Ein Bildungspaket, das kaum einer auspackt
In der Praxis zeichnet sich ab, dass die Ausgestaltung des Bildungs- und Teilhabepakets als Sachleistung nicht zielgruppen- und bedarfsgerecht konzipiert ist. Nach Angaben der kommunalen Spitzenverbände haben bis Ende Juni 2011 nur zwischen 27 und 30 Prozent der berechtigten Familien die Hilfen beantragt.2
Als wäre der umfangreiche Antrag für SGB-II-Leistungen nicht kompliziert genug, müssen nun für die Leistungen aus dem Bildungspaket weitere Anträge gestellt und diese teilweise - zum Beispiel für den Bedarf an Lernförderung - durch eine Bestätigung der Schule belegt werden. Diese bürokratischen Hürden und die damit verbundene Gefahr der Stigmatisierung von Kindern als SGB-II-Empfänger erschweren vielen Familien den Zugang zu den Leistungen.
Caritas-Umfrage im Bistum Rottenburg-Stuttgart
Erschwerend für die Umsetzung des Bildungspakets wirkt zudem, dass es für Kinder aus einkommensschwachen Familien bereits vielfach freiwillige kommunale Leistungen gibt: vor allem Vergünstigungen oder Zuschüsse für Sport-, Freizeit- und Bildungsangebote oder bei der Schulverpflegung. Dies bestätigt eine Erhebung bei Mitarbeiter(inne)n der Caritas in den 25 Stadt- und Landkreisen der Diözese Rottenburg-Stuttgart (ohne die Stadt Stuttgart). Dort gab es zum Stichtag 15. Juni 2011 in fast allen Kommunen vergleichbare Leistungen in ähnlichem Umfang. Aktuell ist an vielen Orten (55,6 Prozent) der Diözese noch nicht entschieden, was mit den Freiwilligkeitsleistungen zukünftig geschieht. Man wartet hier teilweise die Haushaltsberatungen für 2012 ab. Nur rund ein Drittel der kreisfreien Städte und Landkreise hat die Absicht, die Freiwilligkeitsleistungen vorerst weiterhin zusätzlich anzubieten.
Seitens der Caritas besteht die Sorge, dass zukünftig die Bundesmittel vorrangig in den Fokus genommen und die Freiwilligkeitsleistungen zurückgefahren werden, wie es auch ein Sozialdezernent formuliert. Dies wäre umso bedauerlicher, als es vielfach gelungene Beispiele für deren Umsetzung gibt, wie beispielsweise die "FamilienCard" und die "BonusCard" in Stuttgart oder die "Tübinger Kindercard".
Die Caritas-Umfrageergebnisse zur Inanspruchnahme des Bildungspaketes decken sich in etwa mit den Zahlen der kommunalen Spitzenverbände.
Zur Auswahl standen folgende Antworten: Inanspruchnahme durch weniger als 20 Prozent, weniger als 50 Prozent, mehr als 50 Prozent, bis zu 90 Prozent der Berechtigten sowie "keine Aussage möglich". Nach Einschätzung der Befragten werden die Lernförderung, die Mittagsverpflegung und die Teilhabeleistungen im Bereich der Freizeit überall von weniger als 50 Prozent in Anspruch genommen, wobei über ein Drittel aller Befragten zum jetzigen Zeitpunkt keine Aussage treffen konnte. Allein bei der Schülerbeförderung gibt es einzelne Aussagen für eine Nutzung von bis zu 90 Prozent. Aber auch hier konnte über ein Drittel aller Befragten keine Aussage treffen.
Als Gründe für die geringe Inanspruchnahme der Leistungen nennen die befragten Caritas-Mitarbeiter(innen): Viele Familien sind über ihre Ansprüche nicht informiert oder verstehen den Umgang mit der Antragsstellung nicht. Dies mag aber auch an den Kommunen liegen, die die Antragsstellung zum Teil unnötig kompliziert gestalten. So wurde in einem Landkreis ein aufwendiges Anforderungsformular für Unterlagen zur Beantragung der Leistungen des Bildungspakets an die betroffenen Familien verschickt.
Trotzdem lautet die Tendenz: Die Anzahl der Anträge nimmt deutlich zu. Dies lässt hoffen, dass die bislang zögerliche Nachfrage nicht nur auf Akzeptanz-, sondern auch auf allgemeine Anlaufschwierigkeiten zurückzuführen ist.
Bildungspaket - Gutscheine statt Geldleistung
Anlass der gesetzlichen Neuregelung war die harsche Kritik des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) an der bisherigen Regelsatz-Berechnung, insbesondere der "völlige Ermittlungsausfall im Hinblick auf den kinderspezifischen Bedarf"3, wodurch hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen droht. Ein menschenwürdiges Existenzminimum im Sinne der höchstrichterlichen Vorgaben sichert nicht nur die physische Existenz, sondern ermöglicht auch ein Mindestmaß an sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe.
Als erste Antwort darauf wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) Ende Oktober 2010 die Einführung einer sogenannten Bildungs-Chipkarte angekündigt. Mit ihr sollte hilfebedürftigen Kindern zielgenau ermöglicht werden, verschiedene Bildungs- und Teilhabeleistungen abzurufen. Politisch war die Karte aber nicht durchsetzbar. Da seitens des BMAS jedoch Geldleistungen abgelehnt wurden, um die Möglichkeit der Zweckentfremdung durch die Eltern zu verhindern, wurden die Leistungen des Bildungspakets bis auf den Schulbedarf und die Schülerbeförderung entweder als Gutscheine oder als Direktzahlung des Jobcenters an den Leistungserbringer (zum Beispiel an den Nachhilfelehrer oder an den Sportverein) ausgestaltet.
Zu viel Bürokratie
Ob die Ausstellung von personalisierten Gutscheinen im Zeitalter der Informationstechnologie eine zeitgemäße Lösung ist, erscheint zweifelhaft. Zumindest ist es eine dauerhaft teure Form der Leistungsgewährung.
Zunächst müssen die Kommunen aufwendig eine Angebotsstruktur aufbauen, um zu gewährleisten, dass die Gutscheine für die schulischen Angebote oder die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben bei geeigneten Leistungsanbietern oder den Kommunen direkt eingesetzt werden können. Unterschiedliche Ausgangspositionen in den Kommunen verhindern dabei ein einheitliches Umsetzungsverfahren. Hier sind unnötige Verwaltungskosten zu erwarten, die durch kostenaufwendige Umschichtungen von bisherigen Freiwilligkeitsleistungen in das Bildungspaket entstehen. Zudem muss dauerhaft personalintensiv4 über jeden Antrag entschieden werden. Kostengünstigere Pauschalzahlungen an die Schulen, beispielsweise für den Zuschuss zum Schulmittagessen, sind nicht vorgesehen. Insgesamt bemängeln auch viele Stadt- und Landkreise selbst den hohen bürokratischen Aufwand.
Damit wird ein erheblicher Teil der Kosten für das Bildungspaket die betroffenen Kinder nie erreichen. Laut Steuerzahlerbund werden für Leistungen im Wert von 790 Millionen Euro zusätzliche Bürokratiekosten von 136 Millionen Euro veranschlagt.4 Der politische Anspruch, das Geld so einzusetzen, dass es direkt bei den Kindern ankommt, ist damit verfehlt.
Der bürokratische Aufwand betrifft aber nicht nur die Kommunen. Eine nicht zu unterschätzende Hürde dürfte für manche Familie bereits das Antragserfordernis sein: Dabei geht es nicht nur um die Erreichbarkeit von Personen, die - sei es aus Unkenntnis ihrer Rechtsansprüche oder in einzelnen Fällen auch aus Desinteresse - die Leistungen nicht geltend machen. Sondern viele Leistungsberechtigte sind (oder fühlen sich) schlicht mit der Antragstellung und ihrem bürokratischen Aufwand überfordert. Mit der Einführung der Leistungen wurden keine Konzepte entwickelt, wie deren Zielgruppe erreicht werden kann.
Furcht vor Stigmatisierung
Es wird aber auch Familien geben, die zwar den bürokratischen Aufwand nicht scheuen, aber aus Furcht vor Stigmatisierung unter keinen Umständen offenbaren wollen, dass sie im SGB-II-Bezug sind.
In der Rechtsprechung ist grundsätzlich anerkannt, dass Sozialleistungen auch in Form von Sachleistungen erbracht werden dürfen. Dies hat auch das BVerfG in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 für die Grundsicherungsleistungen bestätigt.5 Der/die Leistungsberechtigte darf durch die Sachleistung aber nicht als Sozialhilfeempfänger(in) stigmatisiert werden. Dies wäre mit dem Grundrecht der Menschenwürde nicht vereinbar.
Rechtlich bedenklich ist daher eine Ausgestaltung des Regelbedarfs, bei der sich der Hilfeempfänger täglich und gegenüber jedermann als Sozialhilfeempfänger zu erkennen geben muss.6 Insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit erscheint es daher problematisch, wenn sich Kinder für einen Schulausflug im Wert von nur wenigen Euro gegenüber der Schule als SGB-II-Bezieher offenbaren müssen. In Stadtteilen wie beispielsweise in einigen Berliner Bezirken, wo viele Menschen im SGB-II-Bezug leben, mag dies unproblematisch sein. Manche Familie aus einem eher bürgerlichen Umfeld wird aber eher auf einen berechtigten Anspruch verzichten, als zu riskieren, dass ihre Kinder ausgegrenzt werden. Dies umso mehr, wenn für die einzelnen Leistungen aus dem Bildungspaket verschiedene Ansprechpartner in der Schule zuständig sind: beispielsweise der Klassenlehrer für den Schulausflug, die Schulverwaltung für die Teilnahme an der Schulverpflegung und der Fachlehrer für die Bestätigung der Lernförderung.
Ob die Ausgestaltung der Leistungen die Grenze zur Stigmatisierung überschreitet, wird wohl zukünftig die Sozialgerichte beschäftigen.
Selbst dann, wenn Bedenken oder Scham überwunden und die Leistungen des Bildungspakets in Anspruch genommen werden, entstehen beispielsweise durch eine Mitgliedschaft im Sportverein oder für die Teilnahme am Musikunterricht zusätzliche Kosten. So sind Ausgaben für Sportbekleidung oder für ein Musikinstrument ebenso wenig in den neu berechneten Regelbedarfen berücksichtigt wie die Kosten für zusätzliche Beförderung oder für die gern gesehene Kuchenspende zum Sommerfest oder zur Weihnachtsfeier. Für Kinder und Jugendliche bleiben die Regelbedarfe unverändert.
Fragwürdige Bedarfsberechnung
Lediglich für Erwachsene wurde der Regelbedarf um monatlich fünf Euro erhöht und beträgt nun 364 Euro für einen alleinstehenden oder alleinerziehenden Erwachsenen. Allerdings wurde bei der Neuberechnung nicht nur die Referenzgruppe der untersten 20 Prozent der Einkommen aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 auf die untersten 15 Prozent abgesenkt. Zusätzlich wurden einzelne Ausgabepositionen zum Beispiel für Alkohol und Tabak in Höhe von rund 20 Euro7 nicht mehr berücksichtigt. Diese Kürzung trifft auch diejenigen, die keinen Alkohol trinken oder nicht rauchen. Wer bisher seine Lebensmittelausgaben mit den nicht entstehenden Ausgaben für Alkohol und Tabak subventioniert hat, geht nun leer aus.
Ausgaben, die nicht nur die physische Existenz sichern, sondern auch ein Mindestmaß an gesellschaftlicher und sozialer Teilhabe gewähren, sind durch solche Kürzungen stark eingeschränkt. Gemessen am mittleren Einkommen in Deutschland ist das Einkommen der aktuellen Referenzgruppe mit 843 Euro8 knapp über der Armutsgefährdungsschwelle der EU-Definition, die mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung bundesweit bei 801 Euro liegt (vgl. Abb. 1). Auch die Vereinten Nationen äußern in ihrem aktuellen Staatenbericht vom Mai 2011 ihre Besorgnis darüber, ob die Regelsätze der Grundsicherung einen angemessenen Lebensstandard gewährleisten, und kritisieren, dass annähernd 2,5 Millionen Kinder in Deutschland unterhalb der Armutsgrenze bleiben.
Insbesondere in Bundesländern mit einem hohen Preisniveau, wie zum Beispiel Baden-Württemberg, bleibt die finanzielle Situation für Menschen im SGB-II-Bezug weiterhin schwierig.
Situation in Baden-Württemberg
In Baden-Württemberg leben 5,4 Prozent aller Einwohner unter 65 Jahren in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften. Das sind fast eine halbe Million Menschen. Über 150.000 davon sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.9
In Baden-Württemberg gilt derjenige als arm, der als Alleinstehender weniger als 871 Euro pro Monat zur Verfügung hat (vgl. Abb. 1). Das heißt, im Vergleich zum bundesweiten Durchschnitt von 801 Euro ist man in Baden-Württemberg auch mit einem höheren Einkommen armutsgefährdet. Besser stellt sich die Situation in Nordrhein-Westfalen und Sachsen dar.
Für die Neufestsetzung der bundesweiten Regelsätze wurde also eine Referenzgruppe zugrunde gelegt, die bezogen auf Baden-Württemberg ein durchschnittliches Monatseinkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle bezieht.
Eine Ursache: In Baden-Württemberg sind die Einkommen generell höher. So war Baden-Württemberg von 1991 bis 2009 (aktuellster Wert) nach Hamburg und Bremen das Bundesland mit dem dritthöchsten Einkommen je Einwohner.10 Wenn man durchschnittliche Konsumausgaben von Alleinlebenden den Ausgabepositionen im Regelbedarf gegenüberstellt, zeigt sich ein prekäres Bild.
Anhand der Konsumausgaben (vgl. Abb. 2) lässt sich zeigen, dass ein SGB-II-Empfänger in Baden-Württemberg tatsächlich nur rund 35 Prozent dessen zur Verfügung hat, was ein alleinlebender Verdiener im Land durchschnittlich pro Monat ausgibt. Bei den Lebensmitteln sind es immerhin rund 71 Prozent, bei der Freizeitgestaltung (soziale/kulturelle Teilhabe) lediglich circa 25 Prozent. In Nordrhein-Westfalen und Sachsen sind es bei den Konsumausgaben immerhin rund 37 Prozent beziehungsweise 43 Prozent.
Diese Zahlen werfen die Frage auf, ob regionale Unterschiede bei der Lebensführung im Interesse einer gerechten Existenzsicherung und Teilhabe im Regelbedarf zu berücksichtigen sind. Das SGB II und XII eröffnet die Möglichkeiten hierfür durch einen länderspezifischen Regelbedarf.
Fazit
Weder das Bildungspaket noch die aktuelle Regelsatzerhöhung sind geeignet, die Bildungs- und Teilhabechancen für Kinder und allgemein die Lebensbedingungen für SGB-II-Empfänger(innen) wesentlich zu verbessern. Die Armutsgefährdung im SGB-II-Bezug ist vor allem in Bundesländern mit einem hohen Preisniveau weiterhin erheblich.
Für das Bildungspaket hat auch die Politik den Nachbesserungsbedarf erkannt. In einem Spitzengespräch von Bund, Ländern und Kommunen Ende Juni 2011 wurden Maßnahmen beschlossen, um die fehlende Nachfrage beim Bildungspaket zu erhöhen. Unter anderem sollen das Antragsverfahren vereinfacht11 und die Gründe für die fehlende Akzeptanz untersucht werden. Diese Überlegungen hätten im Vorfeld der Reform stehen müssen. Besonders Kinder leiden unter der Armut ihrer Familien, denn Armut stellt für sie einen "Mangel an fundamentalen Entwicklungsmöglichkeiten"12 dar. Bislang hängt der Bildungserfolg in Deutschland immer noch entscheidend von der sozialen Herkunft ab. Um dies zu ändern, bedarf es grundlegender Veränderungen, insbesondere unbürokratischer, zielgruppenspezifischer und stigmatisierungsfreier Bildungs- und Teilhabeleistungen. Diese Chance hat der Gesetzgeber mit der Hartz-IV-Reform vertan.
Anmerkungen
1. Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch.
2. Süddeutsche Zeitung vom 29.6.2011, "Hilfen für Familien leicht gemacht".
3. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2011, Absatz-Nr. 146.
4. www.handelsblatt.com vom 5.2.2011, "Steuerzahlerbund warnt vor Leyens Kostenlawine".
5. BVerfG, a.a.O., Absatz-Nr. 138.
6. Rothkegel, Ralf: Sozialhilferecht, Teil III, Kapitel 3, Rdnr. 48 ff. m.w.N.
7. www.sueddeutsche.de vom 25.9.2010, "Für eine Handvoll Euro".
8. Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung: Chronik der Arbeitsmarktpolitik, "Bildungspaket und Regelsätze".
9. Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Länderreport Baden-Württemberg, Stand Februar 2011.
10. Statistische Ämter des Bundes und der Länder; unter: www.statistik.baden-wuerttemberg.de/Arbeitskreis_VGR/tbls/tab14.asp
11. Süddeutsche Zeitung vom 29.6.2011, ebd.
12. Ifas 2009: "Die Menschen hinter den Zahlen. Arme Kinder und ihre Familien in Baden-Württemberg", S.16.
13. Eigene Übersicht unter Verwendung von Zahlen der Bundesagentur für Arbeit und der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder.
14. Eigene Übersicht unter Verwendung von Daten der Statistischen Landesämter Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen sowie der Angaben aus dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch.