Von Hilfsempfängern zu Entwicklungshelfern
Öffentlichkeit und Gemeinwohl - für die Menschen in Osteuropa sind dies noch immer Begriffe, die oftmals negative Gefühle hervorrufen. Zu lange haben die sozialistischen Systeme den Gedanken der Zwangsgemeinschaft oktroyiert, zu lange fühlte man sich im öffentlichen Raum von steter Spitzelei bedroht. Anonymität statt Allgemeinwohl prägt als Grundsatz auch heute noch das Gedankengut vieler Osteuropäer(innen). Engagierte Bürgerinnen und Bürger sind eine Rarität. Schlechte Voraussetzungen also für die Mobilisierung des Volkes.
Und doch bietet das sozialräumliche Handeln enorme Chancen in ehemals sozialistisch regierten Ländern: Der Ansatz verzichtet darauf, Dinge von außen zu planen und durchzusetzen. Hilfe wächst vielmehr aus der Mitte der Gesellschaft und wird nicht verordnet. Jörg Kaiser, der viele Projekte als Osteuropa-Referent bei Caritas international angestoßen hat und heute für Haiti zuständig ist, skizziert den Weg, der bei zukünftigen Osteuropa-Projekten verstärkt beschritten werden soll: "Traditionell wurde das Ziel verfolgt, im Rahmen von Pilot- oder Referenzprojekten eine soziale Infrastruktur aufzubauen. Genauer gesagt wurden Mittel und Fachwissen bereitgestellt, damit die Partner-Caritasverbände diese Projekte in die Tat umsetzen konnten. Dabei liefen die Aktivitäten bisher zu oft unvermittelt nebeneinanderher. Die Arbeit hatte teilweise mit den Belangen der Menschen in der Gemeinde nichts mehr zu tun. Deshalb müssen die Menschen selbst aktiviert werden. Sie müssen selbst sagen, was ihnen fehlt und was verändert werden soll."
Für die Bürger der ehemaligen UdSSR ist diese Vorgehensweise ungewohnt. Doch auch in Russland möchte Caritas international Suchthilfe und Gemeinwesenarbeit verbinden. Regina Elsner, Diplomtheologin aus Münster und langjährige Projektkoordinatorin in Sankt Petersburg, kennt die Problematik: "In der russischen Mentalität spielt Anonymität eine wesentliche Rolle, man ist skeptisch gegenüber allem, was über das private Interesse hinausgeht." Und doch ist die Auslandsfachkraft der Caritas vom Sozialraum als Lösungsansatz überzeugt. Denn in Russland herrsche eine große Ko-Abhängigkeit, insbesondere beim weit verbreiteten Alkoholkonsum: Wenn ein Mensch trinke, passe sich sein Umfeld an seine Gewohnheiten an. Der Alkoholiker werde zum Zentrum eines Systems, das seinen Sinn verlieren würde, wenn er plötzlich trocken wäre. Keiner schreite ein, vielmehr tränken ganze Dörfer und Familien mit den Suchtkranken - das unterstütze deren Verhalten. Deshalb liege in der Veränderung des sozialen Umfelds der Schlüssel für eine erfolgreiche Präventionsarbeit.
Doch dazu braucht es zunächst einmal Freiwillige. In einem ersten Seminar in St. Petersburg ermutigte Regina Elsner daher Hauptamtliche aus Kirche und Nichtregierungsorganisationen in den eigenen Reihen nach ehrenamtlichen Multiplikatoren zu suchen. Es kamen katholische Ordensfrauen ebenso wie protestantische Gemeindemitglieder aus 22 russischen Städten, die sich quer über das geografisch größte Land der Erde erstrecken. Für Regina Elsner ist dies Mammutprojekt und Methodenkniff zugleich: "Nur mit dem gemeinwesenorientierten Ansatz lässt sich ein so flächendeckendes Projekt verwirklichen - immer muss auf lokaler Ebene entschieden werden, was überhaupt gebraucht wird." Dazu befähigt das Caritas-Qualifizierungsprogramm die Menschen - denn die Probleme in Astrachan am Kaspischen Meer sind andere als in Wladiwostok an der Grenze zu China. Die Freiwilligen suchen nun in ihrem sozialen Raum professionelle Mitstreiter(innen), die sie unterstützen sollen, um die Situation von Suchtkranken zu verbessern. Sie sprachen mit Verantwortlichen von Behörden, Krankenhäusern, Gefängnissen - abhängig von deren Fähigkeiten und Erfahrungen.
Den Chefarzt über Suchtkrankheit aufgeklärt
So auch Ordensschwester Kaja von der Gemeinschaft der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul: Sie suchte auf Anraten des Caritas-Seminars den Weg in ein Tuberkulosekrankenhaus in Nishnij-Tagil, einer Stadt mitten im Ural. Mit ihrem neu erworbenen Wissen öffnete die Nonne einer Sozialarbeiterin auf der Entgiftungsstation Augen und Ohren: Zum ersten Mal hörte die Fachkraft davon, dass Alkoholismus eine Suchtkrankheit sei - trotz ihrer Ausbildung verfügte sie über keinerlei Kenntnisse zur Thematik. Zehn Jahre lang hatte sich die Sozialpädagogin sogar dagegen gewehrt, eine Selbsthilfegruppe in die Räumlichkeiten ihrer Station hineinzulassen, weil sie es als überflüssig ansah. Mittlerweile wirkt sie beim Aufbau der Gruppe selbst aktiv mit und klärt gemeinsam mit Schwester Kaja auch den Chefarzt, die Mitarbeiter(innen) des städtischen Sozialamts und vor allem die Verwandten der Suchtkranken auf.
"Es ist beeindruckend die Eigendynamik sozialräumlicher Entwicklung auf meinen Monitoring-Reisen durch Russland zu verfolgen, wenn man bedenkt, dass unsere Organisation selbst zunächst eine eigene Caritas-Suchthilfestruktur aufbauen wollte, parallel zu den existierenden lokalen Strukturen", erinnert sich Regina Elsner. Doch das Wagnis des Strategiewechsels hat sich gelohnt: Heute hat das Caritas-Fortbildungszentrum in Sankt Petersburg auch für andere Institutionen wegweisenden Charakter, staatlichen Stellen bietet es Supervision an. In Nishnij-Tagil sind Netzwerke entstanden, die immer enger in den Lebensraum der Menschen hineingeknüpft werden können.
Szenenwechsel in einen anderen Sozialraum: Irene Berger, Beraterin von Caritas international, versucht, die offene Kinder- und Jugendarbeit in der Ukraine mit dem Gedanken des Gemeinwesens zu verbinden. Dazu schulte sie 19 Mitarbeitende der lokalen Caritas in einem dreijährigen Fortbildungszyklus. Theorie und konkrete Erfahrungen vor Ort ergänzten sich und brachten neue Ansätze in die Sozialarbeit ein.
"Community-Organizing und -Development waren für das Caritaspersonal von Lemberg bis Donetsk zunächst nur böhmische Dörfer", sagt Irene Berger. Doch die heterogene Gruppe war bereit, dieses Neuland trotz unterschiedlicher Voraussetzungen gemeinsam zu betreten: Pädagogikstudent(inn)en, Pfarrer und Psycholog(inn)en bildeten schon bald eine starke Gemeinschaft, welche die Idee des Sozialraums selbst auf der Mikroebene abbildeten. "Ihre unterschiedlichen Erfahrungsreichtümer förderten den Lernerfolg. Wer versteht, Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen, kann auch Sozialräume leichter erschließen", erläutert Irene Berger ihre Philosophie. "Daher schule ich in den Workshops zunächst die Wahrnehmung."
Die Subkulturen vor der Haustür kennenlernen
Die Caritasmitarbeiter(innen) bekommen auch quantitative und qualitative Methoden an die Hand, um für ihren Arbeitsbereich eine eigene Sozialraumanalyse aufzustellen. Dabei lernen die ukrainischen Fachkräfte vor ihrer Haustür neue Subkulturen kennen: Hip-Hopper, Punker oder Skater werden an ihren Lebensorten besucht, nach ihren Werten und Wünschen befragt. Diese Zielgruppenimplementierung ist wiederum Ansporn, neue Ziele für das jeweilige Zentrum zu formulieren und konzeptionell an ihre Verwirklichung heranzugehen. "Man kreist nicht mehr um sich selbst, öffnet sich stattdessen auch für andere Nicht-Regierungsorganisationen, staatliche Behörden und kulturelle Räume vor Ort", stellt Irene Berger fest. Die jungen Menschen werden an den Orten aufgesucht, wo sie sich wohlfühlen. Der städtische Spielplatz, auf dem die Jugendlichen abhingen, ist für die Caritas plötzlich nicht mehr die gefürchtete Alternative, sondern gelebter Alltagsraum - weil man die Angst überwand, die Heranwachsenden in ihrer Welt kennenzulernen.
Jörg Kaiser möchte noch einen Schritt weiter gehen, verschiedene Generationen zusammenbringen und auch Freiwillige intensiver in die Arbeit der Caritas integrieren. Konkrete Beispiele sind dabei die Jugendarbeit und die Hauskrankenpflege. Das Potenzial der Menschen zu wecken und es für das Gemeinwohl fruchtbar zu machen sei eine große Chance: "Senioren, die bei Hausaufgaben helfen oder Jugendliche, die alte Menschen beim Einkauf begleiten, sind Ideen, die pädagogisch wertvoll und für die Zukunft vorstellbar sind."
Der Pastoralraum ist oft Keimzelle für den Sozialraum
Zukunftsträchtig ist auch das Projekt von Thomas Hackl, der sich in Rumänien um Katastrophenprävention bemüht. Überschwemmungen suchen alle Regionen Rumäniens immer wieder heim, besonders stark war in den vergangenen Jahren der Süden und Osten betroffen. Zahlreiche Menschen sterben, weil sie nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen, wenn der Wasserpegel Zentimeter um Zentimeter steigt. Der gebürtige Österreicher startete daher vor zwei Jahren erste Gehversuche in der Gemeinwesenorientierung. Seine Devise: Die Menschen müssen mit ins Boot geholt werden, damit sie die Flut überleben. Er setzt bei seiner Arbeit vor allem auf die junge Generation, die keine eigenen Erfahrungen mit dem kommunistischen Regime gemacht hat. Engagierte Jugendliche entwickelten gute Ideen, um ihre Gemeinde auf den Ernstfall vorzubereiten. "Hier ist der Pastoralraum oftmals Keimzelle für den Sozialraum, denn Projektideen entstehen nicht selten im Rahmen kirchlicher Jugendarbeit", so der Diplom-Theologe. Aber auch über die Konfessionsgrenzen hinweg vernetzt er die Menschen.
In 20 Gemeinden, über fast alle Diözesen Rumäniens verteilt, versucht Hackl daher Bewusstseinsbildung zu betreiben. Die Menschen müssten lernen zu kommunizieren, damit sie sich über Gefahren - beispielsweise bei Hochwasser - gegenseitig informieren. Die Jugendgruppen führen Interviews mit den Dorfbewohner(inne)n, zeichnen Risikokarten oder stellen Notfallpläne auf. Die jungen Rumänen bilden mit ihrer Offenheit den Nährboden für Einzelprojekte wie das in Stefan cel Mare nahe der Moldau: in diesem Fall Humus für 2000 Robinien, sommergrüne Laubbäume mit schnell wachsendem Holz, die heute den Hang über dem rumänischen Bergdorf säumen. 20 Jahre lang plagten Erdrutsche die Einwohner. Investitionen und Ideen von außen wurden abgelehnt. Eine Jugendgruppe der Pfarrei beschloss nach mehreren Kursen mit Mitarbeiter(inne)n der lokalen Diözesan-Caritas, die Pflanzaktion aus eigenen Kräften zu verwirklichen. Mittlerweile ist der junge Wald, der Stefan cel Mare vor zu starker Bodenerosion bei Regenfällen schützen soll, für die Dorfbewohner(innen) zu "ihrem" eigenen Biotop der Hoffnung geworden. Die Bürger(innen) Rumäniens sind nicht länger Hilfsempfänger(innen), sondern selbst Entwicklungshelfer(innen). Mit den Robinien wächst auch ihr Gemeinschaftsgefühl untereinander. Und mit dem Boden stabilisiert sich auch der Sozialraum. Nicht nur im Katastrophenfall.