Es ist und bleibt eine Mogelpackung
Ohne Zweifel: Seit der Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets rückwirkend zum 1. Januar 2011 ist die Nachfrage stetig gestiegen. Nach einer Trendabfrage der Diözesan-Caritasverbände Freiburg und Rottenburg-Stuttgart unter Caritas-Mitarbeiter(inne)n lag die Antragsquote zum 31. Januar 2012 im statistischen Mittel bei rund 50 Prozent. Allerdings macht die Auswertung der Abfrage schnell deutlich, dass die Zahl der Anträge wenig darüber aussagt, welche Leistungen tatsächlich bei den Kindern ankommen. Vor allem lässt sich der Bildungs- und Teilhabebedarf aus Sicht der Caritas mit dem Paket kaum decken. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) zieht hingegen insgesamt eine positive Jahresbilanz.
Mit dem Paket sollen vor allem spezielle schulische Bedarfe und die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern und Jugendlichen im Rahmen des Existenzminimums sichergestellt werden. Auf Antrag können Sachleistungen, das heißt Gutscheine oder Direktzahlungen für Schulausflüge und mehrtägige Klassenfahrten, für Lernförderung, für einen Zuschuss zur gemeinsamen Mittagsverpflegung in Schulen oder in Kindertageseinrichtungen oder für Mitgliedsbeiträge oder Unterricht in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur oder Geselligkeit von bis zu zehn Euro monatlich gewährt werden. Bei Schüler(inne)n, die für den Besuch der nächstgelegenen Schule auf Beförderung angewiesen sind, kann zudem ein Anspruch auf Übernahme der tatsächlichen Leistungen bestehen. Ohne Antrag werden jährlich insgesamt 100 Euro als Geldleistung für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf gewährt.
Anspruchsberechtigt sind nicht nur Kinder und Jugendliche, die Leistungen der Grundsicherung (SGB II) oder der Sozialhilfe (SGB XII) erhalten. Der Anspruch besteht auch dann, wenn die Familien Wohngeld oder Kinderzuschlag beziehen. In den Beratungsstellen der Caritas werden Ratsuchende über ihre Rechtsansprüche informiert und bei der Geltendmachung unterstützt.
Im Juni 2011 hatten sich die Caritas-Beschäftigten der Diözese Rottenburg-Stuttgart schon einmal zur Nachfrage bei den Bildungs- und Teilhabeleistungen in 14 Stadt- und Landkreisen geäußert.1 In fast allen diesen Kreisen ist bei der aktuellen Abfrage im Januar 2012 ein Anstieg der Anträge zu verzeichnen. Wegen der unterschiedlichen Entwicklung bei Einzelleistungen innerhalb des Bildungspaketes lässt sich jedoch keine aussagekräftige Angabe über den Anstieg insgesamt treffen. Der Erhebungsraum konnte auf den badischen Bereich ausgeweitet werden, so dass nun Informationen aus insgesamt 29 von 44 Stadt- und Landkreisen in Baden-Württemberg vorliegen.
Mehr Anträge - doch das sagt nichts über den Erfolg
Die Spanne der Antragsquote liegt laut Umfrage der Caritas zwischen acht und 84 Prozent. Die Zahlen lassen aber keine Schlussfolgerungen zu, wie der Bildungs- und Teilhabebedarf von Kindern durch das Paket tatsächlich gedeckt wird. Werden die Sachleistungen des Pakets als Gutscheine erbracht, gelten die Leistungen nach § 29 Abs. 2 SGB II mit Ausgabe des Gutscheins als erbracht. Ob der Gutschein allerdings jemals eingelöst wird, interessiert die Antragsstatistik nicht.
Zudem gibt es in Baden-Württemberg Kommunen mit einem gut ausgebauten Netz von Leistungen Freiwilliger, insbesondere beim Schulmittagessen, bei den Vergünstigungen zur Schülerbeförderung oder bei den Teilhabeleistungen (zehn Euro monatlich für die Mitgliedschaft im Sportverein oder die Teilnahmegebühr am Musikunterricht). Dort greifen die Familien seltener auf das Paket zurück. In der Antragsstatistik schneiden diese Kommunen dann aber schlechter ab.
Bürokratische und andere Hindernisse
Aktuell zeigt sich aus Sicht der Caritas in Baden-Württemberg, dass die Stadt- und Landkreise zum Teil erhebliche administrative Anstrengungen unternommen haben, damit das Bildungspaket bei den Leistungsberechtigten ankommt. Mitarbeitende wurden eingestellt und geschult, zahlreiche Informationsveranstaltungen in Schulen, Kindergärten und bei anderen Multiplikatoren fanden statt. Dennoch stellen immer noch viele Familien keinen Antrag. Das hat laut Umfrage vor allem mit dem noch immer hohen bürokratischen Aufwand und fehlender Kenntnis zu tun. Bei den Teilhabeleistungen und der Lernförderung verzichten viele Familien auch aus Furcht vor Stigmatisierung darauf, ihre Rechtsansprüche geltend zu machen.
Die bürokratischen Hindernisse werden nicht nur von der Caritas und anderen Sozialverbänden kritisiert, sondern auch von der Verwaltung. Ganz anders stellt sich die Situation in einer vom BMAS in Auftrag gegeben Befragung dar.2 Danach nehmen nur acht Prozent wegen des hohen Auftragsaufwands und sogar lediglich zwei Prozent aus Sorge vor Stigmatisierung keine Leistungen aus dem Paket in Anspruch. Angesichts der Vielzahl anderslautender Stimmen sind die Zahlen des Ministeriums nicht nachvollziehbar.3
Freiwillige kommunale Leistungen fallen weg
Die große Befürchtung der Caritas-Mitarbeitenden war laut der ersten Umfrage im Herbst letzten Jahres, dass kommunale Freiwilligkeitsleistungen durch das Bildungs- und Teilhabepaket ersetzt werden könnten.4 Eine Entscheidung darüber stand bei vielen Kommunen aufgrund anstehender Haushaltsplanungen noch nicht fest. Die aktuelle Umfrage bestätigt: Aus der Befürchtung wurde Gewissheit. In etwa zwei Drittel der Rückmeldungen werden Kommunen genannt, die das Paket zum Anlass nehmen, Leistungen einzusparen, insbesondere bei den Zuschüssen zur Schülerbeförderung und zur Mittagsverpflegung. Für die Betroffenen hat sich die Situation dadurch teilweise sogar verschlechtert. Haben etwa früher manche Kommunen die Kosten für ein Schulmittagessen voll übernommen, fällt nun in der Regel ein Euro Eigenanteil an.
Lernförderung als Schlusslicht
Selbst nach den Angaben des BMAS entfallen von den Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets lediglich magere fünf Prozent auf die Lernförderung. Diese nimmt auch bei der Befragung der Caritas den letzten Platz ein. Nach den gesetzlichen Vorgaben in § 28 Abs. 5 SGB II besteht ein Anspruch auf Lernförderung nur, wenn diese geeignet und zusätzlich erforderlich ist, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Anträge häufig wegen zu guter Noten abgelehnt oder nur im zweiten Schulhalbjahr bewilligt werden. Die Lernförderung zielt also offensichtlich nicht auf möglichst gute Noten oder gute Schulabschlüsse, sondern beschränkt sich im Wesentlichen darauf, dass das Klassenziel oder der Schulabschluss erreicht wird. Bildungserfolge, die eine möglichst differenzierte Förderung der vorhandenen Potenziale von Kindern und Jugendlichen voraussetzen, lassen sich damit nicht erzielen.
Alles, was schulpflichtige Kinder brauchen, um ihre schulischen Pflichten erfüllen zu können, zählt zu ihrem existenziellen Bedarf. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden.5 Das Gericht hat aber zugleich betont, dass ein menschenwürdiges Existenzminimum von Kindern an kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten ist. Kinder von Eltern, die Leistungen nach dem SGB II beziehen, müssen die Möglichkeit erhalten, später ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften zu bestreiten.
Bildung als Schlüssel für die individuellen Entwicklungschancen in unserer Gesellschaft ermöglicht das Bildungs- und Teilhabepaket hingegen nicht, weil es zu wenig differenzierte Förderung beinhaltet. Aber auch der im Paket genannte Teilhabebedarf mit zehn Euro monatlich ist deutlich zu niedrig angesetzt und lässt keine individuellen Gestaltungsspielräume zu.
Gebremste Spendenbereitschaft
Trotzdem ist ein Jahr nach Einführung des Pakets in der Öffentlichkeit vielfach der Eindruck entstanden, dass es gelungen ist, die Bildungs- und Teilhabechancen der Kinder aus armen Familien deutlich zu verbessern. Gelungen ist bei näherem Hinsehen allerdings nur die offensive Medienkampagne des BMAS, die der Republik das Bildungs- und Teilhabepaket nach wie vor als Erfolgsgeschichte verkauft.6 Dies hat gravierende negative Auswirkungen nicht zuletzt auch für die zivilgesellschaftlich getragenen Stiftungen und Spendenfonds der Caritas, die explizit einen Beitrag leisten wollen, die Bildungs- und Teilhabechancen benachteiligter Kindern zu verbessern. So berichten die verantwortlichen Akteure von einem spürbaren Rückgang der Spendenbereitschaft. Sie sehen die große Gefahr, dass funktionierende zivilgesellschaftliche Strukturen zerstört werden, weil der Öffentlichkeit durch die Hochglanzkampagne suggeriert wurde, es sei nun ausreichend für alle und alles gesorgt.
Die alltägliche Erfahrung in den einschlägigen Diensten der Caritas und die ungebrochen hohe Nachfrage nach zivilgesellschaftlichen Angeboten der Caritas sprechen eine entschieden andere Sprache. Sie zeigt zugleich auch, wie unbürokratisch und bedarfsorientiert gelingende Bildungsförderung beziehungsweise die Finanzierung gesellschaftlicher Teilhabe funktionieren kann. Und: wie umfassende Unterstützung möglich wird, die weit über eine reine finanzielle Förderung hinausgeht, wo es gelingt, zivilgesellschaftliche Kräfte zu aktivieren. Die wachsenden Bemühungen der Caritas in diesem Feld sind in der Tat eine Erfolgsgeschichte. So wird - um nur ein Beispiel zu nennen - die Einzel- und Notfallhilfe der Kinderstiftung Ravensburg7 für Klassenausflüge oder Musikstunden beispielsweise nicht nur durch Zeitspender(innen) begleitet und unterstützt. Über die Gewinnung und Vermittlung von Förderpatenschaften trägt sie auch zu einer langfristigen und nachhaltigen Unterstützung der Betroffenen bei.
Ein Jahr nach Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets ist zu konstatieren, dass viele Anfangsschwierigkeiten überwunden sind und die Zahl der Anträge steigt. Dies ist ein erster Schritt auf dem Weg zu mehr Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit. Für die Caritas in Baden-Württemberg heißt dies, zunächst Lösungsansätze zu suchen, damit möglichst viele Kinder ihren Rechtsanspruch auf die Leistungen des Pakets verwirklichen können. Neben dem Abbau von bürokratischen Hürden bedarf es vor allem weiterer Anstrengungen, damit auch bildungsferne Familien das Paket in Anspruch nehmen. Problematisch ist dabei, dass diese Zielgruppe für das Thema Bildung und seine Notwendigkeit als Zukunftsperspektive vielfach nur schwer erreichbar ist.
Es besteht weiter Handlungsbedarf
Langfristig reicht dies jedoch nicht aus. Solange es dem Schulsystem nicht gelingt, den einzelnen Schüler nach seinen Fähigkeiten individuell zu fördern, solange ist auch der individuelle Bildungsbedarf durch die Grundsicherung zu finanzieren. Darum muss es endlich mehr Transparenz geben bei der Festlegung des Bildungs- und Teilhabebedarfs. Und schließlich: Die Zweifel am Sachleistungsprinzip, die bereits bei der ersten Umfrage der Caritas geäußert wurden, wurden bestätigt. Wo, wie sich zeigt, die praktizierte Ausgabe von Gutscheinen keinerlei Gewähr bietet, ob die Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen werden und dazu noch stigmatisierend für die Betroffenen wirken können, ist die Tauglichkeit dieses Prinzips als solches grundlegend zu hinterfragen.
Anmerkungen
1. Vgl. Lehnis, Ulrike; Wolff, Michael: Ein Bildungspaket, das kaum einer auspackt. In: neue caritas Heft 16/ 2011, S. 21-25.
2. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Pressemitteilung vom 30. März 2012: Von der Leyen: "Bildungspaket ist aus dem Gröbsten raus" (www.bmas.de, "Service", "Presse", "Pressemitteilungen", Suche "Bildungspaket").
3. Vgl. Tagesschau.de, Beitrag vom 30. März 2012: Schlechte Noten für das Bildungspaket (www.tagesschau.de, "Inland", Suchwort "Bildungspaket").
4. Vgl. Lehnis, Ulrike; Wolff, Michael, a.a.O., S. 22.
5. Vgl. BVerfG, 1 BvL1/09 vom 9. Februar 2011.
6. Zum Beispiel auf www.bildungspaket.bmas.de
7. Siehe www.kinderstiftung-ravensburg.de