Kein Urlaub, sondern echte Hilfe
Individualpädagogische Hilfen im Ausland werden überwiegend für Jugendliche angefragt, die einen langen Weg des Scheiterns, oftmals mit beginnender Kriminalisierung, Drogenkonsum und Schulabbrüchen hinter sich haben. Die Zahl dieser Hilfen ist zwar verhältnismäßig gering1, dennoch bereiten diese Jugendlichen den Jugendämtern, Jugendgerichten und Maßnahmeträgern viel Kopfzerbrechen und beschäftigen viele Menschen - nicht zuletzt auch wegen öffentlichkeitswirksamer Negativschlagzeilen in der Presse.
Bislang hat in der Regel jeder Träger seine Tätigkeit in eigener Regie überprüft. Die wenigen einrichtungs- und trägerübergreifenden Untersuchungen in der Vergangenheit sind aus methodischer Sicht nur bedingt dazu geeignet, allgemeingültige Aussagen zur Wirksamkeit derartiger Hilfen zu machen. Darüber hinaus fehlte bisher grundsätzlich jede Information über die Effizienz, also die Kosten-Nutzen-Relation individualpädagogischer Hilfen im Ausland.
Deshalb hat der Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) von April 2008 bis Oktober 2010 zusammen mit dem Institut für Kinder- und Jugendhilfe in Mainz (IKJ) die Effektivität und Effizienz individualpädagogischer Hilfen im Ausland (kurz: InHAus) untersucht. Das Projekt wurde von der Aktion Mensch finanziell gefördert. Insgesamt 93 auslandspädagogische Hilfen aus elf Einrichtungen wurden mit einem speziell für das Projekt entwickelten Erhebungsinstrumentarium erfasst und statistisch analysiert.
Die Klienten haben sehr wenig Ressourcen
Die untersuchte InHAus-Stichprobe kann zu Beginn der Hilfe auf merklich weniger Ressourcen und Schutzfaktoren zurückgreifen als in der stationären Jugendhilfe üblich. Dieser Effekt ist in fast allen untersuchten Ressourcen-Bereichen statistisch signifikant (p < 5%)2. Bei den Defiziten zeigen sich übergreifend über die untersuchten Bereiche signifikante Unterschiede nicht nur zur üblichen Klientel stationärer Jugendhilfe (nach § 34 SGB VIII - Heimerziehung/sonstige betreute Wohnform), sondern auch zu Jugendlichen in individualpädagogischen Inlandshilfen (§ 35 SGB VIII - intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung): Sowohl die Anzahl der Problemlagen als auch die Belastung insgesamt ist bei den Jugendlichen der InHAus-Stichprobe erheblich höher (p = 0,1%). Bei durchschnittlich mehr als neun unterschiedlichen Symptomen weist die InHAus-Stichprobe zu Hilfebeginn eine sehr komplexe und heterogene Defizitlage auf, die besondere Anforderungen an die pädagogische Arbeit der Betreuungspersonen und ihrer unterstützenden Hilfesysteme stellt. Eine weitere Besonderheit der InHAus-Stichprobe stellen die extrem hohen Anteile an straffälligen (60 Prozent) beziehungsweise Drogen konsumierenden (85 Prozent) Jugendlichen dar, die signifikant über denen in stationären Hilfen nach § 34 SGB VIII (26 Prozent beziehungsweise 52 Prozent) oder individualpädagogischen Hilfen nach § 35 SGB VIII (46 Prozent beziehungsweise 69 Prozent) liegen. Mit dieser gravierenden Risikokonstellation ist die Erfolgswahrscheinlichkeit reduziert und die Misserfolgswahrscheinlichkeit erheblich erhöht.
Fachliche Standards werden nicht immer eingehalten
Die erfassten pädagogischen Hilfen im Ausland wurden zunächst daraufhin untersucht, inwiefern die von unterschiedlichen Stellen formulierten fachlichen Empfehlungen und Richtlinien3 tatsächlich umgesetzt wurden. Dabei ist erkennbar, dass die geforderten Hilfestandards nur in wenigen Bereichen durchgängig eingehalten worden sind: Während die Jugendlichen vor Beginn des Auslandsaufenthalts in fast allen Fällen auf ihre Eignung geprüft worden sind (94 Prozent), wurde die soziale Reintegration der Jugendlichen für die Zeit nach dem Auslandsaufenthalt lediglich in etwas mehr als der Hälfte aller Fälle (57 Prozent) vorab geplant. Auch das geforderte Treffen zwischen Jugendlichen und Betreuer(inne)n fand nur in knapp über der Hälfte aller Hilfen statt (57 Prozent). Besonders bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, dass auch das vom Gesetzgeber im Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz formulierte Fachkräfteprinzip4 nur in rund drei Viertel der untersuchten Fälle (76 Prozent) umgesetzt wurde. Während der Auftrag zur Steuerung und Qualitätssicherung der Hilfen in Form persönlicher Besuche vor Ort von den Jugendhilfeeinrichtungen insgesamt sehr ernst genommen wurde (Durchschnitt = drei Besuche pro Jahr), hat das Jugendamt seine Kontrollpflicht erheblich vernachlässigt: In mehr als der Hälfte aller Fälle (56 Prozent) war der fallverantwortliche Jugendamtsmitarbeiter im gesamten Hilfeverlauf kein einziges Mal persönlich am Betreuungsort. Der Pflicht zur Zusammenarbeit mit Behörden sowie deutschen Vertretungen im Gastland kamen die Leistungserbringer vor und während der Hilfe nur in rund drei Viertel aller Fälle nach (76 Prozent).
Der Erfolg ist fast garantiert
Die untersuchten Hilfen im Ausland weisen trotz der beschriebenen schwierigen Ausgangslage eine sehr hohe Erfolgsquote von 88,5 Prozent auf. Um die Effektstärke fundiert einschätzen zu können, wurden die Ergebnisse der InHAus-Stichprobe mit zwei in ihrer Ausgangslage parallelisierten Kontrollgruppen verglichen und auf statistisch bedeutsame Unterschiede hin analysiert:
- mit einer Gruppe mit Hilfen nach § 34 SGB VIII und
- mit einer Gruppe mit Hilfen im Inland nach § 35 SGB VIII.
Für die InHAus-Stichprobe zeigt sich ein signifikant höherer Gesamteffekt als für beide Kontrollgruppen (p < 0,1%). Diese deutlich höhere Gesamtwirkung setzt sich zusammen aus einer Vielzahl verschiedener positiver Entwicklungen: So ist zum Beispiel bei den individuellen Ressourcen der Jugendlichen aus der InHAus-Stichprobe ein signifikant höherer Zuwachs zu erkennen als in den beiden Kontrollgruppen (p < 0,1%). Dies gilt in besonders ausgeprägtem Maße für die Entwicklung der schulischen Leistungsfähigkeit (p < 0,1%).
Auch bei den vorliegenden Problemlagen der Jugendlichen fällt die Gesamtentwicklung über den Hilfeverlauf hinweg in der InHAus-Stichprobe statistisch nachweisbar positiver aus als in beiden Vergleichsgruppen (p < 5%). Analog zu diesen Ergebnissen liegt auch der Grad, inwieweit individuell geplante Ziele erreicht wurden, in der InHAus-Stichprobe signifikant über dem in beiden Kontrollgruppen (p < 5%).
Welche Faktoren der Hilfen besonders wirken
Von den untersuchten fachlichen Standards für Auslandshilfen weisen einige eine empirisch nachweisbare Ergebnisrelevanz auf: So begünstigt eine fachlich fundierte Planung der Reintegration noch vor Beginn des Auslandsaufenthalts (inklusive einer klaren zeitlichen Begrenzung des Auslandsaufenthalts) nicht nur den Problemlagenabbau. Auch der Grad, inwieweit Ziele erreicht werden, wird durch eine Planung der Zeit nach dem Aufenthalt positiv beeinflusst. Ebenso haben ein Verlaufscontrolling des Jugendamts in Form von persönlichen Besuchen vor Ort sowie die Zusammenarbeit mit Behörden im Gastland einen direkten Einfluss darauf, wie erfolgreich die Hilfe für den/die einzelne(n) Jugendliche(n) ist. Die Betreuung durch (formale) Fachkräfte reduziert außerdem nachweisbar die Gefahr, die Hilfe vorzeitig abzubrechen.
Über die Analyse der Hilfestandards hinaus wurden weitere potenzielle Einflussfaktoren auf die Wirksamkeit untersucht: Die Kooperation der jungen Menschen ist stärkster Wirkfaktor für den Aufbau von Ressourcen und hat zudem einen positiven Einfluss auf die Realisierung individueller Hilfeplanziele. Auch eine längere Hilfedauer führt dazu, dass Ressourcen gestärkt und Problemlagen abgebaut werden. Während sich von den untersuchten personenbezogenen Merkmalen sowohl das Geschlecht der Jugendlichen als auch deren Vorerfahrungen in der Jugendhilfe nicht als relevante Einflussfaktoren erweisen, wirkt sich das Alter bei Hilfebeginn zumindest indirekt über die Hilfedauer auf Ressourcenförderung und Problemlagenabbau aus: Mit niedrigerem Aufnahmealter steigt die tatsächliche Dauer der untersuchten Hilfen und damit auch der Erfolg sowohl beim Ressourcenaufbau als auch beim Defizitabbau.
Kosten und Nutzen
Dem bei der Datenauswertung angewendeten volkswirtschaftlichen Modell5 zufolge steht den Investitionen für individualpädagogische Auslandshilfen in Höhe von durchschnittlich knapp 96.000 Euro ein langfristiger volkswirtschaftlicher Nutzen in Höhe von rund 625.000 Euro gegenüber (siehe Grafik oben). Dies entspricht einem Kosten-Nutzen-Verhältnis von ungefähr 1:6,5. Damit schneiden die Auslandshilfen im langfristigen Vergleich mit den untersuchten Hilfen nach § 34 (Verhältnis 1:3) deutlich besser ab. Die Inlandshilfen nach § 35 weisen zwar mit einem Quotienten von ungefähr 1:6,2 ein Kosten-Nutzen-Verhältnis auf vergleichbarem Niveau auf, bei Betrachtung der absoluten Kosten-Nutzen-Differenz liegen die Auslandshilfen aber mit einem durchschnittlichen volkswirtschaftlichen Gewinn von knapp 530.000 Euro erheblich über jenen im Inland (etwa 250.000 Euro).
Hilfen im Ausland: für das Klientel ein Erfolgsrezept
Insgesamt erreichen die individualpädagogischen Hilfen im Ausland für ihre spezifische Klientel signifikant höhere Effekte als andere Hilfeformen aus dem Spektrum erzieherischer Hilfen. Im Vergleich zu den Jugendlichen der beiden Kontrollgruppen können die jungen Menschen im Ausland ihre Ressourcen stärker ausbauen und ihre Defizite reduzieren. Aufgrund dieser hohen Effektivität schneiden die Auslandshilfen auch im Hinblick auf die volkswirtschaftliche Effizienz von allen untersuchten Hilfeformen am besten ab. Auch wenn negative Entwicklungen im Einzelfall nicht ausgeschlossen sind, zeigen die Befunde der Studie, dass individualpädagogische Hilfen im Ausland für ihre spezifische Klientel eine sinnvolle Hilfeform darstellen können.
Anmerkungen
1. Fischer, Torsten; Ziegenspeck, Jörg W.: Betreuungsreport Ausland : Eine empirische Analyse zur Wirklichkeit und Wirksamkeit intensivpädagogischer Betreuungsmaßnahmen im Ausland. Lüneburg: Verlag Edition Erlebnispädagogik, 2009.
2. Mit dem Buchstaben "p" wird in der analytischen Statistik die Irrtumswahrscheinlichkeit eines statistischen Analyseverfahrens (zum Beispiel T-Test, Varianzanalyse, Chi-Quadrat-Test) gekennzeichnet. Liegt dieser Wert unter 5 Prozent, so spricht man von einem statistisch signifikanten und damit bedeutsamen Analyseergebnis.
3. Zum Beispiel vom Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik, der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, dem Deutschen Verein oder dem Landschaftsverband Rheinland.
4. Wiesner, Reinhard: § 27 SGB VIII: Intention des KICK + Erfahrungswerte. In: Verein für Kommunalwissenschaften e.V. (Hrsg.): Weder Abenteuerland noch Verbannung : Auslandsaufenthalte als Bestandteil der Hilfen zur Erziehung: § 27 SGB VIII. Berlin : Eigenverlag, 2008.
5. Roos, Klaus: Kosten-Nutzen-Analyse von Jugendhilfemaßnahmen. Frankfurt : Verlag Peter Lang, 2005.