Eine Verfassung für die Kita
Partizipation als Beteiligung von Kindern an Planungen und Entscheidungen, die sie selbst betreffen, ist für Kindertageseinrichtungen (Kitas) in den letzten Jahren zunehmend wichtig geworden. Zum einen liegt das daran, dass Partizipation der Schlüssel zu Bildung (auch und insbesondere zu "Demokratiebildung") ist. Zum anderen ist Partizipation ein Grundprinzip in der Umsetzung der Kinderrechte. Im Folgenden werden die Zusammenhänge von Partizipation, Kinderrechten und Bildung skizziert. Anschließend werden Respekt und strukturelle Verankerung als Kernelemente von Partizipation beschrieben. Schließlich wird die Chance dargestellt, die eine Kita-Verfassung bietet, und Kennzeichen einer Fortbildung nach dem Konzept "Die Kinderstube der Demokratie"1 werden beschrieben.
International sind Kinderrechte in der UN-Kinderrechtskonvention, die am 5. April 1990 in Deutschland in Kraft getreten ist, festgeschrieben. Die Artikel der UN-Kinderrechtskonvention lassen sich vier Grundprinzipien zuordnen: dem Recht der Kinder auf Versorgung und Überleben, ihrem Recht auf Schutz, dem Recht der Kinder auf Entwicklung und Förderung sowie ihrem Recht auf Anhörung und Beteiligung. Jedes dieser Grundprinzipien verweist auf eine andere Perspektive.
Partizipation als Grundprinzip von Kinderrechten
Kinderrechte werden nur dann verwirklicht, wenn alle Grundprinzipien Beachtung finden. Nur durch das Recht der Kinder auf Beteiligung - also Partizipation - wird ihnen ein Subjektstatus zuerkannt. Erst durch Beteiligungsrechte werden Kinderrechte nicht mehr als "Gnadenrechte" verstanden, sondern als demokratische Grundrechte, die von den Bürgerinnen und Bürgern (hier den Kindern) selbst mitgestaltet werden können. Dieser Aspekt wird unten in der Notwendigkeit einer strukturellen Verankerung von Kinderrechten in der Kita wieder aufgegriffen.
Bildungsförderung braucht Beteiligung
Dass Kitas Bildungseinrichtungen sind, ist spätestens mit der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse der Pisa-Studie 2001 deutlich geworden. Kitas gerieten unter anderem deshalb so schnell in den Blick der Bildungsforscher(innen), weil Kinder hier erstmals außerhalb der Familie Bildungsförderung erfahren können und alle Kinder - also auch aus sogenannten "bildungsbenachteiligenden" Milieus - hier früh Anregung und Unterstützung für vielfältige Bildungsprozesse erhalten können.
Damit dies gelingt, ist es notwendig, dass in Kitas der Schwerpunkt der Bildungsarbeit nicht auf "Belehrung" liegt (also eine frühe "klassische Verschulung" stattfindet), sondern Bildungskonzepte realisiert werden, in denen Aneignungsprozesse des Subjekts in der Gemeinschaft der Kindergruppe im Mittelpunkt stehen.2 Wenn man Bildung als Aneignung durch das Subjekt begreift und befördern will, muss man berücksichtigen, dass jedes Kind anders ist, andere Erfahrungen mitbringt und in anderen Lebensverhältnissen lebt. Es gilt, die Individualität der Kinder zu berücksichtigen. Damit ist Bildung ohne die Beteiligung der Kinder selbst gar nicht möglich.
Nur wenn Kinder an der Gestaltung ihrer eigenen Bildungsprozesse in der Kita-Gruppe bewusst beteiligt werden, wenn Fachkräfte sich bemühen, die individuellen Bildungsprozesse jedes Kindes wahrzunehmen und zu unterstützen, wenn Kindern Entscheidungsräume gelassen werden, womit sie sich wie und wie lange beschäftigen wollen, werden ihre individuellen Bildungsprozesse befördert. Mit anderen Worten: Bildungsförderung für Kinder in einer pluralisierten Welt braucht Partizipation.
Partizipation und Bildung hängen aber auch andersherum zusammen: So wie Bildung Partizipation braucht, befördert Partizipation ihrerseits komplexe Bildungsprozesse. Indem die Kinder dazu angeregt werden, für die vielfältigen Herausforderungen des Alltags eigenständig Lösungen zu finden, indem ihre Ideen und Lösungsvorschläge gefragt sind, mobilisieren sie all ihr Wissen und Können, um Lösungen zu finden. Damit befördert die Gelegenheit zur Partizipation auch die Bildungsprozesse ganz enorm - Partizipation fordert viele neue Bildungsprozesse heraus. Das ist einer der Gründe, warum Partizipation in den Bildungsprogrammen der Bundesländer zunehmend Beachtung findet.3
Partizipation braucht Respekt und Verankerung
Kinder zu respektieren, sich für ihre Weltsicht, ihren Eigensinn, ihre Ideen zu interessieren, mit ihnen auf Augenhöhe zu kommunizieren - das ist eine notwendige Voraussetzung von Partizipation. Das braucht die Fähigkeit der Fachkräfte, Kindern aktiv zuzuhören, sie zu ermutigen, ihre Weltsicht darzustellen, Kindergespräche zu moderieren und für unterschiedliche Interessen gemeinsam Lösungen auszuhandeln. Damit ist die Eröffnung von Partizipation zunächst eine Frage der Haltung und der methodischen Kompetenzen der pädagogischen Fachkräfte.
Die allein reicht allerdings nicht aus. Solange die Beteiligung der Kinder sich auf einen achtenden Dialog beschränkt, bleiben die Kinder in ihren Beteiligungsmöglichkeiten von der individuellen Entscheidung der Erwachsenen abhängig. Darauf, dass dies problematisch ist, hat schon Janusz Korczak hingewiesen: "Bis jetzt hing alles vom guten Willen und von der guten oder schlechten Laune des Erziehers ab. Das Kind war nicht berechtigt, Einspruch zu erheben. Dieser Despotismus muss ein Ende haben."4 Damit Kinder ihre Beteiligungsrechte auch unabhängig(er) von Erwachsenen wahrnehmen können, braucht es eine strukturelle Verankerung von Partizipationsrechten und -verfahren. Und damit sie ihre Rechte und die eingeführten Partizipationsverfahren nutzen können, müssen sie ihnen auch bekannt und jedem Kind individuell zugänglich sein.
Hier wird deutlich: Partizipation beginnt in den Köpfen der Erwachsenen. Zunächst müssen die pädagogischen Fachkräfte klären, welche Rechte sie den Kindern wie zugestehen wollen. So erleben die Kinder demokratische Verfahren in der Kita und lernen, diese zu nutzen. Dann können sie in Einzelfällen durchaus weitere Rechte einfordern.
Kita-Verfassung als demokratische Grundlage
Die nachhaltigste Möglichkeit der Verankerung von Partizipation bietet die Erarbeitung einer Kita-Verfassung, wie sie im Konzept "Die Kinderstube der Demokratie" beschrieben wird. Das Konzept wurde 2001 bis 2003 in einem Modellprojekt in Schleswig-Holstein entwickelt5 und 2008 bis 2010 in Nordrhein-Westfalen umgesetzt.6
Eine Verfassung bezeichnet die meist in einer Urkunde niedergelegte Grundordnung eines politischen Gemeinwesens. Eine Kita-Verfassung bezeichnet damit die schriftlich niedergelegte konkrete Grundordnung der Kindertageseinrichtung, in der die Inhalte und Verfahren der Beteiligungsrechte der Kinder geregelt sind. Im Konzept "Die Kinderstube der Demokratie" wird das Verfahren einer verfassunggebenden Versammlung beschrieben, in dem die Fachkräfte einerseits im Konsens möglichst konkret klären, welche Rechte die Kinder in der Einrichtung haben sollen, und andererseits die Verfahren und Gremien festlegen, in denen die Kinder diese Rechte einfordern können.7 Der Schwerpunkt in diesem Konzept liegt auf der Arbeit mit den pädagogischen Fachkräften. Erst wenn diese gemeinsam geklärt haben, wobei und wie sie Kinder mitentscheiden lassen wollen, und wissen, wie sich dies methodisch umsetzen lässt, können Kinder Beteiligung erfahren und ihre Beteiligungskompetenzen nach und nach erweitern.
Fortbildungen zur "Kinderstube der Demokratie"
Da Partizipation in den Köpfen der Erwachsenen beginnt, ist die Klärung unter den Erwachsenen über die Rechte der Kinder ein Schlüsselmoment von Partizipationsförderung. Dass Bildung der Kinder vor allem auf Aneignungsprozessen beruht, ist vielen Fachkräften geläufig. Dass das Gleiche auch für Bildung der Fachkräfte gilt, wird häufig vergessen. Um nachhaltig zu sein, müssen auch berufliche Fortbildungen der pädagogischen Fachkräfte Aneignungsprozesse anregen und begleiten. Die (Weiter-)Entwicklung der Partizipationsorientierung wird in Fachkräfteteams nur dann gelingen, wenn die Fachkräfte sich selbst beteiligen können und bereit und in der Lage sind, sich Partizipation als Thema und als Methode anzueignen.
Daher sind die Fortbildungen nach dem Konzept "Kinderstube der Demokratie" selbst partizipativ konzipiert: Die Fortbildung findet mit dem gesamten pädagogischen Team statt (manchmal ergänzt durch andere Fachkräfte, wie die Köchin oder den Hausmeister). Die Fortbildner(innen) führen in das Thema Partizipation ein und moderieren den Prozess. Sie planen mit den Teams ein Partizipationsprojekt oder erarbeiten mit ihnen eine Kita-Verfassung. Zu welchen Themen die Fachkräfte dann die Beteiligung der Kinder zulassen und erproben wollen, entscheidet das Fachkräfteteam selbst. Die Entscheidung über die Partizipationsinhalte und -verfahren bleibt bei den pädagogischen Fachkräften.
Die Fortbildungen bestehen aus drei Phasen:
- Einführung in das Thema Partizipation und Planung eines konkreten Partizipationsvorhabens (eines Partizipationsprojektes oder der Einführung einer Verfassung);
- Durchführung des Vorhabens (eines Partizipationsprojektes oder der Einführung einer Verfassung); hier können die Teams Unterstützung durch Coaching bekommen;
- Präsentation der Ergebnisse und Reflexion der Prozesse.
Partizipation erleichtert den pädagogischen Alltag
Kinder zu beteiligen ist ein Gewinn für Kinder - und für die Fachkräfte. Für die Kinder eröffnet Partizipation zahlreiche Bildungschancen, insbesondere auch zum Thema demokratisches Zusammenleben. Viele Fachkräfte berichten davon, dass ihre Arbeit dank Partizipation letztlich leichter geworden ist. Die Fachkräfte erledigen viele Dinge nicht mehr für die Kinder, sondern thematisieren Herausforderungen und Probleme als gemeinsame Aufgabe. "Was können wir denn da machen?" ist jetzt häufig die Schlüsselfrage. Aus ihr ergeben sich vielfältige Bildungsprozesse - für die Kinder und für die Erwachsenen.
Anmerkungen
1. Hansen, Rüdiger; Knauer, Raingard; Sturzenhecker, Benedikt: Die Kinderstube der Demokratie : Partizipation von Kindern in Kindertageseinrichtungen. In: TPS Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 2/2009, S. 46-50.
2. Vgl. Stenger, Ursula: Die Krippe als Bildungsort : Konzeptionelle Überlegungen und Beobachtungen. In: Staege, Roswitha; Schäfer, Gerd E.; Meiners, Kathrin (Hrsg.): Kinderwelten - Bildungswelten: Unterwegs zur Frühpädagogik. Berlin, 2010, S. 50-62.
3. Knauer, Raingard: In der Kinderstube der Demokratie : Engagement in Kindertageseinrichtungen. In: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Vorbilder bilden - Gesellschaftliches Engagement als Bildungsziel. Gütersloh, 2007.
4. Korczak, Janusz: Wie man ein Kind lieben soll. Göttingen, 1979, S. 304.
5. Hansen, Rüdiger; Knauer, Raingard; Friedrich, Bianca: Die Kinderstube der Demokratie : Partizipation in Kindertageseinrichtungen. Kiel, 2004.
6. Hansen, Rüdiger; Knauer, Raingard; Sturzenhecker, Benedikt: Kinder gestalten aktiv ihre Lebensumwelt. Modellprojekt des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf/Kiel, 2010.
7. Vgl. Hansen, Rüdiger; Knauer, Raingard; Sturzenhecker, Benedikt: Partizipation in Kindertageseinrichtungen : So gelingt Demokratiebildung mit Kindern! Weimar, Berlin, erscheint 2011; vgl. auch die DVD: Müller, Lorenz; Plöger, Thomas: Die Kinderstube der Demokratie : Wie Partizipation in Kindertageseinrichtungen gelingt. 32 Minuten, Kiel, 2008; sowie: Rehmann, Yvonne: Partizipation in Kindertageseinrichtungen : Zur Bedeutung von Verfassungen für den pädagogischen Alltag. Eine Evaluation (Masterarbeit), Kiel, 2010.
Weitere Informationen auf der Homepage des Instituts für Partizipation und Bildung: www.partizipation-und-bildung.de