Arm trotz Arbeit - Zahlen zum Skandal
Mittlerweile ist die Datenlage zum Ausmaß von Arbeitslosigkeit und Armut recht gut. Doch reicht sie der Freien Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen (NRW) längst nicht für eine adäquate Bewertung, Positionierung und für politische Konsequenzen. Denn die Zahlen und statistischen Einzelveröffentlichungen sind sehr unübersichtlich, wenig kompatibel.
Die Bundesagentur für Arbeit und das Land NRW berichten regelmäßig über die Situation und die Entwicklungstendenzen am Arbeitsmarkt. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung und die Sozialberichte in NRW - jeweils mittig in einer Legislaturperiode geplant - sowie einige kommunale Berichte und differenzierte wissenschaftliche Untersuchungen belegen sehr eindeutig, dass die Schere zwischen Arm und Reich in unserem Land so weit wie nie auseinanderklafft.
In diesen Berichterstattungen kommen systematisch einige unter den Gesichtspunkten von Armutsbekämpfung und Teilhabesicherung besonders relevante Punkte zu kurz: etwa die stetige Entwicklung von Langzeit- und Dauerarbeitslosigkeit beziehungsweise die Problematik besonders arbeitsmarktferner Gruppen. Das Phänomen von "Working Poor", die unkontrollierbare Zunahme prekärer Beschäftigung, das unsägliche "Aufstocken" von nicht existenzsichernden Löhnen durch staatliche Sozialleistungen gelten mittlerweile als normale gesellschaftliche Erscheinungen. Mit diesen Auswirkungen haben die Beratungsdienste der freien Wohlfahrtspflege seit über zehn Jahren zu kämpfen.
Die Wohlfahrtsverbände haben immer wieder darauf hingewiesen, dass der Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit in den vergangenen Jahren an den oben genannten Gruppen weitgehend vorbeigegangen ist. Faktisch stehen wir heute vor der Situation, dass allen "Jubelmeldungen" der offiziellen Arbeitsmarktstatistik zum Trotz1 bundesweit rund 400.000 Menschen seit mindestens mehr als zwei Jahren arbeitslos sind und mehr und mehr Menschen dauerhaft in prekären, nicht existenzsichernden Arbeitsverhältnissen verharren. Aufgrund der einseitigen öffentlichen, offiziellen Darstellung werden diese Fakten allerdings nur selten wahrgenommen. Gerade für die Forderung nach einem dauerhaft öffentlich geförderten Arbeitsmarkt und eine ausreichende Existenzsicherung für besonders benachteiligte Personen ist eine verstärkte Berichterstattung und Problematisierung der entsprechenden Daten bedeutsam. Dies auch vor dem Hintergrund nicht erfolgreicher Lobbyarbeit der freien Wohlfahrtspflege und anderer Institutionen im Jahr 2011, sich politisch gegen die Kürzungen beim Eingliederungstitel von SGB II und SGB III und die damit zusammenhängenden Verschlechterungen für langzeitarbeitslose Menschen und Arbeitsmarktdienstleister zu wehren.
Kooperationsprojekt für ein alternatives Berichtsformat
Um das Ausmaß von Langzeit- beziehungsweise Dauerarbeitslosigkeit und damit eine wesentliche Ursache von Armut in NRW stärker öffentlich zu kommunizieren, hat die Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege (LAG FW) dieses Bundeslandes mit einem neuen Format, dem quartalsweise erscheinenden "Arbeitslosenreport NRW", die mediale Aufmerksamkeit geschärft.
Sie erstellt und veröffentlicht den Arbeitslosenreport NRW seit November 2013 gemeinsam mit dem bekannten Arbeitsmarktforscher Stefan Sell und seinem Institut für Bildungs- und Sozialpolitik der Hochschule Koblenz am RheinAhrCampus Remagen (Ibus).
Entstanden ist die Idee zu diesem neuen Report im Arbeitsausschuss "Arbeit/ Arbeitslosigkeit" der LAG FW. Zum Projekt gibt es einen Kooperationsvertrag über drei Jahre, die Finanzierung erfolgt über einen unter den Wohlfahrtsverbänden vereinbarten Schlüssel.
In einer Projektgruppe2 werden die Themen und Inhalte der Arbeitslosenreporte gemeinsam entwickelt, vor- und nachbereitet. Pro Ausgabe sind zwei bis drei Treffen und gegebenenfalls weitere Telefonkonferenzen notwendig. Für jede Ausgabe ist ein stringenter Zeitplan verabredet.
Jedes Quartal übersichtliche Themen
Ibus erarbeitet quartalsweise den im Flyer-Format erscheinenden Report für das Land NRW aus Daten der statistischen Berichte der Bundesagentur für Arbeit und bei Bedarf weiterer seriöser Institute. Jeder Arbeitslosenreport NRW hat ein Schwerpunktthema, das mit drei besonders herausgestellten Aspekten, mit Zahlen untermauert, grafisch dargestellt wird. Die Datenlage wird knapp analysiert und kurz bewertet. Zentrale Kennzahlen zu Unterbeschäftigung, Langzeitarbeitslosigkeit und SGB-II-Hilfequoten werden langfristig beobachtet und mit jeder Ausgabe konstant fortgeschrieben.
Die erste Ausgabe wurde im Rahmen einer Landespressekonferenz öffentlich gemacht. Die weiteren Ausgaben wurden und werden über eine Landespressemeldung an einen dem LAG FW-Pressebüro vorliegendem breiten Verteiler in NRW versandt. Mittlerweile sind vier Ausgaben veröffentlicht:
- "Langzeitarbeitslosigkeit" (1/2013) mit den Schwerpunkten "Zweiklassen-Entwicklung bei der Arbeitslosigkeit", "Langzeitarbeitslosigkeit steigt" und "Einmal Hartz IV - immer Hartz IV";
- "Problemgruppen in der Grundsicherung" (1/2014) mit den Schwerpunkten "Alleinerziehende", "Dauerhafter Leistungsbezug" sowie "Geringqualifizierte";
- "Ältere Arbeitslose" (2/2014) mit den Schwerpunkten "Geschönte Statistik", "Langzeitleistungsbezug" und "Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen";
- "Atypische und prekäre Beschäftigung" (3/2014) mit den Schwerpunkten "Atypische Beschäftigung", "Aufstocker", "Leiharbeit".
Aufbereitung auch für Orte und Regionen
Ein besonderes Markenzeichen des Arbeitslosenreports NRW ist die gewollte Beteiligung der örtlich-regionalen Ebene der freien Wohlfahrtspflege. Mit einem Datenanhang wird das jeweilige Schwerpunktthema auch für die 53 Regionen im einwohnerstärksten Bundesland aufbereitet und über die Homepage der LAG FW abrufbar bereitgestellt.
Damit haben die örtlichen Ligen der Freien Wohlfahrtspflege in NRW die Möglichkeit, einen örtlich-regionalen Arbeitslosenreport selbst zu erstellen und/oder mit den Zahlen örtliche Öffentlichkeitsarbeit zu initiieren. Eine entsprechende Muster-Pressemeldung und eine Arbeitshilfe, in der erläutert wird, wie die jeweils eigenen Zahlen im Datenanhang zu finden sind, werden den örtlichen Ligen und Verbänden mitgeschickt.
Zu einem vorab angekündigten Stichtag wird der Arbeitslosenreport NRW über das Pressebüro der LAG FW versandt. Die örtliche Ebene erhält die Materialien mit Sperrfrist zwei Werktage vorher, um ihre Öffentlichkeitsarbeit vorbereiten zu können.
Prekäre Beschäftigung - jüngste Zahlen
Die Mitglieder der Arbeitsausschüsse auf Landesebene suchen zu den jeweiligen Schwerpunktthemen des Arbeitslosenreports in den Regionen Expert(inn)en aus den Verbandsgruppen, die für Presseanfragen, Interviews oder Stellungnahmen zur Verfügung stehen. Die jeweilige Expertenliste liegt dem LAG FW-Pressebüro vor. Dort laufen in der Veröffentlichungsphase alle Presseanfragen und Anfragen örtlicher Ligavertreter(innen) zusammen. Die Projektgruppe steht in den ersten Tagen nach der Veröffentlichung in ständiger Rufbereitschaft.
Der Arbeitslosenreport belegt:
- Jede(r) vierte Erwerbstätige in NRW ist atypisch beschäftigt und zwar in Leiharbeit, Minijobs, Teilzeit oder befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Viele dieser Beschäftigungsverhältnisse sind rechtlich ungeschützt (fehlende Arbeitnehmerrechte wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Pausenzeiten oder bezahlter Urlaub), sozial ungesichert (zum Beispiel fehlende Rentenansprüche bei Frauen in Minijobs), schlecht entlohnt (die Bezahlung reicht vielfach nicht zur eigenständigen Finanzierung des Lebensunterhalts) und gelten deshalb als prekär.
- Über 300.000 Menschen in NRW sind trotz Erwerbstätigkeit auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II angewiesen und gelten als Aufstocker.
- Jede fünfte Arbeitsaufnahme in NRW - bei Bezieher(inne)n von SGB-II-Leistungen jede vierte - erfolgt in der Leiharbeitsbranche (in der Regel bei besonders niedrigen Löhnen). Da fast die Hälfte aller Leiharbeitsverhältnisse nach weniger als drei Monaten wieder beendet wird, greift das Instrument der Leiharbeit als Brücke in den regulären Arbeitsmarkt oft nicht.
- Diese Zahlen und Entwicklungen zeigen deutlich, dass die Schutzfunktion der Erwerbsarbeit immer mehr ausgedünnt wird. Weil "Arm trotz Arbeit" als ungerecht einzustufen ist, setzt sich die Freie Wohlfahrtspflege in NRW für ein sozial gerechtes Handeln, Beschäftigen und Entlohnen ein und engagiert sich für auskömmliche Rahmenbedingungen in den sozialen Arbeitsfeldern. Selbstkritisch weist sie darauf hin, dass sie als sozialer Dienstleister (zum Beispiel im Bereich der Pflege) starken ökonomischen Zwängen, gesetzlichen und fördertechnischen Vorgaben unterliegt. Damit hält sie selber in bestimmten Bereichen auch Mini-Jobs, Teilzeit- oder befristete Stellen vor.
Folgende zusätzliche Informationen werden bei jedem Arbeitslosenreport fortgeschrieben:
- Bei 726.000 Arbeitslosen in NRW im November 2014 betrug die Zahl Unterbeschäftigter 925.000. Sie ist die ehrlichere Arbeitslosenzahl, weil sie all jene Personen mit umfasst, die faktisch arbeitslos sind, aber zum Zeitpunkt der statistischen Erfassung nicht als arbeitslos gezählt wurden, weil sie an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme teilnahmen oder krankgeschrieben waren.
- 44,5 Prozent aller Arbeitslosen in NRW sind langzeitarbeitslos, das heißt, ein Jahr oder länger ohne Erwerbsbeschäftigung. Weil die Dauer der Arbeitslosigkeit unter anderem nach der Teilnahme an einer Maßnahme wieder von vorn zu zählen beginnt, kaschiert die Zahl das wahre Ausmaß der Langzeitarbeitslosigkeit.
Erstes Fazit
Die Resonanz auf die Pressearbeit ist gut und stetig steigend. Die örtlichen Arbeitsgemeinschaften der Freien Wohlfahrtspflege, zum Teil nur einzelne örtliche oder regionale Wohlfahrtsverbände (hierbei ist das Engagement caritativer Träger besonders erfreulich) begleiten ebenfalls in zunehmendem Maße das Vorhaben mit eigener Pressearbeit. Die örtliche Presse greift die Informationen gern auf und verknüpft sie mit lokalen Diskussionen und weiteren Hintergrundinformationen unter Schlagzeilen wie: "Die versteckte Wahrheit", "Ältere Arbeitslose auf Abstellgleis?", "Kritik an Statistik und Förderpraxis", "Arbeitslose ohne Berufsausbildung - Wohlfahrtsverbände schlagen Alarm".
Mit dem Arbeitslosenreport NRW ist es bisher schon gelungen, die öffentliche Berichterstattung der Bundesagentur für Arbeit und des Landes zu ergänzen. Themen oder Zielgruppen der Caritas und anderer Verbände wie zum Beispiel "Langzeitarbeitslosigkeit" oder "Problemgruppen der Grundsicherung" werden öffentlichkeitswirksam platziert. Landesweite und regionale Entwicklungen werden aufgezeigt sowie sozialpolitische Einschätzungen und Vorschläge gegeben. Bürger(innen), Politiker(innen), engagierte Ehrenamtliche und Kritiker(innen) werden hellhörig.
Diese neue Form der Sozialberichterstattung ist für das Engagement der Caritas und für notwendige Kooperationen und gemeinsame Lobbyarbeit mit den anderen Wohlfahrtsverbänden gewinnbringend.
Download der bisherigen Ausgaben und Pressemeldungen
Die jeweiligen Ausgaben mit Datenanhang und Pressemeldungen sind abrufbar auf der Homepage der LAG FW NRW unter folgenden Links:
www.freiewohlfahrtspflege-nrw.de/ index.php/mID/3.1/lan/de
www.freiewohlfahrtspflege-nrw.de/ index.php/mID/5/lan/de
Anmerkungen
1. Im Jahr 2014 waren rund 42,7 Millionen Menschen erwerbstätig, die Zahl der atypisch Beschäftigten wird verschwiegen. Quelle: destatis.de, Meldung vom 12. Februar 2015.
2. Der Gruppe gehören an: ein Mitglied des Arbeitsausschusses Arbeit/Arbeitslosigkeit (zurzeit ein Vertreter des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes), einem Mitglied des Arbeitsausschusses Armut und Sozialberichterstattung (zurzeit ein Caritas-Vertreter), die Pressereferentin der LAG FW (Vorsitz derzeit: DRK) und ein Mitarbeiter von Ibus.
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