Kinderschutz gelingt nur gemeinsam
In den vergangenen Jahren sorgten immer wieder massive Fälle von Kindesmissbrauch und Kindestötung für Furore. Der kollektive Aufschrei nach mehr Kontrolle und besseren Gesetzen ließ nicht lange auf sich warten. In provokanten Schriften wie in der der Gerichtsmediziner(innen) Professor Michael Tsokos und Saskia Etzold wird von Deutschland als einem Land gesprochen, das seine Kinder misshandelt.1 Was kann dem Eindruck entgegengesetzt werden, dass Kinder und Jugendliche trotz vielfältigster Anstrengungen offensichtlich nicht richtig geschützt werden können?
"Jedes misshandelte Kind - jedes getötete Kind ist eines zu viel", so lässt sich die Motivation für einen bestmöglichen Kinderschutz beschreiben. Deshalb stellen sich im Caritasverband für das Erzbistum Berlin alle Akteur(inn)e(n) jeden Tag immer wieder aufs Neue dieser Aufgabe. Dennoch steht der Kinderschutz vor großen und neuen Herausforderungen. Dazu veranstaltete die Stiftung Haus Pius XII. gemeinsam mit dem Caritasverband im Oktober 2014 eine Fachtagung "Kinderschutz - Schwachstellen im System?"2, auf der mit Kinder- und Jugendhilfeexpert(inn)en die Probleme, aber auch Chancen diskutiert werden konnten.
Die Frage "Wann sind Seele, Leib und Leben des Kindes gefährdet?" beschäftigt alle Professionen, die mit Kindern und Jugendlichen umgehen. Dabei geht es immer um eine prognostische Einschätzung, ob das Kind potenziell gefährdet ist3 und der damit verbundenen Güterabwägung (Elternrecht und Kindeswohl) zu einzelnen Maßnahmen. Die unterschiedlichen Perspektiven der Professionen (Sozialarbeit, Erziehungshilfe, Medizin, Polizei, Justiz) bestimmen das Verständnis über die Einschätzung der Gefährdungslage.
Dieses Herangehen ist sowohl eine Chance, da sie viele Blickwinkel und Handlungsoptionen zulässt, aber auch gleichzeitig ein Fluch, weil ein abgestimmtes Handeln der Professionen nötig ist.
Wichtig ist daher ein gemeinsames Verständnis zur Kindeswohlgefährdung, welches sich sowohl an den aktuellen sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert als auch jeden Einzelfall juristisch definiert.4 Deshalb gibt es eine Reihe von Empfehlungen und Handreichungen. Der Bund, die Länder, Kreise und Gemeinden, die Wissenschaft sowie die Wohlfahrtsverbände, die Träger und Einrichtungen haben sich viel Mühe geben, den Erfordernissen der Gefährdungseinschätzung nach § 8a SGB VIII Rechnung zu tragen. Auch der Caritasverband im Erzbistum Berlin hat eigene Handlungsempfehlungen erarbeitet.5 Doch wie sieht deren Umsetzung konkret aus?
Durch die Beratung bei der Einführung der Handlungsempfehlungen in den Diensten und Einrichtungen konnte ein größeres Bewusstsein zum Kinderschutz erreicht werden. Gleichwohl wurden aber auch Probleme und Schwächen identifiziert, Lücken im Beschwerdewesen genauso wie in der Frage nach der gelingenden Beteiligung der Kinder und Jugendlichen ebenso wie ihrer Eltern, die es zu schließen gilt. Unabhängig davon beschäftigen die Frage nach der Qualifikation und dem Einsatz der hinzuzuziehenden Fachkraft nach SGB VIII die Dienste bis heute sehr. Erfreulich ist hier, dass es dem Caritasverband für das Erzbistum Berlin im Brandenburger Landkreis Märkisch-Oderland gelungen ist, im Rahmen eines Gesamtkonzeptes des Landkreises eine Vereinbarung mit dem Jugendamt über die Qualifikation, den Einsatz und die Finanzierung der hinzuzuziehenden Fachkraft abzuschließen.6 Diese Vereinbarung sichert modellhaft die Aufgabe, Leistung und Dokumentation der Fachkräfte ab - eine gute Grundlage für weitere Vereinbarungen, nicht nur im Land Brandenburg.
In Berlin gibt es Netzwerke für den Kinderschutz
Ein weiterer Fokus liegt auf der Kooperation und Vernetzung im Kinderschutz. Da der Kinderschutz auf das Zusammenwirken aller Akteur(inn)e(n) im Einzelfall genauso wie auf die fallübergreifende Zusammenarbeit der Institutionen angewiesen ist, wurde dieser Anspruch im Jahr 2012 im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) aufgenommen. Dieses erstellt Rahmenbedingungen für verbindliche Netzwerkstrukturen. In Berlin bildeten sich in den Bezirken Netzwerke mit recht unterschiedlicher Beteiligung. Sicherlich liegt dies am Interesse der Akteur(inn)e(n) und an der Nähe zum Thema einerseits, aber auch an den Ressourcen, die für die Beteiligung zur Verfügung stehen. Wer neben dem Informationsaustausch verbindliche Kooperation der Akteure und Institutionen will, muss neben den zusätzlich finanzierten Kinderschutzkoordinator(inn)en der Bezirksämter auch die Einrichtungen und Einzelpersonen wie Ärzt(inn)e(n) entsprechend zur Teilnahme in die Lage versetzen. Hier gilt es noch einen weiten Weg zu gehen, sowohl auf bezirklicher wie auf Landesebene. Dennoch kann der Caritasverband gute Erfahrungen aus der eigenen Vernetzung im Erzbistum in die Diskussion und Weiterentwicklung einbringen.
Im Erzbistum hat sich vor dem Hintergrund der Missbrauchsdebatte, gerade um das Berliner Canisius-Kolleg, ein "katholisches Netzwerk Kinderschutz"7 gegründet. Ziel dieses Zusammenschlusses, bestehend aus den erzbischöflichen Abteilungen Personal, Seelsorge, Schule und Jugend, dem Caritasverband mit seinen Fachverbänden und Mitgliedern und den Schulen, die nicht dem Erzbischof unterstehen, ist es, sich gegenseitig zu informieren, sich auszutauschen, Verfahren aufeinander abzustimmen und gemeinsam über Qualifikation und Fortbildung den Kinderschutz im Erzbistum weiter zu verbessern. Allein der gemeinsame Fachtag 2014 "Dem Menschen nahe zu sein, ohne ihm zu nahe zu kommen" mit der Kurzfilmpremiere "…das merk ich am Herz"8, welcher über den Präventionsfonds der Deutschen Bischofskonferenz gefördert wurde, war ein großer Erfolg. Aktuell konnte so die Präventionsordnung zur sexuellen Gewalt im Erzbistum abgestimmt und gemeinsam umgesetzt werden. Gleichwohl stellen die Schulungen und die Anpassung beziehungsweise Erstellung der Schutzkonzepte unsere Dienste und Einrichtungen vor Anstrengungen, deren Umsetzung sich jedoch lohnt.
Familien müssen weiter unterstützt werden
Im Ergebnis der Kinderschutzfachtagung und der Erfahrungen der Berliner Caritas geht es nicht um neue Gesetze, sondern um eine bessere Implementierung des Bestehenden und Angedachten. Der Kinderschutz braucht eine wertschätzende Haltung gegenüber dem bisher Geleisteten und einen weiteren gesellschaftlichen Diskurs. Ursachen von Kindeswohlgefährdung wie Armut müssen bekämpft, Familien bei der Erziehung ihrer Kinder weiter unterstützt und begleitet sowie die entsprechenden Ressourcen bereitgestellt werden. Kinderschutz ist eine gemeinsame Aufgabe aller Akteur(inn)e(n) im Gesundheits- und Bildungswesen, der Kinder- und Jugendhilfe, der Justiz und Polizei, insbesondere mit professionsübergreifender Vernetzung und verlässlichem Austausch. Es müssen weiter differenzierte Unterstützungsangebote entwickelt und verstetigt werden, die früh und rechtzeitig greifen. Dazu sind Qualitätsstandards zu beschreiben, die bundesweit gelten. Wichtig sind gemeinsame Weiter- und Fortbildungen der Beteiligten im Kinderschutz sowie wissenschaftliche Forschung und Evaluation. Einfache Lösungen oder Patentrezepte gibt es nicht. Jeder Einzelfall ist in seiner Komplexität zu betrachten und zu bewerten. Und: Kinderschutz ist keine Sparveranstaltung, sondern kostet Geld.
Anmerkungen
1. Tsokos, Michael; Guddat, Saskia (heute: Etzold, Saskia): Deutschland misshandelt seine Kinder. München: Droemer, 2014; siehe auch den Titelbeitrag von Michael Tsokos in diesem Heft, S. 9 ff.
2. www.fachtagung-kinderschutz.de
3. BGH FamRZ 1956, S. 351.
4. Meysen, Thomas, in: Münder, Johannes u.a.: FK SGB VIII, § 8a Rn 14f. Baden Baden: Nomos, 7. Aufl. 2013.
5. www.caritas-berlin.de/beratungundhilfe/
berlin/kinderjugendlichefamilien/kinderschutz
6. http://maerkisch-oderland.de/cms/upload/ pdf/Fachbereich_II/jugendamt/kinderschutzkoordination/Rahmenkonzept_ieFk_MOL.pdf
7. www.katholisches-netzwerk-kinderschutz.de/jugend/kinder/netzwerk-kinderschutz/
8. Ebd.
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