Stiefkind Eingliederungshilfe
In der stationären Eingliederungshilfe hat sich in den letzten zehn bis 15 Jahren die Klientel deutlich verändert. Aus verschiedenen Gründen, die hier nicht erörtert werden sollen, nimmt die Zahl der älteren Menschen mit einer Behinderung, aber auch die Zahl der Bewohner(innen) mit sehr schweren Behinderungen und mit besonderem Pflegebedarf kontinuierlich zu. Mittlerweile ist ein erheblicher Teil der Bewohner(innen) in der stationären Eingliederungshilfe im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes als pflegebedürftig eingestuft und hat grundsätzlich Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung. Allerdings gibt es in Bezug auf den Leistungsumfang bis heute eine wesentliche Ungereimtheit: Das Gesetz der sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) trat am 1. Januar 1995 in Kraft. So lange besteht auch das bis heute nicht gelöste Problem des Verhältnisses der Pflegeversicherung zur stationären Eingliederungshilfe. Vor der Beschreibung des Problems zunächst einige Erläuterungen:
Die stationäre Eingliederungshilfe ist im Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) - Sozialhilfe - geregelt. Das SGB XII unterscheidet zwei Formen der Hilfeleistung:
- die Eingliederungshilfe (§§ 53-56), deren Aufgabe es ist, Behinderungen oder Behinderungsfolgen zu beseitigen oder zu mildern und insbesondere die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, die aber auch Bedarfe im Bereich der Pflege beinhaltet;
- die Hilfe zur Pflege (§§ 61-66), die sich insbesondere auf die Hilfebedürftigkeit bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des Alltags und den Bereich der Pflege bezieht.
Das SGB XI unterscheidet bei den vollstationären Hilfen, ob sie in anerkannten Pflegeeinrichtungen oder in Einrichtungen der Eingliederungshilfe geleistet werden. Genauer gesagt, sind die §§ 61-66 SGB XII komplementär zum § 43 SGB XI und die §§ 53-56 SGB XII komplementär zum § 43a SGB XI.
Im ambulanten Bereich kennt das SGB XI diese Unterscheidung nicht. Jeder, der pflegebedürftig im Sinne des SGB XI ist, erhält die vollen Leistungen der §§ 36 ff., unabhängig davon, ob er/sie Leistungen der Eingliederungshilfe bezieht oder nicht.
Finanzieller Fehlanreiz zulasten der Eingliederung
Die Leistungen des SGB XI nach § 43 sind deutlich höher als die Leistungen nach § 43a. Dies bedeutet, dass Pflegebedürftige, die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung in einer vollstationären Einrichtung beziehen, wesentlich weniger Leistungen erhalten als Pflegebedürftige in einer vollstationären Pflegeeinrichtung oder im ambulanten Bereich.
Konkret beträgt die Differenz derzeit bei
- Pflegestufe 1: 767 Euro,
- Pflegestufe 2: 1023 Euro und bei
- Pflegestufe 3: 1254 Euro pro Monat.
Da im Bereich der Eingliederungshilfe nur ein geringer Anteil von Selbstzahlern unterstützt wird, gehen diese Differenzen in den meisten Fällen zulasten der zuständigen Sozialhilfeträger. In den meisten Bundesländern sind überörtliche, in einigen Bundesländern aber auch örtliche Sozialhilfeträger gefordert, je nach sachlicher Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe. Um die Leistungen der Pflegeversicherung in voller Höhe auszuschöpfen, sind die Sozialhilfeträger versucht, Menschen mit Behinderung aus der Eingliederungshilfe zu drängen und zu "Fällen" der Hilfe zur Pflege zu machen, Wohnhäuser der Eingliederungshilfe in Pflegeeinrichtungen umzuwandeln oder sogenannte Fachpflegeheime aufzubauen.
Willkürliche Abgrenzungen
Die Praxis sieht in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich aus: Der am meisten angewandte Versuch besteht darin, zu behaupten, dass Menschen mit Behinderung, die älter als 65 Jahre sind, keinen Bedarf an Eingliederungshilfe mehr hätten. Gute und aktivierende Pflege im Rahmen der Hilfe zur Pflege reiche aus, um die Bedürfnisse nach einer angemessenen Lebensführung und Partizipation sicherzustellen. In den Sozialgesetzen ist jedoch nirgends eine Altersgrenze für den Bedarf an Eingliederungshilfe benannt. Diese Grenze ist rein willkürlich gezogen worden und auch inhaltlich nicht begründbar. Eine Ausnahme ist die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung im Arbeitsbereich einer Werkstätte für behinderte Menschen. Hier wurde durch die Gerichte klargestellt, dass die Altersgrenze für die Eingliederung ins Arbeitsleben analog zur Regelaltersgrenze in der Rentenversicherung zu sehen ist.
Ein weiterer Versuch ist, zu behaupten, dass sehr schwerbehinderte Menschen keinen Teilhabebedarf hätten oder nicht teilhabefähig seien, somit reiche die Hilfe zur Pflege aus. Auch diese Behauptung wird durch häufige Wiederholung nicht wahrer.
Die praktische Umsetzung läuft wie erwähnt über zwei Schienen: entweder über den Einzelfall oder über die Strukturveränderung ganzer Einrichtungen. Letzteres beinhaltet auch die Nichtgenehmigung weiterer, zum Teil dringend benötigter Plätze in der Eingliederungshilfe. Konkret heißt das, dass Träger gesagt bekommen, sie könnten gerne ein neues Haus bauen beziehungsweise neue Plätze schaffen oder bestehende Plätze sanieren, aber nicht unter dem Titel Eingliederungshilfe, sondern unter der Fahne der Hilfe zur Pflege beziehungsweise des § 43 SGB XI.
Fragwürdige Konstruktionen
Die Praxis hat noch eine weitere strukturelle "Lösung" entwickelt, die sogenannte Binnendifferenzierung. Diese wurde in einigen Wohnhäusern der Eingliederungshilfe bereits umgesetzt. Dabei schließt der Einrichtungsträger erstens eine Leistungsvereinbarung mit dem Träger der Eingliederungshilfe ab und zweitens gleichzeitig mit dessen Billigung einen Versorgungsvertrag im Sinne des § 43 SGB XI. Dadurch hat der/die Bewohner(in) einen Anspruch auf die höheren Sachleistungen nach § 43 SGB XI anstelle der in für Einrichtungen der Eingliederungshilfe vorgesehenen maximalen Pauschale von 256 Euro pro Monat. Der Sozialleistungsträger leitet die Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz direkt auf sich über. Der Träger der Einrichtung rechnet nach dem Bruttoprinzip mit dem Sozialhilfeträger ab. Somit bleibt die Eingliederungshilfeeinrichtung in Bezug auf die Vergütungsabrechnung (nahezu) unangetastet. Der Sozialhilfeträger oder auch der Bewohner - wenn er Selbstzahler ist - erhält die vollen Leistungen nach § 43 SGB XI.
Ein eigenwilliger Weg, der für den Leistungsträger massive finanzielle Vorteile, für die Einrichtung aber auch klare Nachteile hat: beispielsweise die Pflicht zum Vorhalten einer Pflegedienstleitung sowie einer Nachtwache anstelle von Nachtbereitschaft, eingeschränkte Hilfsmittelversorgung über die Krankenkasse/Pflegekasse, Überprüfung der Einrichtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen einschließlich dessen Dokumentationsvorgaben sowie Veränderungen in der Personalauswahl: Heilerziehungspfleger(innen) sind im Verständnis der Pflegekassen im stationären Bereich keine Fachkräfte. In binnendifferenzierten Gruppen können sie deshalb nur eingeschränkt eingesetzt werden, womit die zutreffendste Berufsgruppe der Eingliederungshilfe von pflegeorientierten Berufen verdrängt wird. Dies hat Auswirkungen darauf, wie die Begleitung der Bewohner(innen) gewichtet und ausgerichtet wird. Die Gefahr besteht, dass auf die Dauer die Bedürfnisse nach gesellschaftlicher Teilhabe als weniger wichtig und notwendig angesehen und die Bedürfnisse der Bewohner(innen) auf die Pflege reduziert werden.
Diese Vorgehensweisen stoßen richtigerweise auf klare Kritik. Wie oben bereits ausgeführt, gibt es weder im SGB XII noch in den dazugehörenden Sozialhilferichtlinien eine Altersbegrenzung für den Bezug von Leistungen der Eingliederungshilfe. Genauso wenig gibt es dort eine Aussage, ab welchem Schweregrad der Behinderung oder ab welchem Pflegebedarf ein Mensch mit einer Behinderung keinen Bedarf an Teilhabe mehr hat. Menschen mit einer Behinderung haben zeitlebens einen besonderen (Teilhabe-)Bedarf, der nicht über die Hilfe zur Pflege zu befriedigen ist.
Und es ist nicht einzusehen, dass Sozialhilfeträger den Willen des Gesetzgebers unterlaufen. Dieser hat den geringeren Leistungsumfang der Empfänger(innen) von Eingliederungshilfe im stationären Bereich durch den § 43a SGB XI bewusst herbeigeführt und dadurch die Pflegekassen entlastet. Wollte der Gesetzgeber dies nicht (mehr), müsste er die Zuschusssätze nach § 43a SGB XI denen des § 43 SGB XI anpassen.
Aber auch bei der letzten Reform des SGB XI gab es keine Bereitschaft, dies zu verändern. Selbst von verschiedenen Verbänden vorgeschlagene und wohlbegründete Kompromisse wurden konsequent abgelehnt; so beispielsweise die Übernahme der Vergütungssätze der ambulanten Versorgung (§ 36 und 37 SGB XI; Pflegegeld oder Pflegesachleistung) in den § 43a SGB XI. Dennoch bleibt es ein offenes Problem. Ob die aktuellen Vorschläge der Arbeits- und Sozialministerkonferenz der Länder dieses Problem beheben können, ist fraglich.
Bei der Auseinandersetzung über die Zukunft der Angebote für alte Menschen mit Behinderung geht es oftmals nicht um Inhalte. Es geht vielmehr um die ungelöste Frage der Lastenverteilung zwischen den verschiedenen Leistungsträgern in Zeiten knapper werdender Finanzmittel.
Solange die grundsätzliche Lastenverteilung zwischen den verschiedenen Sozialleistungsträgern nicht gelöst ist, wird auch die Frage der Angebotsstruktur für alte Menschen mit Behinderung nicht zu lösen sein. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat als Ziel die Gleichbehandlung von Menschen mit und ohne Behinderung - zumindest in dem Punkt der Finanzierung der stationären Eingliederungshilfe sind wir von einer Gleichbehandlung noch weit entfernt.