Kinderrechten Geltung verschaffen!
Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) wurde am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und trat am 5. April 1992 in Deutschland in Kraft. Deutschland hatte die Konvention allerdings nur unter dem Vorbehalt ratifiziert, dass sie nicht unmittelbar anwendbar sei und dass das deutsche Ausländerrecht Vorrang vor den Verpflichtungen der Konvention habe.1
Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hat Deutschland mehrmals für die geäußerten Vorbehalte kritisiert und ihre Aufhebung gefordert.2 Die Auswirkungen – insbesondere für (unbegleitete) minderjährige Flüchtlinge und asylsuchende Kinder und Jugendliche – wurden in den Staatenberichten beanstandet, wie auch die damit verbundene Verletzung der in der UN-Kinderrechtskonvention zugesicherten Rechte. Auch der Deutsche Caritasverband hatte seit Jahren gefordert, dem Kindeswohl Priorität einzuräumen und den Vorbehalt zurückzunehmen.
Bundesjustizministerin: Umsetzung ist Ländersache
18 Jahre nach der Ratifizierung der Konvention hat die Bundesregierung nun den Vorbehalt zurückgenommen und dies am 15. Juli 2010 gegenüber den Vereinten Nationen offiziell erklärt. Der daraus abzuleitende Handlungsbedarf wird sehr unterschiedlich beurteilt.
So sieht zum Beispiel die Bundesjustizministerin bisher keinen legislativen Handlungsbedarf im Asyl- und Ausländerrecht auf Bundesebene. Die praktische Umsetzung der Gesetzgebung sei vor allen Dingen Ländersache.3 Das nationale Recht entspreche den Vorgaben in den Artikeln der Konvention.4
Aus Sicht des Deutschen Caritasverbandes erfordert die konsequente Umsetzung der Kinderrechtskonvention hingegen vielfältige Änderungen sowohl der Rechtslage als auch der Umsetzung der verschiedenen Rechte.5 Einiges kann auf untergesetzlicher Ebene geregelt werden, aber eben nicht alles.6
Der sogenannte „ausländerrechtliche Vorbehalt“ ermöglichte es bisher, dass in Deutschland ausländischen Minderjährigen weniger Rechte zugestanden wurden, als es die Konvention vorsieht. Nach der Rücknahme des Vorbehalts muss es zu einem grundsätzlichen Paradigmenwechsel kommen: Der nun unmittelbar anwendbare Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention fordert, dass „bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden“, das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist.7
Das Primat des Kindeswohls gilt uneingeschränkt auch für ausländische Kinder und Jugendliche. Die ausländerrechtlichen Regelungen müssen deshalb im Sinne des Kindeswohls und der Umsetzungspflichten der Unterzeichnerstaaten neu geprüft und überarbeitet werden. Alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Verwirklichung der in der Konvention enthaltenen Kinderrechte müssen getroffen werden (Artikel 4 UN-Kinderrechtskonvention).
Ganz wesentlich muss der Schutz von Kindern und Jugendlichen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz empfangen8, die als (nicht anerkannte) Flüchtlinge Schutz suchen und die ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, verbessert werden. Es ist sicherzustellen, dass minderjährige Flüchtlinge9 „angemessenen Schutz“ und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung ihrer Rechte erhalten, unabhängig davon, ob sie sich in Begleitung der Eltern oder anderer Personen befinden oder nicht (Artikel 22 UN-Kinderrechtskonvention).
Kindeswohl hat Vorrang vor dem Aufenthaltsstatus
Dies bedeutet auch, dass der Vorrang des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) im Verhältnis zum Ausländer- und Asylrecht klargestellt werden muss. Unbegleitete Minderjährige dürfen an der Grenze nicht zurückgewiesen werden, müssen kindgerecht untergebracht und durch das zuständige Jugendamt betreut werden. Um sicherzustellen, dass sie die geforderte Hilfe bei der Wahrnehmung ihrer Rechte erhalten, muss für jeden unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden ein Vormund bestellt werden.
Alle (ausländischen) Kinder und Jugendlichen müssen nun bis zum 18. Geburtstag den vollen Schutz der Kinderrechtskonvention erhalten. Denn nach Artikel 1 der Konvention gilt ein Mensch bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs als Kind und genießt die entsprechenden Schutzrechte. Entsprechend beginnen die Volljährigkeit und die volle zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit in Deutschland erst mit dem 18. Geburtstag (§§ 2, 104 und 106 Bürgerliches Gesetzbuch). Dennoch werden ausländische Kinder bereits ab dem 16. Lebensjahr in allen ausländerrechtlichen Verfahren, einschließlich Asylverfahren, wie Erwachsene behandelt. Es ist nicht ersichtlich, warum ausländische Jugendliche in diesen komplexen und teils lebensentscheidenden Fragen weniger schützenswert sein sollten als Deutsche, die erst mit 18 Jahren die volle Verfahrensfähigkeit erlangen. Die Verfahrens- und Handlungsfähigkeit im Ausländerrecht muss deshalb auf 18 Jahre angehoben werden.
Das Recht, mit der eigenen Familie zu leben
Ein anderes Beispiel, bei dem bislang die Rechte minderjähriger Ausländer oft ungenügend berücksichtigt wurden, ist die Familienzusammenführung. Die engen Regelungen beim Kindernachzug führen in zunehmendem Maß zu sogenannten „Migrationswaisen“. Die Verfahren zur Familienzusammenführung sind oft sehr langwierig, die Gesetzeslage und die Verwaltungspraxis sind von Misstrauen gegen die Antragsteller(innen) geprägt und entsprechen damit nicht dem Gebot der Konvention, die Familienzusammenführung „wohlwollend, human und beschleunigt“ (Artikel 10, Absatz 1, UN-Kinderrechtskonvention) zu gestalten.
Bei der Mehrheit der Betroffenen ist eine Familienzusammenführung nur bis zum 16. Lebensjahr möglich, bei 16- bis 18-Jährigen wird das Recht auf Familienleben konventionswidrig missachtet. Weiter werden Kinder aus einkommensschwachen Familien benachteiligt: Schon der theoretische Anspruch auf Leistungen des SGB II verhindert regelmäßig die Familienzusammenführung.
Das Recht des Staates, Zuwanderung zu gestalten und zu regulieren, steht nicht infrage. Die ausländerrechtlichen Rahmenbedingungen müssen aber den Anspruch auf familiäres Zusammenleben und die Ausübung der elterlichen Sorge als Regelfall zugrunde legen. Nur in begründeten Ausnahmefällen darf davon abgewichen werden.
Die Änderungsbedarfe umfassen neben den genannten Beispielen auch Fragen des Zugangs zu sozialen Rechten, Gesundheitsversorgung, Bildung sowie Schutzrechte – insbesondere vor Abschiebung und Abschiebehaft. Und nicht zuletzt muss sichergestellt werden, dass auch Kinder und Jugendliche in aufenthaltsrechtlicher Illegalität ihre Rechte etwa auf Bildung und Zugang zur Gesundheitsversorgung verwirklichen können.
Um den Handlungsbedarf im Einzelnen aufzuzeigen, hat der Deutsche Caritasverband ein Fachpapier vorgelegt, das die in der UN-Kinderrechtskonvention zugesicherten Rechte von ausländischen Kindern und Jugendlichen vor dem Hintergrund der Rücknahme des Vorbehalts reflektiert.10 Anhand der Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen wird die gegenwärtige Situation von ausländischen Minderjährigen dargestellt und der Handlungsbedarf nach der Rücknahme der ausländerrechtlichen Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention aufgezeigt. Die Fülle der Änderungsbedarfe mag dabei erstaunen. Doch spiegelt sie eigentlich nur wider, dass bisher das Kindeswohl noch nicht für alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland im Vordergrund stand.
Anmerkungen
1. In der Vorbehaltserklärung wurden drei weitere Punkte benannt, die das Familienrecht, das Jugendstrafrecht und Kindersoldaten betrafen. Während die anderen Ausführungen durch gesetzliche Änderungen in den folgenden Jahren gegenstandslos geworden waren, bestand der sogenannte ausländerrechtliche Vorbehalt weiterhin. Vgl. Vorbehaltserklärung der Bundesrepublik Deutschland zur UN-Kinderrechtskonvention, 1992.
2. Vgl. Committee on the Rights of the Child: Thirty-fifth session. Concluding Observations: Germany, 2004, S. 2 und Committee on the Rights of the Child: Tenth Session. Concluding Observations of the Committee on the Rights of the Child: Germany, 1995, S. 3.
3. Vgl. Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 17/39. Stenografischer Bericht. 39. Sitzung, Berlin, 5. Mai 2010. 3747C.
4. Ebd., 3751A.
5. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 17. Legislaturperiode, Zeilen 3086 ff.
6. Vgl. Deutscher Caritasverband (Hrsg.): Kinderrechte für alle! Handlungsbedarf nach der Rücknahme der ausländerrechtlichen Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention. Fachpapier des DCV. Freiburg, 2010. www.caritas.de/39211.html
7. Vgl. Lorz, Ralph Alexander: Nach der Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung: Was bedeutet die uneingeschränkte Verwirklichung des Kindeswohlvorrangs nach der UN-Kinderrechtskonvention im deutschen Recht? Expertise, Düsseldorf, 2010. www.national-coalition.de
8. Leistungsberechtigt nach Asylbewerberleistungsgesetz sind neben Asylsuchenden unter anderem auch Menschen mit Duldung, Bürgerkriegsflüchtlinge und Ausländer(innen), die vollziehbar ausreisepflichtig sind.
9. Der Begriff „Flüchtling“ bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch Menschen, die sich Notlagen durch Migration entziehen wollen. Juristisch sind mit Flüchtlingen Personen gemeint, die nach einem entsprechenden Verfahren als Asylberechtigte oder Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt worden sind und über einen entsprechenden Aufenthaltstitel verfügen (§ 25 Abs. 1, 2 oder 3 Aufenthaltsgesetz).
10. DCV (Hrsg.): Kinderrechte für alle! A.a.O.