Freie Wohlfahrtspflege weist auf Mängel in Sozialgesetzen hin
Seit nunmehr sechs Jahren gibt es ein gemeinsames Monitoring der Bundesregierung mit den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege (BAGFW).1 In regelmäßigen Gesprächen werden dort auf Staatssekretärs- und Generalsekretärsebene unbeabsichtigte Auswirkungen von Reformen in der Sozialgesetzgebung thematisiert, welche die Menschen betreffen, die existenzsichernde Leistungen beziehen und/oder ein niedriges Erwerbseinkommen haben. Auch im vergangenen Jahr haben die Verbände auf negative Auswirkungen von Sozialgesetzen hingewiesen und Lösungen vorgeschlagen.2
Eröffnet wurden die Gespräche in dieser Legislaturperiode mit einem Thema, das schon in den früheren Gesprächen vorgebracht worden war: unzureichende Beratung, lange Bearbeitungszeiten, unverständliche oder gar fehlerhafte Bescheide der Jobcenter. Diese Mängel führen häufig zu niedrigen Leistungen und als Folge zu Gerichtsverfahren. Dennoch sieht die Bundesregierung den Vorschlag der Wohlfahrtsverbände, Ombudsstellen für Hilfesuchende einzurichten, eher kritisch. Die gesetzliche Beratungspflicht und datenschutzrechtliche Probleme stünden dagegen, so die Antwort der Regierungsvertreter. Das Problem wird weiter von BAGFW und Regierung beobachtet.
Besprochen wurden auch die zum 1. April 2011 neu eingeführten Leistungen für Bildung und Teilhabe, die aus Sicht der BAGFW zum Teil unzureichend sind und in der praktischen Umsetzung einen unverhältnismäßigen bürokratischen Aufwand erfordern. Zuschüsse zu Vereinsbeiträgen werden im ländlichen Bereich oftmals nicht beantragt. Der Grund: Eltern oder Erziehungsberechtigte schicken ihre Kinder wegen zu hoher Fahrtkosten gar nicht in einen Verein. Die Bundesregierung kennt die Probleme und sucht in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe Lösungen, wie zum Beispiel ein vereinfachtes Antragsverfahren. In Bezug auf den Umfang der Leistungen sind dagegen keine Änderungen zu erwarten, auch nicht die Ausweitung der Lernförderung. Vielmehr sieht die Regierung hier auch die Länder und Kommunen in der Verantwortung, für entsprechende Angebote zu sorgen und zum Beispiel im Rahmen der Schülerbeförderung auch die Mobilität in der Freizeit abzudecken. Gesondert angesprochen wurde von der freien Wohlfahrtspflege die Öffnung des Bildungspaketes für Kinder im Asylbewerberleistungsgesetz. Die Bundesregierung will bis Ende 2011 Eckpunkte für eine Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes vorlegen.
Beratung für Geduldete soll besser werden
Breiten Raum nahmen die vielfältigen Problemanzeigen im Themenkomplex Ausbildung und Existenzsicherung ein. Jugendliche und junge Erwachsene, die SGB-II-Leistungen beziehen und dann eine Ausbildung beginnen, stehen mitunter vor dem Problem, dass ihr Lebensunterhalt oft mehrere Wochen oder gar Monate nicht gesichert ist. Bereits diese Problemeinschätzung wird in Berlin nicht geteilt, und es wird betont, dass die Grundsicherung ein nachrangiges System sei. Besonders belastend ist die Situation für bestimmte Gruppen von Ausländern, die wegen ihres Aufenthaltsstatus von Leistungen nach dem BAföG beziehungsweise SGB III und dem SGB II ausgeschlossen sind. Auch hier will die Regierung nichts ändern. Für Geduldete gelten seit 2009 gelockerte Bedingungen für den Zugang zu Arbeit und Ausbildung. Die Zugangszahlen sind trotzdem sehr niedrig. Die Bundesregierung will hier unter anderem im Rahmen ihres Aufsichtsrechts gegenüber der Bundesagentur für Arbeit (BA) dafür sorgen, dass diese ihre Beratungspflicht für Geduldete stärker wahrnimmt.
Auch in einem weiteren Punkt hat das Ministerium als Ergebnis des Sozialmonitorings die BA explizit auf die Rechtslage hingewiesen, dass nämlich für schwangere Frauen unter 25 Jahren, die noch bei ihren Eltern leben, bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II das Einkommen und Vermögen der Eltern nicht berücksichtigt werden darf. Denn trotz dieser eindeutigen Rechtslage fordern die Jobcenter immer wieder auch Angaben der Eltern.
Meinungsverschiedenheit besteht bei den Sanktionen
Die BAGFW fordert seit langem, die scharfen Sanktionsregelungen für junge Menschen unter 25 Jahren im SGB II zu streichen und insgesamt flexiblere Regelungen zu schaffen. Schwangere sollten grundsätzlich nicht sanktioniert werden. Hier zeigte sich die Bundesregierung hart und betont die Notwendigkeit, mittels Sanktionen Druck zu erzeugen. Im Übrigen könnten beide Gruppen durch eine Direktüberweisung der Miete an den Vermieter und durch Sachleistungen bereits jetzt vor Wohnungslosigkeit oder unzureichender Ernährung geschützt werden. Auch werde der Betreuungsschlüssel bei den Jugendlichen deutlich verbessert. Die Wohlfahrtsverbände wurden trotzdem eingeladen, problematische Fälle und empirisch gesicherte Sachverhalte auch unterjährig mitzuteilen.
Angesprochen wurde auch die Situation von ALG-II-Empfänger(inne)n, die sich kurzzeitig in einer Justizvollzugsanstalt befinden. Sie verlieren ihren Anspruch auf ALG II und können daher häufig ihre Wohnung nicht halten. Zuständig für die Absicherung der Miete ist in solchen Fällen der Träger der Sozialhilfe, der die nötige Information jedoch gar nicht erhält. Eine Lösung sieht die Regierung darin, dass die Beratungsstellen und die entsprechenden Beratungsstrukturen in den Vollzugsanstalten für dieses Problem sensibilisiert werden.
Verbände kämpfen weiter um ein Girokonto für Arme
Arbeitslohn und Miete, Telefonrechnungen und Versicherungsbeiträge: All das wird in der Regel über ein Girokonto abgewickelt. Viele Menschen in Deutschland haben aber keinen Zugang zum bargeldlosen Zahlungsverkehr, weil sie über kein Konto verfügen. Seit Mitte der 1990er Jahre wird zwar auf nationaler und europäischer Ebene über ein sogenanntes kostenloses Basiskonto diskutiert, eine gesetzliche Regelung existiert aber nicht. Sie ist bisher unter anderem am Widerstand der Bankenverbände gescheitert. Beim gemeinsamen Monitoring wurde zwar die Problemeinschätzung geteilt, im Gegensatz zur BAGFW hält die Regierung aber eine gesetzliche Lösung nicht für zwingend. Leider werden die Betroffenen in diesem Punkt auf unbestimmte Zeit vertröstet.
Als weiterer Themenkomplex wurde die darlehensweise Gewährung von Arbeitslosengeld II behandelt. Die freie Wohlfahrtspflege legte ihre Sorge dar, dass bei mehrfachen Darlehen (für neue Waschmaschine etc.) die Belastung zu hoch sei. Zur Tilgung der Darlehen wird monatlich ein Betrag vom Regelbedarf einbehalten. Auf Initiative der BAGFW stellte die Bundesregierung in der Ausführungsbestimmung der BA klar, das der Regelbedarf um insgesamt nicht mehr als zehn Prozent gekürzt werden darf. Auch die Neuregelung zu Darlehen über Mietkautionen wurde intensiv diskutiert. Nach neuer Rechtslage wird die Kaution nur dann vom Jobcenter darlehensweise übernommen, wenn das für einmalige Bedarfe (zum Beispiel eine neue Waschmaschine) angesparte und ansonsten geschützte Vermögen aufgebraucht ist. Zudem wird dieses Darlehen monatlich in Teilbeträgen mit dem Regelbedarf verrechnet, was zu einem längerfristigen Leben unterhalb des Existenzminimums führt. Das Ministerium sagte zu, die Regelung nochmals zu überdenken.
Kosten für Krankenversicherung bleiben ein Thema
Einen großen Schwerpunkt der Gespräche bildete der Krankenversicherungsschutz von Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen. Die 2007 in Kraft getretene Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung zog unmittelbar eine Pflicht zur Beitragszahlung nach sich, der insbesondere zwei Personengruppen nicht nachkommen können: Zum einen handelt es sich um 23- bis 24-jährige arbeitslose Jugendliche, die nach Vollendung ihrer Ausbildung noch im Haushalt der Eltern leben und arbeitslos sind. Je nach Höhe des elterlichen Einkommens kann es sein, dass die/der Jugendliche zwar kein Arbeitslosengeld II inklusive kostenfreier Krankenversicherung bekommt, die Eltern ihm gegenüber aber auch unterhaltsrechtlich nicht mehr verpflichtet sind, die Kosten der Krankenversicherung zu übernehmen. Eine ähnliche Problematik stellt sich für Wohnungslose, die bei Inkrafttreten der Versicherungspflicht mittellos waren, aber nicht im Bezug von Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II standen. Bei ihnen sind in dieser Zeit Beitragsschulden bei der Krankenkasse aufgelaufen, die sie nicht begleichen können. Bis zur vollständigen Tilgung haben sie nur einen eingeschränkten Versicherungsschutz. Die Bundesregierung zeigte im Falle der jungen Erwachsenen keine Bereitschaft, dieses Problem in der Krankenversicherung zu lösen. Allerdings äußerte sie Verständnis für die Situation von Wohnungslosen und bat die BAGFW um die Einbeziehung des Patientenbeauftragten in dieser Angelegenheit.
Schulden durch Krankenversicherung - was wird daraus?
Schließlich stellte die BAGFW die besondere Problematik von Landwirten dar, die ergänzend Arbeitslosengeld II beziehen. Aufgrund einer uneindeutigen Gesetzeslage sind sie derzeit gezwungen, bei Bezug von ALG II ihre Beiträge zur Krankenversicherung der Landwirte aus dem Regelbedarf weiterzubezahlen. Hier ist ein höchstrichterliches Urteil angekündigt, das die Bundesregierung abwarten will. Eine ähnliche Problematik stellte sich bis zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 19. Januar 2011 auch für privat versicherte Bezieher von Arbeitslosengeld II. Die Jobcenter zahlten nicht den vollen Versicherungsbeitrag für den Basistarif, sondern nur den Betrag, den sie auch für gesetzlich Krankenversicherte abführten. Da dieser Fehlbetrag mehr als die Hälfte des Regelbedarfs ausmachte und folglich für die Betroffenen nicht finanzierbar war, liefen auch hier monatlich Beitragsschulden an. Nachdem das Bundessozialgericht (BSG) entschieden hatte, dass das Jobcenter die Beiträge in voller Höhe übernehmen muss, drängte die BAGFW im Sozialmonitoring darauf, auch eine Lösung für die Altschulden zu finden. Die Bundesregierung sagte dies zu. In der Zwischenzeit in Auftrag gegebene Rechtsgutachten äußerten jedoch Zweifel daran, ob ein Schuldenerlass für bereits bestandskräftige Fälle überhaupt möglich ist. Eine Regelung zur Übernahme der laufenden Beiträge durch die BA soll nun kommen, liegt aber noch nicht vor.
Als weitere besondere finanzielle Belastung für ALG-II-Bezieher thematisierte die BAGFW schließlich den Zusatzbeitrag, den diese Personen in voller Höhe aus dem Regelbedarf zu tragen hätten. Nicht jedem sei ein Wechsel zu einer Kasse ohne Zusatzbeitrag möglich, insbesondere den Menschen nicht, die an einer integrierten Versorgung teilnehmen oder für die wegen besonderer Lebensumstände ein Wechsel unzumutbar ist. Die Bundesregierung sagte zu, bei diesen Personengruppen über eine Lösung nachzudenken.
Auch Gesundheitsvorsorge bleibt ein Thema
Neben dem Krankenversicherungsschutz wurde auch die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit niedrigem Einkommen thematisiert. Für Menschen, die regelmäßig auf nicht verschreibungspflichtige Medikamente angewiesen sind, gibt es nach Ansicht der freien Wohlfahrtspflege noch keine befriedigende Lösung. Die im SGB II vorgesehene Härtefallregelung deckt diese Bedarfe nur in Ausnahmefällen ab. Dem Vorschlag, dass diese Medikamente grundsätzlich wieder zulasten der Krankenversicherung verordnet werden dürften, stand die Bundesregierung ablehnend gegenüber. Man beobachte aber die Rechtsprechung und stelle den Härtefallkatalog immer wieder auf den Prüfstand, so die Zusage der Regierung. Schließlich wies die freie Wohlfahrtspflege darauf hin, dass es zum Beispiel in Thüringen vermehrt vorkomme, dass Asylbewerber, Geduldete und Menschen mit einem Aufenthaltstitel "aus humanitären Gründen" keine zahnerhaltende Therapie erhalten, sondern ihnen die Zähne direkt gezogen werden. Die Bundesregierung sagte zu, hier nachzuhören und gegebenenfalls die zuständigen Landesbehörden um die Einhaltung der Gesetzeslage zu bitten.
Die vielfältigen Problemlagen zeigen, wie dringend es ist, regelmäßig mit hochrangigen Vertretern der Bundesregierung ins Gespräch zu kommen, diese für konkrete Probleme von armutsgefährdeten und armen Menschen zu sensibilisieren und auf ihre Verantwortung für sie hinzuweisen. Das Sozialmonitoring bietet hierfür einen guten Rahmen. Auch im kommenden Jahr wird die Caritas hierfür geeignete Themen benennen und ist für jeden Hinweis aus der Arbeit der diözesanen und örtlichen Caritasverbände sowie der Fachverbände mit den Betroffenen dankbar.
Anmerkungen
1. Zu den Ergebnissen aus den Gesprächen der letzten Legislaturperiode vgl. Becker, Thomas; Schwengers, Clarita: Sozialmonitoring zeigt Wirkung. In: neue caritas Heft 5/2009, S. 27-30.
2. Vgl. Schwengers, Clarita: Mehr Angebote für Alleinerziehende. In: neue caritas Heft 9/2011, S. 5.