Humanitäre Hilfe braucht starke Partner im Krisengebiet
"Von Kriegen umzingelt" lautete eine Artikelserie in der Wochenzeitung "Die Zeit" im vergangenen Jahr. Der Titel war reißerisch, entsprach zur damaligen Zeit aber sicher dem Eindruck vieler Leser, wonach die Zahl der Konflikte tatsächlich von Woche zu Woche dramatisch zunahm: der anhaltende Krieg in Syrien, der bestialische Feldzug des IS im Irak. Der Konflikt in der Ukraine spitzte sich zu, während bereits bekannte Krisen im Südsudan, in Nigeria oder der Zentralafrikanischen Republik erneut aufflammten.
Inzwischen bestätigen die Forscher(innen) des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung (HIIK) diesen Eindruck mit ihren Zahlen. In ihrem aktuellen Konfliktbarometer weisen sie weltweit 424 Konflikte aus: Darunter sind 46 Konflikte, die sie als "hochgewaltsam" einstufen, 21 erfüllen alle Kriterien für einen Krieg.1 Das ist, in der Tat, eine traurige Rekordmarke.
Während die Zahl klassischer, zwischen zwei Staaten geführter Kriege in der Vergangenheit kontinuierlich zurückging, stieg die Zahl innerstaatlicher Konflikte und Bürgerkriege deutlich an. Das CRED-Center in Brüssel hat erstmals alle verfügbaren Daten zu Gewaltkonflikten gesammelt und ausgewertet. Das Ergebnis: Weitaus mehr Menschen als bisher angenommen sind von den Auswirkungen dieser Konflikte betroffen. 172 Millionen Menschen, schätzen die Wissenschaftler, waren es im Jahr 2012.2
Auch wenn mit dem Konflikt in der Ukraine eine kriegerische Auseinandersetzung unmittelbar an die Grenze der EU gerückt ist - die meisten Konflikte werden nach wie vor in den ärmeren Ländern des Südens sowie des Vorderen und Mittleren Orients ausgetragen. Als Auslandshilfswerk des Deutschen Caritasverbandes arbeitet Caritas international in den meisten dieser seit Jahren, manchmal seit Jahrzehnten, von gewaltsamen Auseinandersetzungen erschütterten Regionen. Seit dem Biafra-Krieg Ende der 60er Jahre gehört die Hilfe für Flüchtlinge und Kriegsopfer zum Wesenskern der Arbeit von Caritas international. Von Afghanistan bis zur Zentralafrikanischen Republik steht die Caritas den betroffenen Menschen zur Seite. Trotz unserer langjährigen Erfahrung in Krisenregionen fordern uns die drastische Zunahme an Gewaltkonflikten und die damit einhergehende große Zahl an Flüchtlingen und Vertriebenen derzeit bis an unsere Belastungsgrenze.
Warum ist das so? Sind die Anforderungen an humanitäre Hilfe nicht die gleichen, egal ob es sich um einen Gewaltkonflikt oder eine Naturkatastrophe handelt?
Tatsächlich geht es in erster Linie immer darum, Leben zu retten und in Not Geratene mit dem Allernotwendigsten zu versorgen: mit Wasser, Lebensmitteln, einer Unterkunft. Beide, sowohl der kriegerische Konflikt als auch die Naturkatastrophe, konfrontieren uns außerdem mit einer Reihe ähnlicher Probleme: mit einer großen Zahl obdachlos Gewordener zum Beispiel oder mit Seuchengefahr.
In einigen wesentlichen Punkten erfordert die Arbeit in einem Gewaltkonflikt aber doch eine grundlegend andere Herangehensweise. Man könnte sagen: Der Druck, unter dem humanitäre Hilfe immer steht, ist beim Einsatz in einem akuten Gewaltkonflikt noch einmal um ein Vielfaches erhöht.
Humanitäre Hilfe im Konflikt muss extrem flexibel reagieren und in der Lage sein, sich schnell und effektiv an veränderte Situationen anzupassen. Gestern noch zugängliche Transportwege können morgen schon nicht mehr passierbar sein. Getroffene Absprachen müssen ständig revidiert und an aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Die genaue Kenntnis über rivalisierende Parteien sowie der höchst sensible Umgang mit ihnen sind unverzichtbar. Bei Verteilungen muss zum Beispiel strikt darauf geachtet werden, dass keine Partei bevorzugt wird. Die Kriterien, wer warum wie viel bekommt, müssen transparent und für alle nachvollziehbar sein. Ist das nicht der Fall, kann die Hilfe den Konflikt schlimmstenfalls noch befeuern.
Weltweit tragfähiges Netz von Caritas-Partnern
Grundsätzlich besteht immer die Gefahr, dass Helfer(innen) ungewollt zu Handlangern werden könnten. Hilfsprojekte wie ein Krankenhausbau können beispielsweise von einer der Kriegsparteien benutzt werden, um das eigene Ansehen zu erhöhen. Oder Verteilzentren für Nahrungsmittel können missbraucht werden, um Zwangsrekrutierungen vorzubereiten.
Das Credo, dass man sich vor Ort gut auskennen muss, um helfen zu können, trifft bei der Arbeit in Konfliktgebieten deshalb in einem besonders hohen Maß zu.
Als Teil des weltweiten Caritas-Netzwerks hat Caritas international hier einen entscheidenden Vorteil: In 162 Ländern können wir im Bedarfsfall auf eine nationale Caritasorganisation zurückgreifen und damit auf das Wissen und den Einsatz von Kolleg(inn)en, die in der Region leben. Zwar arbeiten wir im Einzelfall auch mit anderen, nichtkirchlichen NGOs (Nichtregierungsorganisationen) zusammen. Trotzdem ist die lokale Caritas im Katastrophenfall immer unsere erste Anlaufstelle. Sie ermöglicht uns einen schnellen wirksamen Zugang zu allen wichtigen Informationen, die wir in dieser Situation brauchen.
Die weltweite Partnerstruktur ist aber nicht nur ein Privileg, sondern auch eine Verpflichtung. Die Zahl der Hilfsorganisationen, die überhaupt in der Lage sind, in einer akuten gewaltsamen Krise Hilfe zu leisten, ist nämlich um ein Vielfaches geringer als nach einer Naturkatastrophe. Während es nach Großkatastrophen schon vorkam, dass die Medien die hohe NGO-Dichte kritisierten - zu viele, so der selten zu Recht erhobene Vorwurf, stünden sich unkoordiniert gegenseitig im Weg - steht im Fall des akuten Gewaltkonflikts in aller Regel eine geringe Zahl an Helfern und Hilfsmitteln einer großen Zahl an Hilfebedürftigen gegenüber.
Der Druck auf die - in diesen Situationen fast ausschließlich lokalen - Helfer steigt dadurch weiter an. Rund um die Uhr leisten sie Hilfe, nicht selten unter Einsatz ihres Lebens. Und stellen dabei fest: Es reicht nicht. Es braucht mehr Lebensmittel, mehr Medikamente, mehr Kerosin.
Korrekte Mittelverwendung auch unter hohem Druck
Damit wir von unserer Freiburger Zentrale aus wenigstens etwas von diesem "Mehr" organisieren können, muss unser Partner in dieser extrem angespannten Situation einen korrekten Förderantrag schicken: inklusive exakter Budgetierung, der Anzahl der Hilfsempfänger und Angaben darüber, wer wo und wann begünstigt werden soll. Denn natürlich stehen wir auch in diesen Situationen bei unseren Spender(inne)n dafür ein, dass die Hilfe ankommt. Deshalb müssen wir darauf bestehen, dass alle Kriterien, die das garantieren sollen, auch eingehalten werden.
Es reicht deshalb nicht, dass der Partner sich vor Ort sehr gut auskennt und jede Verschiebung im lokalen Machtgefüge richtig deuten und einordnen kann. Sondern er muss darüber hinaus auch personell und strukturell so aufgestellt sein, dass er die vielen Anforderungen, die im Konfliktfall gleichzeitig auf ihn einströmen, bewältigen kann.
Starke Partner fallen nicht vom Himmel - auch nicht im weltweiten Caritas-Netzwerk. Keineswegs dürfen wir uns bequem zurücklehnen, im festen Glauben daran, überall auf der Welt bereits Partner zu haben. Was sich einfach anhört - Arbeiten nach dem Partnerschaftsprinzip - ist in der Praxis eine zuweilen anstrengende, permanente Herausforderung.
Langfristige Entwicklung der Partnerschaftsstrukturen
Partnerschaftlich zu arbeiten schließt unseren Grundsatz der "Hilfe zur Selbsthilfe" mit ein. Es ist nicht das Ziel, unserem äthiopischen oder malischen Partner die in unseren Augen für ihn richtige Struktur zu diktieren. Wer nachhaltige Strukturen aufbauen will, die in der Zukunft eigenständig funktionieren sollen, muss sie gemeinsam mit seinem Partner entwickeln. Immer gilt es dabei abzuwägen: Wie viel geben wir vor, und was muss von ihm kommen? Wo können wir unterstützen, und wo halten wir uns besser heraus? Diese Art der Zusammenarbeit braucht Ausdauer und die Bereitschaft, in den Aufbau von Strukturen, in Weiterbildung und Training von Mitarbeiter(inne)n zu investieren. Eine strategische Vorausplanung ist nötig, damit in relativ ruhigen Zeiten in Krisenregionen schlagkräftige Strukturen aufgebaut werden können. Das sind unsichere Investitionen in eine ebenso ungewisse Zukunft. Nicht immer entwickelt sich eine Organisation so, wie man es sich gewünscht hat. Nicht immer ermöglichen die politischen Rahmenbedingungen, dass sich der Partner so weiterentwickeln kann, wie er es selbst gern möchte.
Aktuelle Beispiele: Jordanien und Syrien
In Jordanien, wohin mehr als eine halbe Million Syrer(innen) geflohen sind, können wir derzeit tatsächlich die Früchte dieser jahrzehntelangen Aufbauarbeit ernten. Lange bevor der Krieg Millionen Menschen zwang, ihr Land zu verlassen, haben wir dort in den Aufbau der Caritas investiert. Dazu gehörte auch, dass die Mitarbeiter(innen) sich in der Akquirierung öffentlicher Gelder qualifizierten und ein großes Netz von Ehrenamtlichen aufbauten. Diese ehrenamtlichen Helfer(innen) bilden jetzt das Rückgrat unserer Flüchtlingshilfe in Jordanien, sie leisten dort hervorragende Arbeit.
Nicht immer muss das Ziel aber eine starke lokale Caritasorganisation sein. Manchmal reichen auch schon kleine, über Jahrzehnte finanzierte Strukturen, die im Bedarfsfall mit Unterstützung externer Berater(innen) schnell und effizient ausgeweitet werden können.
In Syrien, wo wir derzeit mit allen Schwierigkeiten konfrontiert werden, die humanitäre Hilfe in Konfliktgebieten mit sich bringt, arbeiten wir mit allen Modellen. Die Situation ist extrem komplex und schwer zu durchschauen, die Sicherheitslage aufs Äußerste angespannt. Die lokalen Mitarbeiter(innen) arbeiten unter ständiger Lebensgefahr. Unsere Partner haben bereits mehrere Todesfälle zu beklagen, immer wieder müssen lokale Mitarbeiter(innen) fliehen. Wir arbeiten mit der Caritas, aber auch mit anderen Partnern zusammen, die wir nicht nennen dürfen, um sie nicht zu gefährden.
Auch darin unterscheidet sich die Arbeit im Konflikt: Sie tritt eher leise auf, geschieht manchmal, wie derzeit in Syrien, fast im Verborgenen. Sie eignet sich nicht für einen glamourösen Charity-Auftritt - was sich natürlich auch auf die Höhe der Mittel auswirkt, die uns für diese Hilfe zur Verfügung stehen.
Neutralität als humanitäres Prinzip
Die Ukraine ist für uns ein weiteres Beispiel dafür, was an Hilfe leistbar ist, wenn wir dabei auf seit Jahren intensiv gepflegte Strukturen zurückgreifen können. Hier können wir auch ganz offen auftreten, weil es uns nach wie vor gelingt, sowohl auf der ukrainischen als auch auf der russischen Seite zu helfen. Damit stellen wir sicher, dass niemand uns mit militärischen oder politischen Zielen in Verbindung bringt. Die humanitäre Neutralität hat in den vergangenen Jahren sehr gelitten, immer weniger Akteure erkennen sie an. Umso wichtiger ist es, dass wir, wo möglich, immer auf beiden Seiten des Konflikts aktiv sind. Nur ein neutraler Helfer kann auch als solcher wahrgenommen werden.
Partnerschaftlich arbeiten bedeutet immer auch, um Kompromisse zu ringen. Auch hier gilt es in einer Konfliktregion ein größeres Verständnis dafür aufzubringen, welchen Zwängen der lokale Partner ausgesetzt ist. Immer müssen wir bedenken: Unsere Partner sind und bleiben vor Ort - egal, wie der Konflikt sich entwickelt oder zugunsten welcher Partei er ausgeht.
Nur eines steht nicht zur Diskussion - unsere humanitären Prinzipien: Neutralität, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Menschlichkeit. Es gibt Extremsituationen, in denen es für einen Partner schwer einsehbar sein kann, warum er zum Beispiel auch muslimische Hilfesuchende versorgen soll, wo eine andere lokale NGO die Christen doch auch nicht berücksichtigt. Das Prinzip der neutralen Hilfe steht bei uns an oberster Stelle. Das gilt erst recht für die Arbeit in Konfliktgebieten.
Die Bundesregierung hat einen Paradigmenwechsel angekündigt: Weg von der kurzfristigen "Feuerwehr", hin zur wirksamen Präventionsarbeit. Ausdrücklich will sie dem Aufbau lokaler Partner ein größeres Gewicht beimessen. So langwierig der Aufbau einer funktionierenden Partnerstruktur in politisch instabilen Regionen auch ist, so nachhaltig wird er sein, wenn er gelingt.
Allerdings ist davor zu warnen, die Möglichkeiten humanitärer Hilfe zur Friedensbildung insgesamt zu überschätzen. Die Erfahrung der vergangenen Jahre hat gezeigt, dass humanitäre Hilfe in der Regel vorrangig eine Arbeit im Konflikt und nicht am Konflikt ist.
Anmerkungen
1. Gewaltkonflikte werden jeweils drei unterschiedlichen Intensitätsstufen zugeordnet: violent crisis (gewaltsame Krise), limited war (begrenzter Krieg) und war (Krieg). Die Messung wird anhand von fünf Indikatoren vorgenommen: Einsatz von Waffen und Personal, die Dimension der daraus entstehenden Folgen, Zahl der Opfer, der Zerstörungen sowie der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen.
2. Centre for Research on the Epidemiology of Disasters (CRED): Neben Opfern, Flüchtlingen und Binnenvertriebenen rechnen die Wissenschaftler die große Zahl der dauerhaft im Konfliktgebiet lebenden Bevölkerung mit ein.
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