"Ich bin nicht der Betreute, ich betreue"
Jeden Morgen klopft Ferdinand Herbeck (29) bei Georg Schön an und fragt freundlich, ob alles in Ordnung ist. Schön, ein rüstiger Senior, freut sich über den regelmäßigen Besucher. Meistens wechseln die beiden ein paar Worte, bevor Ferdinand Herbeck zur nächsten Wohnung weitergeht.
Georg Schön wohnt in einer der Seniorenwohnungen, die zum Altenzentrum Westphalenhof in Paderborn gehören. Die fürsorgliche morgendliche Kontaktaufnahme durch einen Mitarbeiter gehört zum Service, auf den die Bewohner Wert legen. "Mittlerweile könnte ich kaum darauf verzichten", sagt Georg Schön - vor allem, weil er Ferdinand Herbeck besonders schätzt. Der hat immer Zeit für ihn.
Ferdinand Herbeck ist eigentlich Beschäftigter der Schlosswerkstätten in Trägerschaft der Caritas Wohn- und Werkstätten Paderborn (CWW). Er arbeitet seit 2008 im Westphalenhof. Damals wechselte er als einer von elf Beschäftigten aus den Werkstätten auf einen "ausgelagerten Arbeitsplatz" im Westphalenhof.
Sie haben einen "ganz normalen" Arbeitsplatz
Auf diese Weise hat Ferdinand Herbeck auf Dauer einen "ganz normalen" Arbeitsplatz außerhalb des beschützten Arbeitsumfeldes in den Werkstätten gefunden. Das gilt auch für die anderen Beschäftigten, denn zurückgegangen ist kaum einer von ihnen. Zwei von ihnen sind allerdings auf andere ausgelagerte Arbeitsplätze gewechselt.
Obwohl die Beschäftigten nicht mehr unter dem Dach der Schlosswerkstätten arbeiten, gelten sie immer noch als Mitarbeiter und werden auch durch die Werkstätten begleitet und betreut. Im Westphalenhof ist dafür Heribert Jakobsmeyer zuständig. Als Fachkraft für Arbeit und Berufsförderung ist er der ständige Begleiter der elf Beschäftigten. Morgens schaut er bei jedem vorbei und bespricht, was der Tag bringt und wo es vielleicht Probleme gibt.
Dabei kommt er überall im Haus rum. Die Beschäftigten aus den Schlosswerkstätten arbeiten in allen Arbeitsbereichen: in der Küche und der Wäscherei genauso wie an der Rezeption oder im Technischen Dienst, in den fünf Wohnbereichen des Seniorenzentrums und im Sozialen Dienst.
Bei jedem Arbeitsplatz wird geschaut, ob er geeignet ist
Jeder dieser Arbeitsplätze wurde von Heribert Jakobsmeyer und Fachkräften aus dem Westphalenhof auf seine Eignung für die Beschäftigten aus den Schlosswerkstätten untersucht. Nach dem Anforderungsprofil der Stelle erfolgte die Auswahl unter den Interessenten. "Unsere Mitarbeiter dürfen auf keinen Fall eine Belastung für das Haus sein", sagt Heribert Jakobsmeyer, "vielmehr müssen sie eine Hilfe sein."
Genau das ist gelungen. Im Alltag sind die neuen Kollegen längst unverzichtbar geworden. "Sie besetzen wichtige Nischen im Arbeitsalltag, die wir sonst oft nicht ausfüllen könnten", sagt Josef Müller, der Geschäftsführer des Westphalenhofs. Da die Beschäftigten der Schlosswerkstätten zusätzlich und nicht als Ersatz für Mitarbeiter gekommen sind, bringen sie neue Zeitressourcen mit: Das bedeutet mehr Zeit für jeden Bewohner und es hebt die Qualität der Betreuung. "Die neuen Mitarbeiter werden von ihren Kollegen geschätzt und in die Arbeitsabläufe einbezogen", hat Josef Müller beobachtet, "und sie fühlen sich verantwortlich für ihren Arbeitsbereich."
Die Kalkulation stimmt
Weil die Kooperation im Westphalenhof so gut läuft, ist der Caritasverband für das Erzbistum Paderborn auf das Projekt aufmerksam geworden. Michael Brohl vom Referat Behindertenhilfe kann sich einen flächendeckenden Ausbau des Modells gut vorstellen. "Die Zusammenarbeit von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und Altenzentren oder anderen sozialen Einrichtungen ist ein gesellschaftlicher Auftrag", sagt er.
"Es muss klar sein, welche Vorteile die Bewohner und Träger von Altenhilfeeineinrichtungen haben", sagt Brigitte von Germeten-Ortmann, Leiterin der Abteilung Gesundheit und Altenhilfe im Diözesan-Caritasverband, mit dem Blick auf die engen Budgets der Altenheime: "Zusätzliche Kräfte im Bereich der Versorgung verbessern die Lebensqualität in Häusern, allerdings muss der finanzielle Aufwand für die Häuser berechenbar bleiben."
Für den Geschäftsführer des Westphalenhofs ist die Rentabilität kein Problem. "Natürlich hat man vorher alles durchgerechnet", sagt Josef Müller. Die Kalkulation passt auch deshalb, weil die Ausgleichsabgabe zu 50 Prozent mit den Kosten für die ausgelagerten Arbeitsplätze verrechnet werden kann.
Die Zusammenarbeit wird in einem Kooperationsvertrag geregelt. Die Tätigkeit im Partnerbetrieb ist eine Maßnahme der beruflichen Eingliederung und begründet kein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zwischen dem Westphalenhof und den Beschäftigten.
Die erbrachte Arbeitsleistung stellen die Schlosswerkstätten dem Altenzentrum in Rechnung. Grundlage dafür ist der marktübliche Lohn, der an dem Arbeitsplatz gezahlt wird und der sich um einen bestimmten Prozentsatz reduziert, je nach Beeinträchtigung. Darauf einigen sich die Partner nach einer Einarbeitungszeit. "Wir waren immer bereit, beim Thema ausgelagerte Arbeitsplätze in Vorleistung zu gehen", sagt Klaus-Heiner Kaufmann, Vorstand der CWW und Geschäftsführer des Bereichs Caritaswerkstätten im Erzbistum Paderborn, als Träger der Schlosswerkstätten und der Werkstätten St. Nikolaus.
Es profitieren alle
Die Innovationsbereitschaft zahlt sich aus. Mittlerweile arbeiten in beiden Werkstätten knapp zehn Prozent der Beschäftigten auf ausgelagerten Arbeitsplätzen - ein enormer Erfolg, der im Erzbistum Paderborn und im Landschaftsverband Westfalen-Lippe beispiellos ist.
Noch erfreulicher als die positiven Zahlen sind aber die Veränderungen, die die Beschäftigten erleben. Große Entwicklungsschübe wurden bei jedem von ihnen festgestellt. Und das ist für alle ein großer Schritt nach vorne.
"Das grundsätzlich andere an ausgelagerten Arbeitsplätzen ist, dass unsere Beschäftigten in dem neuen Arbeitsumfeld immer eine ,nichtbehinderte‘ Antwort bekommen", sagt Fachbegleiter Heribert Jakobsmeyer. "Sie werden anders gefordert und erhalten andere Reaktionen auf ihre Arbeit."
Das gelingt gerade im sozialen Mikrokosmos des Altenzentrums besonders gut. Im Umgang mit den Senioren tritt die eigene Beeinträchtigung in den Hintergrund, hat Heribert Jakobsmeyer beobachtet: "Unsere Beschäftigten merken: Ich bin nicht der Betreute, ich betreue. Das ist der große Unterschied."