetz). Das heißt, dass Schulen nicht die Polizei oder Ausländerbehörde informieren dürfen, wenn sie erfahren, dass ein Kind ohne die rechtlich geforderten Papiere im Land lebt. Mit breiter Zustimmung aller Parteien wurde die Änderung von § 87 des Aufenthaltsgesetzes verabschiedet, damit alle Kinder zur Schule gehen können. Dieser Konsens gilt unabhängig von den politischen Auffassungen zum Umgang mit papierlosen nichtdeutschen Staatsangehörigen in anderen Lebensbereichen. Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im deutschen Bundestag, Stephan Mayer, hat die Intention des Kinderschutzes auf der diesjährigen Jahrestagung Illegalität in der Katholischen Akademie in Berlin noch einmal bekräftigt: "Jedem Minderjährigen muss der Zugang zu Bildung gewährt werden."
Schulen sind unsicher über rechtliche Lage
Tatsächlich entspricht dies nicht überall in Deutschland der gesellschaftlichen Wirklichkeit. In der Studie der Universität Bremen wurde bei 62 Prozent der befragten Schulen kein gangbarer Weg zur Schulanmeldung des papierlosen Kindes aufgezeigt oder zumindest angedeutet. Häufig sind Schulen unsicher und verweisen an höherrangige oder spezialisierte Stellen in der Bildungsadministration. Diesen Verweisen wurde in der Studie nachgegangen und die entsprechenden Stellen wurden befragt. Obwohl hier eigentlich eine bessere Rechtskenntnis zu erwarten ist, wurde von der Hälfte der Stellen keine positive Aussage zur Schulaufnahmemöglichkeit getroffen.
In vielen Schulen fehlt das Bewusstsein, dass jedes Kind einen Rechtsanspruch auf Bildung hat. In einigen Schulen und Schulämtern wurde sogar irrtümlich angenommen, dass die Polizei informiert werden müsse – eine seit November 2011 eindeutig falsche und zuvor schon umstrittene Position. Das Dilemma, sich zwischen pädagogisch-beruflichem Ethos und Dienstpflichten entscheiden zu müssen, besteht immer noch, obwohl es nicht mehr existieren sollte.
Damit ein Kind nicht nur einen theoretischen Anspruch hat, sondern tatsächlich zur Schule gehen kann, müssen die Mitarbeitenden in Schule und Bildungsverwaltung informiert sein. Sie müssen den Anspruch kennen, ihn umsetzen können und wollen. Kennen, können und wollen – in allen drei Bereichen hapert es, wie die Studie gezeigt hat.
Manche glauben, das Kind anzeigen zu müssen
So ist die Rechtslage nicht überall bekannt. Zum eigenen Bedauern fühlten sich manche Sekretärinnen und Schulleitungen verpflichtet, das Kind anzuzeigen: "Vom Menschlichen her würde ich das Kind anmelden, aber wenn es illegal ist, muss ich die Polizei fragen." Andere wiesen auf bürokratische oder technische Hindernisse hin. So sei eine Meldebestätigung "definitiv" erforderlich und ohne sie eine computertechnische Erfassung nicht möglich. Einige Antworten lassen auch eine möglicherweise durch Ressentiments gegenüber Zuwandernden begründete Ablehnung einer Einschulung erkennen. So äußerte eine Schulleiterin, dass man ja nicht einfach in eine Schule reinwandern könne und eine Schulsekretärin versicherte: "Das geht gar nicht, no go! No go!" Andere wiederum waren sicher, dass nicht sein kann, was nicht sein darf: "Wir können das Kind nicht beschulen, weil es ja gar nicht existiert in Deutschland."
Cover der Studie: DownloadUni Bremen
In der Tat sind die meisten Schulen wahrscheinlich nie mit der Frage konfrontiert gewesen, ob sie ein Kind ohne Aufenthaltsstatus aufnehmen können. Nach Schätzungen der Mitautorin Dita Vogel gibt es einige Tausend bis einige Zehntausend Kinder ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland. Umso wichtiger ist es, dass der grundsätzliche Anspruch überall bekannt ist, so dass anfragende Eltern beruhigt werden können, bis ein gangbarer Weg gefunden ist. Wo die geltende Rechtslage schon praktiziert wird, ist klar, dass das papierlose Kind bei Finanzzuweisungen berücksichtigt wird. Außerdem ist ein Kind automatisch unfallversichert, sobald es eine Schule, Kindertageseinrichtung oder anderweitige Aus- und Fortbildungsstätte besucht (siehe § 2 Sozialgesetzbuch VII).
Wenn Mitarbeitende in Beratungsstellen, Projekten oder Kindergärten ein Kind in die Schule vermitteln wollen, ist es wichtig, dass sie sich vorab über die Rechtslage informieren und die Möglichkeiten mit einer Schule oder der zuständigen Schulverwaltung sondieren. Dabei kann ein Flyer helfen, den die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft auf der Basis der Studie und eines Rechtsgutachtens erarbeitet hat.3
Vom ersten Tag an ein schulisches Angebot
Mit dem Schlaglicht auf Kinder ohne Papiere, die den Behörden nicht bekannt sind, wurde die Bildungsmöglichkeit der Gruppe mit der schwächsten rechtlichen Situation beleuchtet. Aber auch bei geflüchteten Kindern, deren Aufenthalt den Behörden bekannt ist, wird das Recht auf Bildung nicht flächendeckend gesichert. In einigen Bundesländern ist es Praxis, dass eine Beschulung erst mit Beginn der Schulpflicht realisiert wird, die in manchen Bundesländern nach drei bis sechs Monaten einsetzt. Das Recht auf Schule gilt aber prinzipiell vom ersten Tag an. Die Konsequenz daraus ist, dass schulische Angebote für diese Kinder vom ersten Tag an bereitgestellt werden müssen. Wenn Kindern oder Jugendlichen monatelang der Zugang zu Schule und Bildung verwehrt bleibt, werden Bildungschancen verpasst, die nur schwer nachgeholt werden können.
Anmerkungen
1. Die Anfrage richtete sich immer an die Person, die sich am Telefon meldete, beziehungsweise in der Regel für solche Anfragen zuständig ist. In mehr als der Hälfte der Fälle antwortete das Schulsekretariat direkt oder verwies an höherrangige Stellen.
2. Funck, B.J.; Karakasoglu, Y.; Vogel, D.: Es darf nicht an Papieren scheitern. Theorie und Praxis der Einschulung von papierlosen Kindern in Grundschulen. GEW Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, 2015. Download: www.fb12.uni-bremen.de/index.php?id=3783, (geprüft am 9.6.2016).
3. Die GEW hat auf der Basis der Studie und rechtlicher Gutachten einen Flyer ausgearbeitet, der wichtige Informationen für die Praxis zusammenfasst. GEW: Recht auf Bildung - auch ohne Papiere. Was sollten Beschäftigte in Bildungs- und Erziehungseinrichtungen beachten? 2015. Download: www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/neuer-flyer-recht-auf-bildung-auch-ohne-papiere/ (geprüft am 9.6.2016).
Stolperstein Volljährigkeit
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