Das Umfeld ist genauso wichtig wie die Wohnung selbst
Senioren repräsentieren die Geschichte eines Stadtteils. Sie wohnen in der Regel schon seit Jahrzehnten dort, wissen ihren Nachbarn einiges über seine Entwicklung zu erzählen und tragen in erheblichem Maß zur Identitätsstiftung bei. Das Quartier gibt ihnen Vertrautheit und Orientierung - sie brauchen allerdings Wohnverhältnisse, die ihnen ein selbstständiges Leben ermöglichen.
Mit dem hohen Alter geht die Mobilität der Senior(inn)en zurück, der Aktionsradius wird kleiner und umso wichtiger ist daher, dass die eigene Wohnung nicht zur Einschränkung wird. Treppensteigen fällt schwer, insbesondere wenn Einkäufe in die Wohnung gebracht werden müssen; der Rollator, der Sicherheit beim Gehen im Viertel gibt, muss verstaut werden; im Bad müssen sich die Bewohner(innen) ohne Einschränkungen bewegen können, auch geringe Schwellen können zum großen Hindernis werden.
Genauso wichtig wie die Wohnung selbst als "Hardware" ist aber auch die Wohnform als "Software". Gerade in den Städten leben die Menschen in Wohnanlagen oft nebeneinander her und kennen sich kaum. Vereinzelung wie auch ständiger Wohnungswechsel haben enorm zugenommen und führen zur Anonymisierung. Je mehr alles öffentlich wird, die Arbeitswelt im Vordergrund steht, umso mehr gibt es das Bedürfnis, sich im Privaten zurückzuziehen. Doch je weniger die Menschen sich kennen, umso größer wird die Hemmschwelle, miteinander zu kommunizieren und sich gegenseitig zu unterstützen.
Auf diese Weise berauben sich die Bewohner(innen) der selbstverständlichen Hilfe im Alltag: Da ist die Glühbirne, die der alte Mann nicht mehr wechseln kann; da sind die Kinder, auf die kurzfristig aufgepasst werden muss, weil die Eltern einen Termin haben; da können sich Nachbarn mit Lebensmitteln oder Werkzeug aushelfen oder sich beim Einkauf etwas mitbringen - und überhaupt macht es Sinn, aufeinander zu achten. Wir brauchen also Wohnformen, in denen sich Menschen nicht voneinander abgrenzen, sondern in denen sie den Weg zueinander leichter finden - über Generationen hinweg, so dass aus diesem "Mix" ein Zusammenleben mit jeweils unterschiedlichen Ressourcen und Lebensweisen entstehen kann.
Miteinander ist besser als bloß zusammen
Vor diesem Hintergrund ist das Mehrgenerationenwohnen Geisberghof in Augsburg entstanden. Die Wohnungsbaugesellschaft (WBG) Augsburg stand vor der Aufgabe, eine Wohnanlage mit rund 100 Wohnungen aus den 50er Jahren, die sich auf dem Herrenbach-Gebiet befand, zu sanieren (siehe Kasten in neue caritas Heft 8/2013, S. 28). Davon konnte aber nur ein Teil über Aufzüge ohne Stufen erreicht werden. Also wurde aus der Not eine Tugend gemacht: Die Hälfte der Wohnungen konnte zu Wohnungen für Senior(inn)en umgebaut werden, die andere Hälfte wurde zu normalen Wohnungen für alle Generationen. Für die Seniorenwohnungen wurde ein Betreuungsvertrag mit der Miete fest vorgegeben, um personelle Ressourcen für die Betreuung wie aber auch für das Zusammenleben im Haus zu schaffen.
Die WBG selbst ist für die Vermietung zuständig, die AWO Augsburg übernimmt die Betreuung, hat aber die Möglichkeit, Mietinteressent(inn)en vorher über das Haus und sein besonderes Konzept zu informieren und kann insoweit auch Einfluss auf die Mieterstruktur nehmen. Gemeinschaftliches Wohnen gilt dabei nicht als moralischer Impetus, dass sich jetzt jeder für die Gemeinschaft einsetzen muss. Vielmehr dient dies als Möglichkeit, sich in dem Haus einzubringen - oder auch nicht. Es geht darum, eine Gemeinschaftskultur aufzubauen, ohne dabei Rückzugsmöglichkeiten einzuschränken.
Das Konzept geht davon aus, dass sich Bewohner(innen) ganz selbstverständlich unterstützen und gemeinsam etwas unternehmen, wenn sie sich erst einmal kennen. Die Aufgabe der Betreuung im Haus ist es daher, Gelegenheiten zum Kennenlernen zu schaffen. Dies können Feste und Veranstaltungen sein, Gartenprojekte oder Projekte zur Gestaltung der Treppenhäuser, gemeinsames Kochen oder Gymnastik, der Aufbau einer Bücherei, einer Nachbarschaftsbörse oder Grüße zum Geburtstag oder zur Genesung nach einem Krankenhausaufenthalt. Ob und wie sich dann die Kontakte und die Unterstützung der Bewohner(innen) untereinander, zwischen Jung und Alt, entwickeln, darauf hat die Betreuung keinen Einfluss. Dies soll bewusst den Bewohner(inne)n überlassen bleiben.
Nachbarschaft beschränkt sich nicht auf die Wohnanlage
Diese Kultur wirkt auch in den Stadtteil hinein. Die nachbarschaftlichen Beziehungen beschränken sich nicht auf die Wohnanlage. Es finden sich über die gemeinsamen Aktionen im Garten der Anlage wie auch im Mehrgenerationentreff immer wieder Gelegenheiten, Kontakte zu den anderen Bewohner(inne)n des Stadtteils aufzubauen beziehungsweise zu verfestigen.
Das Mehrgenerationenwohnen ist ein ganz einfaches Konzept. Gemeinschaft entsteht nicht von allein und kann auch nicht verordnet werden. Es müssen vielmehr immer wieder Gelegenheiten zur Begegnung und zu gemeinsamen Aktivitäten angeboten werden. Dazu braucht es wiederum jemanden, der diese Gelegenheiten schafft und initiiert, ohne selbst zum Akteur zu werden. Diese Funktionen können auch engagierte Bürger(innen) übernehmen. Oder es findet sich eine Finanzierung für eine angestellte Fachkraft, die sich dieser Aufgabe annimmt.
Im Geisberghof funktioniert dies im Betreuten Wohnen für Senior(inn)en. Nachdem die Nachfrage nach dieser Wohnform steigt, ist dies eine Chance, auf diese Weise die Ressourcen und die Finanzierung für ein gedeihliches und positives Zusammenleben über Generationen hinweg zu schaffen. Gerade Senior(inn)en können von einer solchen Wohnform profitieren, indem sie einerseits gerade auch in ihren Kompetenzen und zeitlichen Ressourcen geschätzt und gebraucht werden und anderseits die Sicherheit und Unterstützung im Alltag erfahren, die ihnen den Verbleib im Stadtteil und in der eigenen Wohnung erlauben.