Für den Sinn des Lebens ist jeder selbst verantwortlich
"Wenn Sie sich wirklich für mich und mein Leben interessieren, dann mache ich mit, aber auch nur dann." So reagierte eine Mitarbeiterin auf die Anfrage für ein Interview im Rahmen der Studie "Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Die Würzburg-Studie"1. Darin wurden erstmals hauptberufliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der organisierten Caritas zu ihrem Glauben repräsentativ befragt. Auftraggeber waren der Bischof von Würzburg, Friedhelm Hofmann, zusammen mit dem Vorsitzenden des Caritasverbandes seiner Diözese, Domkapitular Clemens Bieber. 2200 Fragebögen konnten ausgewertet werden. Dabei wurde ein weites Panorama an Glaubensvorstellungen selbst unter den katholischen Mitarbeitenden (79 Prozent), mehrheitlich Frauen, festgestellt. Die Kirche mit ihrer Caritas ist vielfältiger als ihr Ruf, auch in der Spiritualität ihrer - bundesweit mehr als 600.000 - Mitarbeitenden.
Autonomieschutz für eigene spirituelle Ressourcen
Die Mitarbeiterschaft ist, so belegt die Studie, hochgradig religiös pluralisiert. Spirituell vielfältiger als gedacht sind auch die Katholikinnen und Katholiken. Die Mehrheit der Befragten lehnt eine spirituelle Homogenisierung der Mitarbeiterschaft ab, was freilich auch heißt, dass sie im Blick auf die Arbeitsorganisationen der Caritas mit der Leitidee der Caritas als Glaubensgemeinschaft nicht viel anzufangen weiß. Die meisten Mitarbeitenden wünschen einen Schutz der Pluralität ihrer spirituellen Quellen, ja Autonomieschutz für ihre eigenen spirituellen Ressourcen. Für den Sinn des Lebens, so betonen sie mehrheitlich, ist jeder Mensch selbst verantwortlich: das Individuum, nicht die kirchliche Institution. Dass man sich dabei auch an anderen Religionen orientiert und vielleicht sogar "Abstecher" in alternative spirituelle Welten macht, Vorstellungen von dort mit dem Christlichen vermischt, erhöht die spirituelle Mannigfaltigkeit unter den Befragten.
Wer jedoch meint, dass damit auch eine mögliche "Kirchenflucht" einhergehe, der irrt. Es ist festzustellen, dass die Mitarbeiter(innen) der Caritas im Vergleich zu den westdeutschen Katholik(inn)en kirchennäher sind, wenngleich sie kritisch eingestellt sind gegenüber der kirchlichen Institution. Die meisten von ihnen suchen ihre Spiritualität nicht in markanter Abgrenzung zur Kirche, sondern in ihr - finden aber oft nicht, was sie suchen. Der kirchlichen Institution steht man umso distanzierter gegenüber, je mehr sie in Gestalt der geistlichen Herrschaft auftritt; wenn sie religiösen Gehorsam fordert und unsensibel ist für die persönliche Gläubigkeit im Kontext der jeweiligen Biografien; wenn sie nur ihre einsilbigen Dogmen wertschätzt und nicht die Mehrstimmigkeit der spirituellen Erfahrungen. Aussagen über die Kirche werden in der Studie dann abgelehnt, wenn diese einen "Instruktionsglauben" im Sinne des katholischen Theologen Edmund Arens oder einen "Gehorsamsglauben" statt eines "Verstehensglaubens" (nach Eugen Biser, Fundamentaltheologe) in der Glaubenskommunikation formulieren und damit die Freiheitswerte der Einzelperson missachten. Einige leben privat anders, als es die offizielle Kirche erwartet. Aus ihr auszutreten, käme der Mehrheit von ihnen dennoch nicht in den Sinn: Nicht bloß aus taktischen Gründen bleiben sie in der Kirche, um etwa den Arbeitsplatz zu sichern. Solche "Arbeitsplatztaktiker" gibt es zwar, aber nur als kleine Minderheit.
Eine religiöse Option unter vielen
Gut ein Drittel geht sonntags in die Kirche. Die Studie zeigt, dass die Verknüpfung von Kirche als verbandlicher Caritas und Kirche als sakramentaler Eucharistiegemeinschaft für viele nicht mehr selbstverständlich ist. Vielmehr wird Kirche als eine religiöse Option unter vielen angesehen und man sucht sich individuell ein Angebot aus. Die Abneigung gegen selbstverständliche Bindung durch Liturgie nimmt umso mehr zu, je jünger die Mitarbeiter(innen) sind. Nicht einmal jeder Zweite dieser jungen Mitarbeitenden behauptet mehr, das Christentum sei das Fundament seines persönlichen Wertesystems. Die Studie beweist: Privat gebetet wird schon, auch für Kolleg(inn)en. Für Meditationen sind die Mitarbeitenden aufgeschlossen. Die Frauen und Männer, die in der Caritas arbeiten, postulieren als Kirchenmitglieder und Mitarbeitende der Caritas individuelle Religionsfreiheit. Sie ordnen ihre subjektive Religiosität der objektiven Religiosität der kirchlichen Institution über.
Das Christsein, nicht die Konfession ist wichtig
Die Mitarbeitenden wollen niemanden ausschließen, sich Wertungen und damit auch Abwertungen enthalten. In ihren Aussagen und Haltungen tendieren sie zu einem inklusiven, "überkonfessionellen" Christentum. Es steht, wenn überhaupt, die Frage nach dem "Christsein" im Vordergrund, nicht die Frage nach der Konfession. Damit einher geht die Bereitschaft, von anderen in ihrer Religiosität und Spiritualität zu lernen und ihnen gegenüber offen zu sein. Die Mitarbeitenden weisen immer wieder - deutlich auch in qualitativen Interviews - darauf hin, dass es für sie existenziell notwendig ist, als Individuum gesehen, wahrgenommen, respektiert und wertgeschätzt zu werden. Sie benennen es nicht selten als das für sie zentrale christliche Merkmal, das eine kirchliche Organisation ihrer Meinung nach aufweisen muss, wenn sie als Liebesprojekt im Dienste Christi wahrgenommen werden will.
Diese eingeforderte Haltung impliziert die Notwendigkeit der immerwährenden Überprüfung der Wertebindung jedes einzelnen Mitarbeitenden, der Mitarbeitenden miteinander und auch der Organisation in ihrer Unternehmenskultur. Ohne Wertebindung keine Caritas. Sie trägt im Namen, dass sie unaufgebbar mit der Gottesliebe verknüpft ist. Und diese ist grenzenlos, gilt sogar den äußeren und inneren "Feinden", wie zum Beispiel den römischen Soldaten (Mt 8,5-13) und den "Zöllnern und Sündern" (Lk 5,27-30). Gott selbst wurde, wie es der Philipperbrief (2,6-11) hymnisch schreibt, wie ein Sklave. Für die Angehörigen des Christentums liegt seine tiefste Inspiration in der Vorstellung einer "Liebeserklärung Gottes an die Menschen" (Eugen Biser), einer "aus Gott quellenden und zu ihm zurückkehrenden Liebe" (Ernst Troeltsch, protestantischer Theologe). Zu dieser Liebesgeschichte gehört nicht nur der "größte Revolutionär der Religionsgeschichte", der das "Antlitz des bedingungslos liebenden Vaters zum Vorschein" (Eugen Biser) brachte. Zu dieser Liebesgeschichte gehört auch der bunt-schillernde Randseiter des Samariters (und der Samariterin), der biblisch ins Zentrum des jesuanischen Gleichnisses gerückt wird: ein Gottgläubiger zwar, aber ein Andersgläubiger, Unorthodoxer, des Heidentums Verdächtigter.
Vielfalt und Inklusion Andersgläubiger ist gewollt
Wie aber damit umgehen, dass nur etwas mehr als die Hälfte der bei der Caritas Tätigen den Satz bejaht, dass sich "Gott in Jesus Christus geoffenbart hat, und zwar ein für allemal"? Es ist anzunehmen, dass die schwache Bejahung mit der Formulierung des Items zusammenhängt, obwohl die Formulierung eine unaufgebbare Glaubensaussage ist. Denn der weicher, deutlich inklusiver formulierte Satz "Es gibt einen Gott, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat", wird häufiger bejaht. Allerdings können auch dieser Aussage nur etwa die Hälfte der jüngeren Befragten zustimmen. In der "caritas" ist von den Mitarbeitenden Vielfalt und Inklusion Andersgläubiger gewollt. Es wird gefordert, sich darauf rückzubesinnen, dass auch Außernseiter und sogenannte Randständige in der Kirche diese in ihrem Wirken als "anonyme Christen und Christinnen", wie der katholische Theologe Karl Rahner sie bezeichnet, mitgestalten möchten und können. Dogmatische Jesus-Vorstellungen, die mit einem exklusiven Christus-Bekenntnis einhergehen, würden - so hat es den Anschein - eine solche Vorstellung des Christlichen nur stören.
Außerkirchliche religiöse Angebote wahrnehmen
Für die verbandliche Strategie einer Neu- beziehungsweise Weiterentwicklung der caritativen Kultur durch die Pflege der spirituellen Ressourcen der Mitarbeitenden ist damit eine doppelte Herausforderung verbunden: Zum einen wahrzunehmen, dass ein großer Teil des Personals zwischen unterschiedlichen und auch außerkirchlichen religiösen Angeboten auswählt und mit diesen selbstbestimmt umgeht, um dann in einem zweiten Schritt neugierig wahrzunehmen, welche religiösen Angebote es sind, die diesen Mitarbeiter(inne)n plausibel erscheinen. Es gilt, wertschätzend nachzufragen, zu ergründen und zu verstehen, inwieweit diese Angebote mit der caritativen Arbeit kompatibel sind. Dabei ist der Wunsch der meisten Mitarbeitenden, an der "caritas" mitzuwirken, in den Blick zu nehmen und liebend anzuerkennen, egal worin er in erster Linie begründet ist. Der Satz von Abbé Huvelin, dem geistlichen Begleiter von Charles de Foucauld, könnte für diese Haltung richtungsweisend sein: "Wenn man einen Menschen bekehren will, so soll man ihm keine Predigt halten; das beste Mittel ist nicht, ihm zu predigen, sondern zu beweisen, dass man den Betreffenden liebt." Aber steht in der Caritas Bekehrung im Vordergrund, oder ist es nicht lediglich die Liebe, die es zu tun gilt? "Caritas" kann jeder und jede. War es nicht ein Mann aus Samaria, den ausgerechnet Jesus zum Vorbild der Nächstenliebe machte? Der helfende Samariter war weder Christ noch orthodoxer Jude. "Wenn aber der Samariter in der Dienstgemeinschaft der Caritas keinen Platz mehr findet", so schrieb dereinst der katholische Theologe Rolf Zerfaß in einer berühmten Kontroverse, "hol sie der Teufel!"
Anmerkung
1. Ebertz, M.N.; Segler, L.: Spiritualitäten als Ressourcen für eine dienende Kirche. Die Würzburg-Studie. Würzburg: Echter Verlag, 2016.
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