Seelsorge: in Kliniken heute wichtiger denn je
Zu Kostenexplosion und Kostendämpfung im Gesundheitswesen wurden bereits in den 1970er-Jahren Stimmen laut. Diese sind bis heute Bestandteil gesundheitspolitischer Überlegungen und Entscheidungen. An Reformen sind unterschiedlichste Interessengruppen beteiligt: Ärzteverbände, Krankenkassen, Pharmaindustrie und Politiker(innen). Permanente Umbrüche und Veränderungen sind die Folge.
Die Klinische Seelsorgeausbildung (KSA) hat ihren Ursprung ebenfalls in einer Umbruchbewegung. Die notwendige Öffnung einer bis dahin moraltheologisch, dogmatisch und kirchenrechtlich eng orientierten Perspektive von Seelsorge war eingeleitet.
Als Theologiestudent hörte ich im Rahmen einer Vorlesung zur Pastoraltheologie eine mich faszinierende Theorie von Gemeindepastoral. Nachdem ich den Professor fragte, wie sich das konkret verwirklichen lasse, meinte er: "Dafür sind Sie zuständig. Sie sind mal in der Praxis, ich stehe hier am Katheder."
Diese Distanz zwischen einer "Hörsaaltheorie" und einer auf den konkreten Kontext bezogenen Theorie von Seelsorge hat der Theologe und Mitbegründer der Klinischen Seelsorgeausbildung, der US-Amerikaner Anton T. Boisen, schon in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts als Problem erkannt. Der Grund für die Entstehung eines solchen Clinic Pastoral Training (CPT) war der Wunsch nach einer Theologie, die sich für Menschen in Lebenskrisen bewährt, und damit die Kritik an einer theologischen Ausbildung, die theologisches Wissen und Seelsorge trennt. Erfahrungen, die Anton T. Boisen während eines Klinikaufenthalts machte, führten zu einem Aufbruch in der Seelsorgeausbildung. Den Ort theologischer Ausbildung verlegte Boisen ins Krankenhaus. Daher erklärt sich der Begriff Klinische Seelsorgeausbildung. Dies bedeutet nicht eine spezielle Ausbildung für Klinikseelsorger(innen). Die Ausrichtung auf ein erfahrungsorientiertes und praxisbezogenes Lernen, die darin gemachten Erfahrungen und die daraus gewonnenen Methoden der KSA sollten einer allgemeinen neuen Seelsorgeausbildung dienlich sein.1 Nicht mehr der Mensch als Norm, sondern der Mensch in seiner einzigartigen Krisensituation wird zum Ausgangspunkt theologischer Wahrnehmung. Das KSA-Lernmodell ist ein Erfahrungslernen, ein biografisch-subjektorientiertes Lernen, ein theologisch-spirituelles Lernen, ein kontextuelles Lernen, ein Lernen über Vertrautheit und Fremdheit.
Krankenhäuser und Altenheime als "Andersorte"
"Andersorte" sind Orte, die Menschen vorbehalten sind, die sich in einem Zustand der Krise oder in Abweichung gegenüber der Gesellschaft befinden: psychisch oder physisch Kranke, Alte, Sterbende, Heimatlose ...
Die Uhren gehen anders an den "Andersorten". "Andersorte" stoßen uns ab und ziehen uns an. Wir meiden und wir suchen sie, spätestens dann, wenn wir sie brauchen. Es sind keinesfalls mehr einzig und allein Orte der Geborgenheit und des Heils, es sind heute auch Orte, an denen Patient(inn)en, Bewohner(innen), Angehörige und Personal sowohl Hoffnung als auch Enttäuschung erfahren. Es sind Orte der Auseinandersetzung geworden mit den Veränderungen im Gesundheitswesen und den daraus resultierenden Konsequenzen.
Gesundheitseinrichtungen müssen sich weitgehend selbst finanzieren. Von einer disziplinorientierten Versorgung (Was braucht der Patient? Was ist für ihn notwendig?) wechselt der Blick zu einer aufwandsorientierten Versorgung (Lohnt sich der Aufwand? Was haben wir davon, wenn wir uns das leisten? Können und wollen wir uns das leisten?). Wirtschaftlichkeit und Effizienz bestimmen Entscheidungsprozesse. So gesehen ist die KSA "not-wendigerweise" auch eine Seelsorgeausbildung für das Wirtschaftsunternehmen Krankenhaus beziehungsweise Altenheim - eine Ausbildung, die zur Kooperation, zur Zusammenarbeit mit den therapeutischen Teams befähigt. Sie schult Seelsorger(innen) auch darin, wie sie sich für einen Patienten einsetzen können, indem sie bestehende Behandlungsstrukturen hinterfragen.
Krankenhaus-Verweildauer wird immer kürzer
Durch die Fallpauschalen-Regelung bekommen Kliniken nicht mehr die Liegezeiten bezahlt, sondern den "Fall"2: Um die finanziellen Verluste auszugleichen, erhöhen sich die Patient(innen)zahlen; die Liegezeiten werden kürzer. Sich permanent verändernde Arbeitsorganisationen sind eine Folge. Für den/die Klinikseelsorger(in) werden manche Seelsorgekontakte zu Einmalkontakten. Deshalb muss die KSA schulen, den Augenblick als Chance und Herausforderung zu sehen. Als ich beispielsweise das Zimmer einer mir unbekannten Patientin betrat, ergriff sie meine Hände und sagte: "Sie müssen mir helfen, ich muss sterben, und morgen werde ich entlassen."
Die KSA hilft, schwierige Umstände eben nicht folgendermaßen zu deuten: "Jetzt komme ich ungelegen, ich kann sowieso nicht viel machen, und deshalb gehe ich wieder." Im Gegenteil. Eingeübt werden muss in solchen Situationen: "Was hilft mir zu bleiben?"
Seelsorger(innen) werden zunehmend in Krisensituationen gerufen. Oftmals gibt es eine Rollenunsicherheit. Bin ich jetzt Seelsorger(in) oder Krisenmanager(in)? Die Einschätzung der Situation, der eigenen Möglichkeiten und Grenzen ist gefordert. Dies kann in Trainings eingeübt werden.
Steigende Patient(innen)zahlen beschleunigen die Arbeitsabläufe. Das tangiert die Intensität und Qualität von Wahrnehmung. Die KSA als "Wahrnehmungsschule" hat die Möglichkeit zur Verlangsamung und Entschleunigung.3 Im entschleunigten Hinsehen ist eine andere Art von Konzentration möglich, die eigene biografische Anteile deutlich werden lässt, die dem/der Seelsorger(in) weiterhelfen. Und zugleich ist die Biografie des Patienten noch einmal stärker im Blick. Beides ermöglicht das Entdecken und Ausbilden von biografisch orientierter Seelsorge.
Entkirchlichung und Multireligiosität
In einer Sterbesituation las ich aus der Bibel einen Psalm vor. Ein Angehöriger sagte: "Der Text ist nicht schlecht, aus welchem Buch haben Sie den? Bibel, nee, so was kenne ich nicht. Aber das Buch kauf’ ich mir."
Weil sich in den Kliniken unsere Gesellschaft abbildet, haben wir es einerseits mit einer Art von Entkirchlichung zu tun, die sich in allen Personengruppen findet. Andererseits etablieren sich Formen einer Multireligiosität. Neben den traditionellen christlichen begegnen uns andere Religionen. Nicht eingebunden in eine religiöse Gemeinschaft leben Menschen ihre religiösen Bedürfnisse. Daraus entsteht eine neue Art von Spiritualität.4 In der KSA müssen wir dafür sensibilisieren, wie wir mit diesen Menschen im Gespräch bleiben können, um sie in deren religiösen und spirituellen Suchbewegungen zu unterstützen und zu fördern.5
Die Frage der Ethik in der Klinikseelsorge
Ein hochausdifferenziertes Gesundheitswesen erweist sich als janusköpfig. Zum einen erweitert es Handlungsräume, zum anderen schafft es neue Probleme. Neue ethische und moralische Fragestellungen tauchen auf.6 Klinikseelsorger(innen) stehen für eine solidarische Begleitung von Menschen in solchen Grenzsituationen. Zunehmend werden sie vom System Klinik als Expert(inn)en in Anspruch genommen. In der ethischen Fallbesprechung, in Klinischen Ethikkomitees sind Klinikseelsorger(innen) gefordert.7 Nicht jeder Klinikseelsorger ist automatisch Ethiker und umgekehrt. Klinikseelsorger(innen) müssen ausgebildet werden, ihr eigenes Verständnis von Seelsorge und Ethik zu reflektieren. Bei Rollenunklarheiten müssen sie Entscheidungen treffen können: In welcher Funktion kann und will ich nun tätig werden? Klinikseelsorger(innen) werden in der KSA ausgebildet, Anerkennung und Profilierung kritisch zu sehen. Sie werden geschult, in ihrer Profession als Theologin und Theologe dem naturwissenschaftlich ausgerichteten medizinischen Personal Gesprächspartner und Gegenüber zu sein.
Spezialisierung der Klinik und die Rolle von Seelsorge
Für Kliniken ist Spezialisierung notwendig, um überleben zu können. Damit verbunden sind Fragestellungen der Qualitätssicherung und Evaluation. Diese Prozesse wirken sich auf die Klinikseelsorge aus. Auch Klinikseelsorge zeigt sich in Schwerpunktsetzungen, Konzentrationen, Spezialisierungen. Viele Kolleg(inn)en arbeiten heute in ihren Häusern in spezialisierten Bereichen wie auf Palliativstationen, im Hospiz, in der Onkologie oder Geriatrie. Klinikseelsorger(innen) können, um Qualität zu garantieren, nicht flächendeckend arbeiten. Aufgabe der KSA ist es, aufzuzeigen, wie ein Schwerpunkt im jeweiligen Klinikkontext konzeptionell sinnvoll zu entwickeln ist. Aktuell ist die Frage der Flüchtlinge. Viele von ihnen kommen mit traumatischen Erfahrungen in die Kliniken. Hier braucht es eine gute Vernetzung und Kooperation zwischen Klinikseelsorge und Fachpersonal. Die KSA-Institute versuchen, diese veränderten Situationen in Gesprächen mit Kolleg(inn)en zu evaluieren und dementsprechend die Ausbildungsangebote zu variieren.
Eine wesentliche Arbeitsorganisation in Kliniken sind Teams: Stationsteam, Ärzteteam, interdisziplinäres Team, Kriseninterventionsteam, ökumenische Seelsorgeteams, Ethikkomitee sowie die Kooperation und Kommunikation zwischen verschiedensten Fachdisziplinen. Die Klinikseelsorge steht systemisch am Rande, weil sie in der Regel nicht von der Klinik bezahlt wird.8 Klinikseelsorge kommt von "außen", ist aber in das System integriert und muss sich dort bewegen. Die KSA bildet aus zu einer Identitätsfindung als Theologin und Theologe innerhalb dieses Systems. In einem multikulturellen, multifunktionalen und säkularen System einer Klinik erklärt sich das "Kirchenamt" nicht mehr aus sich heraus. Die Glaubwürdigkeit, die Autorität, der Anspruch, das Evangelium zu verkünden, erklärt sich einzig und allein über die Person selbst. Diese personenwahrnehmende Kompetenz der Seelsorge bildet die KSA aus, verbunden mit einer Arbeit an der eigenen Persönlichkeit, der Kommunikationsfähigkeit, der pastoralen Identität.
In KSA-Kursen wird eingeübt, die eigene Seelsorgekonzeption, bezogen auf den individuellen Kontext der Klinik oder des Altenheims, zu formulieren, zu kommunizieren und zu institutionalisieren. Es geht um Fragen des eigenen theologischen Profils. Wie kann ich mein Profil schärfen? Welche Perspektiven sind heute wichtig, um mich als Theologin und Theologe gegenüber anderen Berufsgruppen sichtbar zu machen?
Die KSA nimmt diese Spannung zwischen verändertem Kontext und Individuum auf und ermöglicht so eine Rollenklärung. Sie orientiert sich an den Erwartungen der Teilnehmer(innen), an den Erwartungen der Arbeitgeber, der Anstellungsträger, der Klinik. Das bedeutet nicht automatisch, diese Erwartungen zu bedienen. Vielmehr ist die KSA ein Raum, diese Erwartungen (kritisch-theologisch) zu reflektieren und damit die eigene Rolle und den eigenen Schwerpunkt zu entdecken.
Die kirchliche Situation im gesellschaftlichen Kontext muss gesehen, analysiert und in Entscheidungen miteinbezogen werden. Vernetzung nicht nur innerhalb der Klinik, sondern die Vernetzung von gemeindlicher Kranken- und Altenpastoral und Klinikseelsorge ist eine zunehmend drängende Frage.
Alter, Demenz und Perspektivwechsel
In Kliniken und in Alten- und Pflegeeinrichtungen begegnen wir immer mehr alten Menschen mit Demenz. Im Vergleich zu hauptamtlichen Klinikseelsorgestellen ist die Zahl der hauptamtlichen Altenheimseelsorgestellen verschwindend gering. Dementsprechend sieht auch das Verhältnis von Altenheimseelsorger(inne)n und Klinikseelsorger(inne)n in den Kursen aus. Vielfach wird versucht, die Altenseelsorge im Rahmen der Gemeindeseelsorge aufzufangen.
Zunächst müssen wir anerkennen, dass unsere Gesellschaft sich von den Dementen entfernt - nicht umgekehrt. Der Alltag ist durch Mobilität, Beschleunigung und Innovation bestimmt. Soziale Milieus haben sich aufgelöst, Familien zerfallen, der Single wird zur Grundfigur des Alltaglebens. 23 Millionen Menschen leben in Deutschland allein. Jeder Dritte der über 65-Jährigen lebt in einem Einzelhaushalt.9 Die Älteren finden die Lebens- und Sozialwelt, in der sie aufgewachsen sind, immer weniger vor. Das Leben von Dementen und deren Angehörigen wird immer schwieriger. Theologisch gesprochen braucht es eine Bekehrung hin zu Dementen.
Palliativstationen erleben, dass immer mehr Patient(inn)en mit Demenz eingeliefert werden. Es gibt Überlegungen innerhalb der Palliativmedizin, auch der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV), diesen Veränderungen gerecht zu werden. Es stellen sich Fragen von medizinischer Indikation und der Bedeutung von spirituellen Bedürfnissen, von neuer Kreativität und neuen Wegen. Alle Beteiligten fühlen sich bei Demenz hilflos und überfordert. Seelsorger(innen) sind auch versucht, zunächst über "Machen" zu helfen und zu lindern. In der KSA werden Kurse zu Demenz und Alter angeboten. Das "Machen" wird zunächst auf den Prüfstand gestellt und dem "Geschehenlassen" Raum gegeben. In der seelsorglichen Beziehung geht es bei Dementen mehr um das "Wie" der Beziehung als um das "Was" des Tuns.10
Auch wenn Demenz Persönlichkeit verändert, kann aus christlicher Sicht niemand seine Persönlichkeit verlieren. Es geht primär um die eigene Haltung, wie ich Menschen, die vom Vergessen bedroht sind, begegne. Wir Christen haben die Tradition einer Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft. Wir erinnern und erzählen in unseren Gottesdiensten von Menschen und deren Lebens- und Gotteserfahrungen. Deshalb sind wir diesen Menschen in besonderer Weise verpflichtet.
Abschließend lässt sich sagen: Kennzeichnend für die KSA zu ihrer Entstehungszeit war der Charakter einer "theologischen Pionierarbeit". Die KSA hat sich in der Aus- und Weiterbildung von Seelsorger(inne)n etabliert und darf diesen Charakter aufgrund der permanenten Veränderungen im Gesundheitswesen nicht verlieren.
Anmerkungen
1. Theologie begegnete Psychologie, Gesprächsführung nach Rogers und therapeutischen Verfahren.
2. Sonderregelungen gibt es beispielsweise in Bereichen wie Geriatrie oder Psychiatrie.
3. Für eine Verbatimbesprechung stehen 90 Minuten zur Verfügung (Verbatim ist ein Erinnerungsprotokoll, das nach einem Gespräch angefertigt wird).
4. Der Begriff Spiritualität wird oft undifferenziert gefüllt. Sprache und Ausformung dessen treffen nicht mehr die traditionelle Kirchensprache und deren religiöse Riten. Neue Sprachbilder und Riten entstehen.
5. Zu diesen Fragestellungen werden auch spezielle Weiterbildungsmodule angeboten. Beispielsweise gibt es 2017 Angebote in der Diözese Mainz von Klinik und Palliativseelsorgern zum Thema: "Auf der Spur der Spiritualität - Klinikseelsorge weiterdenken."
6. Therapieabbruch, Lebensverlängerung, künstliche Ernährung, Reanimation, um nur einige zu nennen.
7. Nicht selten wird auch schon in Dienstanweisungen des Arbeitgebers die Mitarbeit in diesem Bereich vorausgesetzt.
8. Es gibt auch andere Formen, bei denen beispielsweise Ordensträger die Klinikseelsorge finanzieren, oder es gibt Teilfinanzierungen zwischen dem Träger einer Klinik und dem zuständigen kirchlichen Auftraggeber.
9. Statistisches Bundesamt: Alleinlebende in Deutschland. Wiesbaden, 2012.
10. Was geschieht in der Beziehung? Wer bin ich für dich? Vielleicht bin ich nicht die Seelsorgerin, der Seelsorger für dich? Vielleicht bin ich gerade deine Enkelin oder dein Enkel? In der KSA werden Klinik-und Altenheimseelsorger(innen) geschult, diese Situationen nicht als eine erneute Bestätigung für Demenz einzuschätzen, sondern darin eine, für Demente sehr anstrengende, (religiöse) Orientierungssuche zu sehen.
Ohne Berufsausbildung keine Chance auf Teilhabe
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