Inobhutnahme erfordert eigene Gestaltungsmöglichkeiten
Im Jahr 1919 bat die Polizeibehörde den heutigen Sozialdienst katholischer Männer und Frauen - SKFM e.V. in Düsseldorf, ein "Vorasyl für obdachlose und gefährdete Mädchen und Frauen" einzurichten. Niedrigschwelligkeit und offener Zugang prägten das Profil des Vorasyls.
In der Zeit des Jugendwohlfahrtsgesetzes von 1961 bis 1991 wurde die Einrichtung zur Jugendschutzstelle für Mädchen. Auch junge erwachsene Frauen konnten im Einzelfall aufgenommen werden. Mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz KJHG im Jahr 1991 durften auf der Grundlage des § 42 SGB VIII ausnahmslos nur Jugendliche aufgenommen werden. Ein vergleichbares Angebot für junge erwachsene Frauen existierte nicht mehr.
Zentrale Aufgaben der Jugendschutzstelle, die von 1996 an auch männliche Jugendliche aufnahm, waren
- Inobhutnahme und Krisenintervention,
- sozialpädagogisch diagnostische Erfassung der akuten Krisen-/Lebenssituation,
- Klärung und Entwicklung möglicher Perspektiven und Vermittlung in weiterführende Hilfen beziehungsweise Rückführung in die Herkunftsfamilie.
Das unmittelbare Erleben der Jugendlichen in der Krisensituation wie auch im Alltag der Jugendschutzstelle ermöglichte qualifizierte und tragfähige Perspektiventwicklungen. Mit Einverständnis des öffentlichen Trägers stand die Jugendschutzstelle kontinuierlich im direkten Kontakt mit den Einrichtungen der Jugendhilfe, die als Folgehilfen in Betracht kamen. Sie kannte ihr Angebot und die aktuellen pädagogischen Möglichkeiten: Jugendschutzstelle und Einrichtungen der Hilfe zur Erziehung arbeiteten Hand in Hand und gestalteten neue Perspektiven für Jugendliche, die aus ihrem Herkunftssystem, ihrer Einrichtung oder Familie herausgefallen waren.
In den vergangenen fünf bis zehn Jahren zeigten sich neue Entwicklungen:
- Zunahme der Mehrfachaufnahmen: Jugendliche wurden mehrfach in der Jugendschutzstelle aufgenommen. Nach Rückführungen in ihre Familien, kam es erneut zu Krisen, zu erneuten Inobhutnahmen.
- Längere Verweildauer: Vor allem als "besonders schwierig" geltende Jugendliche bis hin zu sogenannten "Intensivtätern" verblieben über Wochen oder Monate und sprengten die Möglichkeiten einer Jugendschutzstelle. Dass diese Jugendlichen zudem mit der regelmäßigen Jugendschutzstellenklientel in einer Einrichtung lebten, war pädagogisch zeitweise kaum zu vertreten.
- Deutlich erhöhte Gewaltbereitschaft der aufgenommenen Jugendlichen.
Zeitgleich zu diesen Entwicklungen reduzierten sich die durch die Jugendschutzstelle wahrzunehmenden Funktionen und Aufgaben auf Krisenintervention und Unterbringung. Die Möglichkeiten der pädagogischen Mitgestaltung von Hilfeplanung, Weitervermittlung und mehr waren praktisch nicht mehr gegeben.
Eine weitere Entwicklung: Die Jugendschutzstelle hatte minderjährige unbegleitete Flüchtlinge aufzunehmen, deren Herkunft, Status, zum Teil auch Alter unklar waren, deren Sprache nicht gesprochen wurde, deren Perspektive völlig unklar war und deren Weitervermittlung ebenfalls stagnierte.
Rückgabe an den öffentlichen Träger
2009 entschied sich der freie Träger, die ihm übertragene Aufgabe der Inobhutnahme Jugendlicher an den öffentlichen Träger zurückzugeben. Zentraler Beweggrund für diese außergewöhnliche Trägerentscheidung war die reduzierte Gestaltungsmöglichkeit bei zeitgleich auftretenden neuen Aufgaben und Herausforderungen. Eine Jugendschutzstelle, die diese Möglichkeiten im System der Jugendhilfe nicht hat, kann nicht Aufgabe eines freien Trägers sein.
Das Resümee:
1. Die Inobhutnahme Jugendlicher und Kinder muss in der Jugendhilfe und der Jugendhilfepolitik Priorität haben: Hier werden für Kinder und Jugendliche Entscheidungen getroffen, Chancen genutzt oder verpasst. Die wegweisenden Entscheidungen sind nur als qualifizierte Entscheidungen verantwortbar - in pädagogischer wie auch in fiskalischer Hinsicht.
2. Einrichtungen der Inobhutnahme sind im System der Jugendhilfe maßgeblich und entscheidend zu beteiligen: Die unmittelbar mit der Inobhutnahme befassten Fachkräfte sind in die Hilfeplanung aktiv einzubeziehen. Sie sollten im direkten Kontakt zu weiterführenden Hilfen stehen und beauftragt sein, Vermittlungen vorzubereiten. Sie müssen die Möglichkeit haben, auch kurzfristig und einzelfallbezogen alternative Hilfen zu entwickeln. Sie müssen ihr Angebot um ambulante flexible Betreuungsformen ergänzen können. Die Fachkräfte der Inobhutnahme sollten im Vorfeld sich abzeichnender Krisensituationen in Familien und Einrichtungen präventiv tätig werden können. Für Klienten, die die Hilfen einer Jugendschutzstelle nicht annehmen können/wollen, sind aus pädagogischen wie aus Kostengründen niedrigschwellige Hilfen zu entwickeln (beispielsweise ein "Sleep-in"). Zielgruppen wie unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gehören grundsätzlich nicht in eine Inobhutnahmeeinrichtung.
3. Die Verweildauer in der Inobhutnahme ist auf die Zeit zu beschränken, die erforderlich ist, um den Auftrag der Inobhutnahme zu erfüllen: Krisenintervention, sozialpädagogische Diagnose, Weitervermittlung. Längere Verweildauern sind fachlich kontraproduktiv, den Kindern und Jugendlichen gegenüber und auch fiskalisch nicht zu verantworten. Die Gründe für Mehrfachaufnahmen sind zu analysieren. Insgesamt ist ein effizientes Zusammenspiel zwischen Kostenträger/fallführender Stelle und Inobhutnahmeeinrichtung essenziell.
4. Einrichtungen der Inobhutnahme können Aufnahmen nicht ablehnen: Dies muss auch bedeuten, dass sie hohen und spezifischen Belastungen mit entsprechenden personellen Ressourcen flexibel begegnen können.
5. Die Inobhutnahme ist Seismograph der Jugendhilfe: Jugendhilfe und Jugendhilfepolitik sind gut beraten, die Entwicklung der Inobhutnahmen kontinuierlich qualitativ wie quantitativ auszuwerten. Hier zeigen sich Entwicklungen in der Klientel. Es sind Indikatoren für fehlende oder nicht passende Anschlusshilfen erkennbar ebenso wie Notwendigkeiten, soziale Dienste im Umfeld der Inobhutnahme neu auszurichten.