Die Caritas - Expertin bei Krisen
Blicken wir heute mit den Augen der Caritas auf die Welt der Armen und der Armut, dann wird uns ganz schwindelig. Auch wenn es - dank der Millenniumsziele der UNO und dem Einsatz so vieler humanitärer und Entwicklungsorganisationen sowie einiger Staaten - gelungen ist, die Armut und den Hunger in der Welt wirksam zu bekämpfen und zu reduzieren, so müssen wir doch feststellen: Vieles bleibt noch zu tun. Diese Feststellung reicht aber nicht aus, um den eigentlichen Kern des Skandals der Armut und der Not zu treffen. Der eigentliche Skandal ist die Ungerechtigkeit. Die Armen dieser Welt werden übersehen, ignoriert. Man behandelt ganze Völker, ganze Staaten, ganze Gruppen von Menschen in dieser Welt als Gegenstände ökonomischen Interesses. Die Wirtschaft und ihre Interessen werden über die legitimen Anliegen und Rechte der Menschen im Süden gestellt. Der Süden ist schon lange keine geografische Einheit oder Beschreibung mehr: Die Grenzen zwischen Süden und Norden sind fließend geworden, haben sich gar verflüchtigt. Es gibt den Süden genauso im Norden, wie es den Norden im Süden gibt.
Die Ungerechtigkeit teilt die Menschen auf in jene, die zählen, und jene, die nicht zählen. Der Arbeitsmarkt und seine Globalisierung zeigen, wie Menschen gegeneinander ausgespielt werden. Die Produktion verlagert sich dorthin, wo billig und ohne internationalen Standard gearbeitet und produziert wird.
Es gilt die rücksichtslose Macht der Stärkeren
Die Armen werden heute weltweit ausgenutzt und müssen unter Bedingungen arbeiten, wie wir sie in den letzten Jahrhunderten hier in Europa gekannt haben. In Europa und in den Vereinigten Staaten möchte man so billig wie möglich die besten Produkte konsumieren. Die Arbeitsbedingungen im Süden erinnern an die Entfremdung, die Karl Marx bereits angeprangert hat. Wenn wir in Lateinamerika auf diese Zustände hinweisen, werden wir heute noch als Kommunisten beschimpft.
Unsere Welt wird vielfach nur noch von einer einzigen Idee bestimmt und dominiert: unbeschränktes Wachstum unter dem Primat der Wirtschaft. Eine Politik der Mitte wird oft zum Ausdruck der Orientierungslosigkeit. Konnte sich die Mitte zu früheren Zeiten noch vom Liberalismus einerseits und vom Kommunismus andererseits absetzen, so verliert sie sich heute häufig im Sog neoliberaler Strömungen, deren Ziel das "Haben" und nicht das "Sein" der Menschen ist. Folgerichtig machen Begriffe wie das Gemeinwohl, das "bonum commune", oftmals keinen Sinn mehr. Sie werden ersetzt durch Wörter wie "Interesse" und "Kraft des Stärkeren". Das Gespür als Gesellschaft zusammenzugehören, geht verloren.
Unser christliches Menschenbild schafft einen Kontrast zu diesem heute oft vorherrschenden Weltbild. Gott hat eine Welt der Vielfalt erschaffen. Darum ist das Christentum auf Gemeinschaft in der Vielfalt ausgerichtet. In seiner Sozialenzyklika Caritas in veritate von 2009 beschreibt Papst Benedikt XVI. dies wie folgt: Gemäß der christlichen Offenbarung "wird die Person nicht durch die Gemeinschaft der Menschen absorbiert beziehungsweise ihre Autonomie zunichte gemacht, wie es in den verschiedenen Formen des Totalitarismus geschieht. Vielmehr bringt die Gemeinschaft im christlichen Denken die Person weiter zur Geltung, da die Beziehung zwischen Person und Gemeinschaft der eines Ganzen gegenüber einem anderen Ganzen entspricht." (Civ, 53). Diese ganzheitliche Sicht auf die Person und auf die Gemeinschaft kann uns als Menschen und als Christen, aber auch als Caritas den Weg zeigen. Das Miteinander der Menschen in einer globalisierten Welt braucht über den aktuellen wirtschaftlichen Ausdruck hinaus einen politischen Ausdruck. Auch hier können wir Papst Benedikt XVI. folgen, wenn er von einer neuen subsidiarisch geordneten Weltautorität spricht. Sie deutet aber auch an, dass unser Engagement als Kirche und ihrer Caritas immer auch eine politische Dimension hat - im Sinne eines anwaltschaftlichen und sozialpolitischen Einsatzes für die Armen dieser Welt. Letztendlich geht es auch darum, die Armen in ihrer selbstbestimmten Teilhabe zu stärken und zu befähigen. Das schließt auch ihre politische Teilhabe ein.
Eine Wirtschaft ohne Grenzen schafft neue Grenzen
Die Wirtschaft hat sich über die Grenzen der Menschen und der Länder hinaus globalisiert, ohne dass die Politik hätte folgen können. Wir können sagen, dass die Politik heute auch nach der Finanz- und Wirtschaftskrise immer noch hinter der Wirtschaft herhinkt. Die wirtschaftlichen Kräfte gehen den Weg des geringsten Widerstandes.
Dabei lässt sich die Wirtschaft vom unbändigen Konsumdrang der Menschen in den Industrieländern leiten, wie das Beispiel der iPhones zeigt. Um ein möglichst billiges iPhone bekommen zu können, stört es niemanden, dass es in China hergestellt wird, wo Menschen oftmals unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten.
Es wäre zu einfach, die Wirtschaft als eine eigene Dynamik und Kraft darzustellen und zu verteufeln. Die Wirtschaft ist lediglich ein Instrument im Dienste der Menschen. Heute dient sie aber nicht allen Menschen gleich. Sie dient vor allem den Interessen derjenigen, die bereits viel haben. Die alten Mauern aus Stein werden durch neue Drähte, Gräben und Mauern ersetzt. Die Mauer zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten zeigt anschaulich, welchen Zweck diese neuen Mauern erfüllen. Sie trennen die Armen von den Reichen. Sie schützen die Reichen vor den Armen. Die Arbeitskraft und Kreativität der Armen wird schamlos ausgebeutet, um die Reichen dieser Welt weiter und besser zu bedienen.
In dieses Bild der neuen Grenzen passt unser Umgang mit den neuen Technologien. Auch sie dienen dem Interesse, die Armen von den Reichen fernzuhalten. Der Norden saugt den Süden aus. Zum Beispiel der Braindrain: Gerne bilden die Universitäten der Reichen talentierte Menschen aus dem Süden aus, um sie dann in ihre eigenen Systeme zu integrieren. Die Ausbeutung mit System kennt keine Grenzen und keine Scham.
Der Zusammenbruch des Finanzsystems vor zwei Jahren hat zur Genüge gezeigt, wem die Banken und die Wirtschaft verpflichtet sind. Als die Staaten herbeieilten, um mit ungeheuren Summen das Bank- und Wirtschaftssystem zu retten, taten sie dies vor allem, um die Ersparnisse vieler Kleinsparer und Kleinbesitzer zu schützen. Das war sicher auch richtig so. Dennoch sieht es heute so aus, als hätte die Wirtschaft das Heft wieder an sich gerissen.
Es scheint, als sei die Krise eine Ausnahme gewesen. Schon wieder werden hohe Gewinne gemacht und schon wieder werden trotz dieser hohen Gewinne weiterhin Arbeitsstellen abgebaut mit der Begründung, man müsse noch mehr Gewinne für die Aktionäre erzielen. Es ist erschütternd festzustellen, dass wir Menschen noch nicht aus der Krise der Finanzen und der Wirtschaft gelernt haben.
Die Kirchenkrise birgt die Pflicht zur Erneuerung
Auch die Kirche wurde nicht von ihren eigenen Krisen verschont. Die Missbrauchsskandale quer durch die Welt haben gezeigt, dass Priester, Ordensleute und Laien sich aufs Schwerste versündigt und ein krasses Gegenzeugnis ihres Glaubens abgelegt haben. Diese Krise und der Umgang mit ihr halten uns den Spiegel vor und warnen eindringlich vor Arroganz und Besserwisserei. Unsere Kirche muss sich von innen her selbst erneuern. Wir müssen die heißen Themen anpacken. Die Krise kann auch eine Chance zur Erneuerung sein, wenn wir es wagen, uns den Fragen wirklich zu stellen und neue Wege zu gehen. Es wäre ein erneutes, viel tieferes Versagen, wenn wir als Kirche nicht die Zeichen der Zeit erkennen würden. Dies ist eine Aufgabe aller Gläubigen. Als Bischöfe dieser Kirche müssen wir lernen, die Charismen der Gläubigen zur Mitgestaltung und Mitverantwortung mehr zu erkennen und wertzuschätzen. Als Volk Gottes sind wir berufen und herausgefordert, das Wirken Gottes in dieser Welt zu entdecken und Zeugnis abzulegen und uns nicht hinter Mauern und Kirchtürmen zu verstecken.
Als Kirche Christi sind wir zutiefst in der Welt und in der Menschheitsgeschichte verwurzelt. Heil und Unheil ereignen sich mitten unter uns. In diesem Bewusstsein, selber auch Sündige zu sein, lässt unser Glaube es trotz Versagen nicht zu, dass wir uns aus unserer Verantwortung für die Kirche und die Gesellschaft verabschieden. Und genau hier sehe ich in der Caritas einen Weg der Hoffnung und der Zuversicht.
Die Caritas ist der Weg des Menschen zum Menschen. Ihren Ursprung verdankt sie dem, der zuerst geliebt hat: Gott unser Vater. Es geht darum, das empfangene Geschenk weiterzureichen, im Wissen darum, dass Liebe nur durch Liebe weitergegeben werden kann, wie Papst Benedikt 2005 in seiner Enzyklika Deus caritas est schreibt: "Wer Liebe schenken will, muss selbst mit ihr beschenkt werden." (Dce, 7)
Die Caritas - Expertin für Krisen- und Grenzsituationen
Wie soll nun die Caritasarbeit in der Zukunft aussehen? Das Matthäusevangelium beschreibt im 25. Kapitel die sieben klassischen Werke der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, Tote bestatten. Der Erfurter Bischof Joachim Wanke stellte die sieben Werke der Barmherzigkeit anlässlich des 800. Geburtstags der Elisabeth von Thüringen 2006/2007 neu vor. Sie basieren auf einer Umfrage, welche Werke der Barmherzigkeit heute besonders notwendig seien. Das Ergebnis förderte Folgendes zutage:
- einem Menschen sagen: du gehörst dazu,
- ich höre dir zu,
- ich rede gut über dich,
- ich gehe ein Stück mit dir,
- ich teile mit dir,
- ich besuche dich,
- ich bete für dich.
In dieser Übersetzung der Werke der Barmherzigkeit zeigen sich neue Wege, wie Menschen in heutiger Not geholfen werden kann. Papst Benedikt XVI. hat recht, wenn er sagt, dass die Einsamkeit heute wohl eine der größten Formen der Not in unserer Welt ist. "Genau betrachtet haben auch die anderen Arten von Armut, einschließlich der materiellen Armut, ihren Ursprung in der Isolation, im Nicht-geliebt-Sein oder in der Schwierigkeit zu lieben." (Civ, 53)
In einer sich immer stärker individualisierenden Gesellschaft gehört das Ausgrenzen und Abgrenzen zu den eingespielten Mechanismen der Verarmung. Diese Mechanismen auch in den eigenen Einrichtungen und durch die Caritasdienste im Sozialraum zu durchbrechen, ist eine Aufgabe, an der die Caritas heute wachsen kann. Gesellschaftspolitisch wird es darum gehen, die soziale Exklusion zu bekämpfen. Die Teilhabeinitiative der Caritas greift diese Werke der Barmherzigkeit auf.
Die Caritas ist also mehr als ein Dienstleister "der ersten Hilfe". In ihrer Arbeit wird überaus deutlich, dass sie sich an den ganzen Menschen richtet und diesen in seiner Ganzheit wahrnimmt. Die neuen sieben Werke der Barmherzigkeit, wie sie von Bischof Wanke formuliert wurden, zeigen, dass es der Caritas immer um den Menschen geht, der leidet beziehungsweise der Befähigung bedarf. Das Leiden in heutiger Zeit hat sich verändert und wird sich weiter verändern. Die Caritas muss diesem Leiden auf der Spur bleiben, um die Menschen darin zu begleiten und ihnen neue Wege des Lebens aufzuzeigen.
Als Expertin für Lebenssituationen, die mit Scheitern, Benachteiligung, aber auch mit Befähigung und Aufbruch zu tun hat, kann sie vieles dazu beitragen, dass wir uns als Kirche für die Anliegen aller Menschen öffnen. Caritas ist Kirche. Durch Caritas können wir mehr Kirche im Sinne Jesu Christi werden. Alle, die sich unter dem Dach der kirchlichen Caritas engagieren, sind Botschafter(innen) des Evangeliums, ohne dies immer auf den Lippen zu führen. Sie brauchen die Unterstützung und Wertschätzung der ganzen Kirche und nicht den Vorwurf, dass sie nicht fromm oder kirchlich genug wären. Viele von ihnen sind zutiefst durch den Glauben inspiriert. Für andere, ob als Mitarbeiter(in) oder als Klient(in), ist das Engagement bei der Caritas ein Erfahrungsort des Glaubens, der Kirche.
Die Caritas hat viel Erfahrung mit Krisen. Krisen sind - laut griechischer Sprache - ja Entscheidungsmomente. Gerade in Krisen kommt es darauf an, den Blick zu heben und sich neue Perspektiven zu verschaffen oder alte wieder zurückzugewinnen. Die Caritas als empfangene Liebe Gottes braucht Hände, Herzen, Verstand, um die Krisenzeiten auszuhalten und als mögliche Wendepunkte für das neue Leben offenzuhalten. Wir glauben an die Befreiung des Menschen aus Leid und Not, weil unser Blick auf Christus und unser Glaube an den Schöpfer- und Erlösergott uns gelehrt haben: ubi caritas et amor, Deus ibi est - Wo Güte ist und Liebe, da ist Gott.
Anmerkung
Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag bei der Delegiertenversammlung des Deutschen Caritasverbandes in Trier im Oktober 2010.