Das Unmögliche entwerfen und umsetzen
Die katholische Förderschule in Neuzelle (Diözese Görlitz) mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt "Geistige Entwicklung" blickt auf eine lange Tradition zurück: Seit 1974 wurden hier Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung gefördert, bei einer Kapazität von 40 Plätzen.
Ende 2008 stellte sich die Situation wie folgt dar: Der Geburtenknick der 90er Jahre und der damit einhergehende demografische Wandel führten in der Region zu einer deutlichen VerringerUNg der Bevölkerungszahl und damit auch der Schülerschaft im Allgemeinen. An der Neuzeller Förderschule lag die Belegung durchschnittlich bei 30 Schülern und drohte darunter zu sinken. Des Weiteren stellten sich frühzeitig Vorahnungen hinsichtlich der künftigen Relevanz der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und deren Auswirkungen ein. Wissenschaftliche Aussagen, überzeugende Einzelerfahrungen und Erkenntnisse aus anderen Ländern verstärkten den Eindruck, dass die Neuzeller Förderschule in ihrer bisherigen Form den Bedürfnissen vieler Kinder nicht mehr gerecht wurde und auch wirtschaftlich nicht mehr gehalten werden konnte. Ein Kooperationsmodell mit einer anderen Schule war kurzfristig insofern ein reizvoller Gedanke, als hier das wirtschaftliche Risiko geringer und die pädagogische Umsetzung naheliegender schien. Doch überzeugender wirkte letztlich der Weg zu einer eigenen "Schule für alle".
Von allen Seiten gab es erhebliche Zweifel, ob es zu schaffen sei, dieses Projekt ausgerechnet in Neuzelle umzusetzen, einer ländlichen Gemeinde im südöstlichen Brandenburg. Viele Fragen stellten sich entgegen: Wird in dieser entkirchlichten Gegend eine katholische Schule mit "zweifelhaftem Konzept" zu ausreichenden Schülerzahlen kommen? Wie wird die staatliche Grundschule am Ort und wie das Umfeld in der 5000-Seelen-Gemeinde reagieren? Wird sich das Vertrauen der Eltern gewinnen lassen, dass Kinder mit Behinderung trotz gemeinsamen Unterrichts Schutz und gute Förderung erhalten - und andererseits Kinder ohne Behinderung nicht unterfordert werden? Werden die Lehrkräfte diesen Weg mitgehen, und wie können sie unterstützt werden, um die Herausforderung zu bewältigen? Nicht zuletzt: Wie soll das Ganze finanziert werden?
Vorarbeit und Aufbruchstimmung
Die Suche nach Modellen, die eine Orientierung bieten könnten, erbrachte zwei zukunftsweisende Konzepte. Das eine war das Außenklassenmodell der Martinusschule in Schwäbisch Gmünd unter der Leitung von Ralf Tödter. Beim anderen handelte es sich um das Konzept der Waldhofschule in Templin unter Leitung von Wilfried Steinert: Hier öffnete sich die Förderschule auch Kindern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf. Gerade diese Idee erschien als ein guter Ausgangspunkt für die Entwicklung eines eigenen Konzeptes für die Neuzeller Förderschule.
Eine Synopse stellte den Voraussetzungen einer inklusiven Schule die bereits vorhandenen Gegebenheiten gegenüber: Was fehlt, und wie lässt es sich erreichen? Ermutigend zeigte sich in dieser Zusammenschau, wie viel an Voraussetzungen die Förderschule bereits mitbrachte: Ein großes Pfund waren die Pädagog(inn)en, die aufgrund ihrer jahrelangen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung über zahlreiche Erfahrungen im Umgang mit den verschiedensten Krankheitsbildern und Behinderungsarten verfügten. Dabei war ihr Tun bereits vom Blick auf den Einzelnen geprägt, für den sie Lernwege individuell zuschnitten und die Unterrichtsinhalte entsprechend differenziert gestalteten.
Auch das Schulgebäude befand sich in einer guten Ausgangssituation: Durch bauliche Anpassungen und Anbaumaßnahmen vor mehreren Jahren verfügte es über weitestgehend ebenerdige Strukturen und zusätzliche Therapieräume.
Wichtig war auch, das Umfeld mit in den Blick zu nehmen und einzubeziehen beziehungsweise zu gewinnen. Dazu gab es zunächst zahlreiche Gespräche mit den Kirchen, der Amtsgemeinde, aber auch Kontakte mit sämtlichen umliegenden Kindertagesstätten und anderen Institutionen wie Frühförder- und Beratungsstelle oder Jugendamt. Das Interesse der Gesprächspartner an einer alternativen, inklusiv ausgerichteten Grundschulform (erste bis sechste Klasse im Land Brandenburg) in freier Trägerschaft war dabei deutlich zu spüren.
Schwierig lief es zunächst mit dem ersten im September 2009 beim zuständigen Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg eingereichten Antrag auf Änderung der Schulform. Das erste Gespräch ließ bereits erkennen, dass das Land zum damaligen Zeitpunkt kein Interesse an dem inklusiven Vorhaben in Neuzelle hegte. Wir setzten auf Fachlichkeit und wollten mit einem soliden pädagogischen Konzept überzeugen, welches den aktuellsten fachwissenschaftlichen Erkenntnissen zum Thema Inklusion in der Schule entsprach. Dies erforderte wieder Recherchen und parallel die Abstimmung mit unseren Lehrer(inne)n und Pädagog(inn)en, die nach diesem Konzept arbeiten würden. Hier gab es neben Ängsten wegen der tiefgreifenden Veränderung der Schule zugleich das Bewusstsein für die Chance einer neuen beruflichen Perspektive. Bemerkenswert war und ist bis heute das Engagement der Kolleg(inn)en, diesen Weg mitzugehen und auch die dafür notwendigen Fort- und Weiterbildungen zu besuchen, die bei diesem "jungen" Thema gar nicht so einfach zu organisieren sind (vgl. den Info-Kasten in neue caritas Heft 8/2013 auf S. 18).
Neuland für das Bildungsministerium
Darüber hinaus gab es immer neue Auflagen vom Ministerium, beispielsweise, dass jedes Krankheitsbild und jede mögliche Behinderungsart hinsichtlich des methodisch-didaktischen Umgangs damit zu beschreiben sei - also circa 200 individuell zugeschnittene Lernwege. Des Weiteren gab es juristische Bedenken, ob eine Schulform-Änderung überhaupt möglich sei, so dass unser erster Antrag abgelehnt werden würde. Das Angebot des Ministeriums lautete "Antrag auf Neugründung" und damit verbunden eine Wartefrist hinsichtlich der Zuschüsse. Der Caritasverband als Schulträger ließ sich darauf ein, und wir schrieben das ganze Konzept wieder um. Aber auch die darauffolgende Verhandlungsphase wurde nicht einfacher. Neben diesen Hürden stellten sich immer wieder auch andere Zweifel ein: Würde man genügend Eltern überzeugen können, würde man entsprechend motivierte Lehrer(innen) finden und die Finanzierung sichern können? In dieser Zeit waren die letzten Verse von Psalm 27 besonders einprägsam: "Sei getrost und unverzagt und harre des Herrn!"
Neben der starken fachlichen Ausrichtung galt es, die politische Lobbyarbeit voranzutreiben. Sie sollte eine größere Aufmerksamkeit bringen, um die Verhandlungen mit dem Ministerium zu unterstützen. Schließlich entsprach der in Neuzelle beschrittene Weg dem sich mehr und mehr etablierenden politischen Ziel der Inklusion. Allmählich zeigte die Strategie Wirkung.
Im Frühjahr 2011 wechselte im Land Brandenburg die Leitung des Bildungsministeriums, damit kam es zu einer anderen Ausrichtung zum Thema Inklusion. In einem Gespräch mit der neuen Bildungsministerin konnten wir unser Anliegen und die bisherigen Schritte vorstellen. Infolgedessen zogen wir unseren Antrag auf Neugründung zurück, beantragten wieder die Schulform-Änderung und konnten damit auch die Wartefrist umgehen. Bis in die Sommerferien hinein mussten wir noch bei den interessierten Eltern über die Zeit der Ungewissheit hinweg um Vertrauen für unseren Optimismus werben - am 12. Juli 2011 kam endlich die Schulgenehmigung.
Gelungener Start und die "Mühen der Ebene"
Am 15. August 2011 begann die Schule für alle als "Integrative katholische Grundschule mit angegliederten Förderklassen" in Neuzelle mit 13 Mädchen und Jungen in einer ersten Klasse, während die älteren bestehenden Förderklassen unberührt blieben. So baut sich die Schule nach und nach von unten neu auf. 2012 konnte sie einen zweiten Jahrgang mit 16 Kindern aufnehmen und sammelt nun Stück für Stück Erfahrungen im gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung.
Dass der Schulträger für Kinder mit geistiger Behinderung in der neuen Konstellation einen um 21 Prozent geringeren Zuschuss erhielt als in einer Förderschule, war unverständlich in einer Zeit, in der Kosten der Inklusion als Gegenargument aufgeworfen werden. Inzwischen wurden die Finanzzuschussrichtlinien diesbezüglich aber im Zuge einer einheitlichen Kürzung für alle Schulen in freier Trägerschaft im Land Brandenburg geändert.
Noch sind wir längst nicht am Ziel. Der weitere Aufbau der Schule ist kein "Selbstläufer". Der konzeptionellen Weiterentwicklung stehen personelle, bauliche und finanzielle Fragestellungen gegenüber. Eine dieser Realitäten ist der Lehrermangel: Lehrkräfte mit persönlicher sowie fachlicher Eignung und Kirchenzugehörigkeit sind trotz idyllischer Ortschaft mit touristischem Reiz in unserer Randlage sehr schwer auszumachen. Gleichzeitig wird derzeit die Förderung privater Schulen im Land Brandenburg schmerzhaft zurückgefahren. Und doch: Von uns möchte niemand zurück. Das bisher Erreichte und die anerkennende Resonanz bestätigen unseren Weg.
Mehr Infos: www.schule-für-alle.de