Gewalt(frei) in der Beziehung: Die Partner haben die Wahl
Am Anfang stand die Nachfrage der Betroffenen. Bewohnerinnen des Caritas-Frauenhauses Berlin hatten sich wiederholt mit dem Wunsch nach Paarberatung an die Mitarbeiterinnen gewandt. Im Laufe der Zeit wurde den Kolleginnen bewusst, dass hier ein großer Bedarf der Frauen besteht. Mehr als ein Drittel der Frauenhausbewohnerinnen kehrt in die gewaltgeprägte Beziehung zurück. Seit Januar 2012 können sie sich gemeinsam mit ihrem Partner an eine eigens spezialisierte Beratungsstelle wenden. Das Team des Projekts „Jetzt mal anders – Ohne Gewalt klarkommen“ des Diözesan-Caritasverbandes Berlin begleitet Klient(inn)en aller Nationen und Gesellschaftsschichten auf ihrem individuellen Weg aus der Gewalt.
Doch wie können Beratende eine Dynamik beeinflussen, die unter dem Verdacht steht, strukturell verankert zu sein? Wie Constance Ohms1 bemerkt, eröffnet ein systemischer Blick die Möglichkeit, häusliche Gewalt als interaktiven Prozess zu verstehen. Eine genaue Betrachtung der partnerschaftlichen Verhaltensmuster legt die beidseitige Beteiligung an der Gewaltdynamik offen. Diese Perspektive bietet Betroffenen die Möglichkeit zu entdecken, dass sie ihr Schicksal durch eigenes Handeln selbst gestalten können. Es ist die Aufgabe der Beratenden, den Blick auf die Schrauben zu richten, an denen „gedreht“ werden kann.
Dabei gilt es zu beachten, dass die Sicherheit des Paares Ziel und zugleich Grundlage des Beratungsprozesses ist. Nur wenn beide Partner sich frei fühlen, voreinander zu sprechen, können realistische Lösungsbilder entwickelt und in Handlungen umgesetzt werden. Dies setzt voraus, dass sie keine negativen Konsequenzen ihrer Äußerungen zu befürchten haben. Die Beratung orientiert sich daher an einer viergeteilten Struktur nach Sandra M. Stith, Eric E. McCollum und Karen H. Rosen.2
- Das getrennt geführte Eingangsgespräch erlaubt den Klient(inn)en, Gewalteskalationen zu schildern und Bedenken bezüglich des Aufeinandertreffens mit dem Partner/der Partnerin zu äußern.
- Das Austauschgespräch der Beratenden dient dem Ziel, zu bestimmen, ob ein gemeinsames Beratungsgespräch geführt werden kann.
- Das gemeinsame Beratungsgespräch mit beiden Partnern stellt den Kern der Beratungssitzung dar. Die Gesprächsführung der Beratenden stellt sicher, dass ein konstruktiver Rahmen gewahrt bleibt.
- Das abschließende Einzelgespräch gibt Berater(in) und Klient(in) Gelegenheit, Verletzungen infolge des Beratungsgesprächs anzusprechen und gegebenenfalls weiterführende Sicherheitsmaßnahmen einzuleiten.
Vor dem Hintergrund des so gespannten Sicherheitsnetzes erarbeiten die Beratenden mit den Klient(inn)en Beratungsziel und Lösungsvision, erkunden positive Ausnahmen vom Problem und ermutigen zu ersten Schritten in Richtung eines gewaltfreien Miteinanders. Nicht selten hat die Abkehr von der Gewalt dabei einen positiven Nebeneffekt: Auch die Beziehungsqualität verbessert sich häufig durch den Schritt in die Beratung.
Rückblick auf ein Jahr Beratungsarbeit
Um die Effektivität und Nachhaltigkeit des dargestellten Ansatzes sicherzustellen, wird „Jetzt mal anders – Ohne Gewalt klarkommen“ von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin wissenschaftlich begleitet. Eine enge Zusammenarbeit erlaubt dabei die zeitnahe Umsetzung der Forschungsergebnisse. Die Veröffentlichung der Evaluation steht für das vierte Quartal 2013 an.
Die Beratungspraxis zeigt jedoch schon jetzt, dass das gesellschaftliche Stigma der häuslichen Gewalt einen großen Einfluss auf die konfliktbelasteten Paare auszuüben scheint. Veränderung tritt erst dann ein, wenn sie sich von ihrer Scham befreien und die Gewalt als Konsequenz ihres eigenen Verhaltens begreifen. Gewalt ist eine Option. Wenn Partner erkennen, dass sie frei sind, die Wahl für ihr Verhalten selbst zu treffen, geschieht in den Räumen von „Jetzt mal anders“ ein kleines Wunder.
Anmerkungen
1. Ohms, Constance: Handreichung für die Arbeit mit lesbischen Frauen, die Gewalt und Misshandlungen in ihrer Partnerschaft verüben. 3. Theoretische Grundlagen, 2008. Internet: www.taeterinnen.org/de/00_theoretischegrund3.html (Stand 28. Januar 2013).
2. Stith, Sandra M.; McCollum, Eric E.; Rosen, Karen H.: Couples Therapy for Domestic Violence. Finding Safe Solutions. Washington DC : American Psychological Association, 2011.