Zum Pflegen werden mehr Männer gebraucht
"Früher hätte ich mir den Beruf nie vorstellen können. Doch hätte ich damals schon gewusst, wie der Beruf wirklich ist, hätte ich ihn schon mit 18 ergriffen." In seinem "früheren Leben" war Adil Karakus unter anderem Wettcafé- und Restaurantbesitzer. 2008 beginnt er mit einer Ausbildung zum Altenpfleger. Als er Anfang 2011 interviewt wird, ist er Ende dreißig, arbeitet auf 400-Euro-Basis für den Transkulturellen Pflegedienst in Hannover und hofft auf eine Festanstellung. Seine Geschichte ist nachzulesen in einer Broschüre des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit dem Titel: "Auf fremdem Terrain - Wenn Männer pflegen"1.
Schon dieser Titel signalisiert: Die Normalität der Pflege in unserem Lande sieht anders aus. Weitaus mehr Frauen als Männer pflegen Angehörige zu Hause und als professionelle Pflegekraft in der stationären oder ambulanten Pflege. Die Pflegestatistik 2011 des Statistischen Bundesamtes2 nennt deutliche Zahlen: In der ambulanten Pflege beträgt der Männeranteil bei den Pflegekräften zwölf Prozent, im stationären Bereich sind es gerade mal drei Prozent mehr. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, wie viele der 15 Prozent Männer tatsächlich in der direkten Pflege tätig sind. Die Männer sind also deutlich unterrepräsentiert. Deshalb gilt im professionellen Bereich der Satz "Pflege ist weiblich" in der Tendenz nach wie vor. Und wie viele Männer sind eigentlich pflegebedürftig? Bei den ambulant Gepflegten beträgt der Männeranteil 32,1 Prozent, im Heim 26 Prozent. Auch besteht eine Unterrepräsentanz: Es gibt im Verhältnis erkennbar weniger Pfleger als männliche Gepflegte.
Der Befund, dass professionelle Pflege im ambulanten und stationären Dienst vorwiegend von Frauen geleistet wird, ist nicht neu. Angesichts der demografischen Entwicklung mit steigender Zahl pflegebedürftiger Frauen und Männer wie unter geschlechterpolitischen Gesichtspunkten birgt dieses Ungleichgewicht jedoch Brisanz. "Mehr Männer in die Pflege" wird damit analog zur Diskussion um einen höheren Männeranteil im pädagogischem Bereich zu einem wichtigen Anliegen.
Warum aber sind Pflege und Sorgearbeit Berufsfelder, zu denen (junge) Männer nach wie vor weniger Zugang finden als (junge) Frauen? Adil Karakus zumindest weiß, dass sich viele seiner Freunde über seine Berufswahl gewundert haben: "Bei denen sind Pflegeberufe weniger anerkannt als zum Beispiel Kfz-Mechaniker". Man beachte: Nicht etwa die Bezahlung, sondern das Thema Anerkennung des Berufes schiebt sich hier in den Vordergrund. In einer Expertise für den Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart haben vor einigen Jahren Eckart Hammer und Heinz Bartjes3 Hindernisse benannt, die (junge) Männer davon abhalten, den Pflegeberuf zu ergreifen oder darin zu verbleiben. Als einen der entscheidenden Faktoren nennen beide Forscher die fehlende Wertschätzung. Der Pflegeberuf gilt als weiblich konnotiertes Berufsfeld. Männer, die dort arbeiten, sind damit immer in Gefahr, als "unmännlich" marginalisiert zu werden - übrigens nicht nur von ihren eigenen Geschlechtsgenossen, sondern durchaus auch von Frauen. In der Geschlechter- und Männerforschung spricht man in diesem Zusammenhang von "hegemonialer Männlichkeit" als dem in einer Gesellschaft dominierenden Konstrukt von Männlichkeit. Dieses Konstrukt strukturiert und hierarchisiert nicht nur das Geschlechterverhältnis, sondern auch die Beziehungen der Männer untereinander. Männliche Pfleger bilden in unserer Gesellschaft so etwas wie einen Antityp zum hegemonialen Konstrukt einer normierenden "Business-Männlichkeit" mit Laptop und Smartphone. Entsprechend gering ist das Image des Pflegeberufes.
Natürlich kommen schlechte Bezahlung, ungünstige Arbeitszeiten und geringe Aufstiegschancen als weitere Faktoren hinzu, die den Beruf für Männer zudem unattraktiv machen. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass männliche Fürsorge- und Pflegetätigkeit oft unsichtbar ist für Jungen und jüngere Männer. Es fehlen konkrete Männervorbilder in der Pflege.
Wie kann man den Männeranteil erhöhen?
In der Jungen- und Männerarbeit
- muss gezielter für ein Männerbild geworben werden, das Care als integralen Bestandteil männlicher Identität versteht;
- benötigen wir gezielte Angebote für Männer in Pflegeberufen, die diesen Zusammenhang zum Thema machen;
- brauchen wir mehr Räume für Begegnung zwischen Männern unterschiedlicher Generationen, in denen Erfahrungen von Altern und Pflegebedürftigkeit authentisch vermittelt werden.
In der Schule
- müssen wir eine geschlechtersensible Gesundheitserziehung für Jungen etablieren, die diesen einen Zugang zu ihrem Körper über das bloß Funktionell-Instrumentelle hinaus ermöglicht;
- gilt es geschlechterstereotype Vorstellungen bei der Berufswahl (Jungs werden Mechatroniker, Mädchen Krankenschwester) zu thematisieren und zu problematisieren;
- sollten kontinuierliche Sozialpraktika in der Altenpflege in enger Kooperation zwischen Schule und Altenpflege für Jungs eingerichtet werden;
- sind positive Erfahrungen von (jungen) Männern im Berufsfeld zu vermitteln.
In der Aus-, Fort- und Weiterbildung
- ist auf die Genderkompetenz der Ausbilderinnen und Ausbilder zu achten;
- sind geschlechtliche Identität und Genderfragen zum Thema zu machen;
- sind geschlechtshomogene Phasen in den Ausbildungscurricula kontinuierlich einzuplanen.
An berufspolitischen Maßnahmen
- benötigen wir dringend eine Diskussion über ein professionelles und geschlechtergerechtes Leitbild in der Pflege;
- müssen Männer in der Pflege vom Status des "Exoten" durch geeignete Öffentlichkeitsarbeit und in Zusammenarbeit mit Initiativen wie "Neue Wege für Jungs"4 befreit werden;
- sind Entwicklungsmöglichkeiten und Karrierewege zu verbessern.
Was bringen mehr Männer?
Männer pflegen anders als Frauen, anders - nicht besser und nicht schlechter! Manfred Langehennig5 hat dies in einer Studie über Männer in der Angehörigenpflege herausgearbeitet. Er zeigt, dass und wie Männer ihre Sichtweisen in die konkrete Pflege einbringen. Die männlichen Blicke, die in die Pflegebeziehung hineingetragen werden, tragen zur Differenzierung und Pluralisierung des Pflegesettings bei. Für den professionellen Bereich gilt dies - so ist zu vermuten - in gleicher Weise, ein Gewinn für alle Beteiligten.
Es wird - wie oben skizziert - in Zukunft immer mehr pflegebedürftige Männer geben. Ein größerer Anteil an männlichen Pflegern ist deshalb dringend erforderlich. Eine bedürfnisgerechte Pflege impliziert auch, dass Männer in bestimmten Fällen lieber von einem Mann gepflegt werden.
Männer wie Adil Karakus brauchen wir in Zukunft mehr denn je. Ob er die Festanstellung als Altenpfleger im Transkulturellen Pflegedienst bekommen hat, weiß ich nicht. Zu wünschen ist es ihm auf jeden Fall. Denn Adil Karakus hat den Beruf gefunden, der ihn trotz aller Belastungen ausfüllt und ihm Sinn gibt: "Es ist einfach ein schönes Gefühl, Menschen zu helfen. Wenn man nach der Arbeit nach Hause geht, weiß man, dass man etwas Gutes getan hat."
Anmerkungen
1. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Auf fremdem Terrain - Wenn Männer pflegen. 2012.
2. Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 2011. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse.
3. Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart e.V. (Hrsg.)/Hammer, Eckart; Bartjes, Heinz: Mehr Männer in den Altenpflegeberuf. Stuttgart, 2005. www.neue-wege-fuer-jungs.de/content/download/5751/43798/file
4. Ebd.
5. Langehennig, Manfred et al.: Männer in der Angehörigenpflege. Weinheim : Beltz Juventa, 2012.