Es ist normal, verschieden zu sein
Während der Begriff Integration beim Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund selbstverständlich verwendet wird (siehe dazu das Schwerpunktheft der neuen caritas 14/2010), wird er in der Behindertenhilfe und -selbsthilfe zunehmend kritisch gesehen und durch den Begriff der Inklusion abgelöst. In den Behindertenbereich fand Inklusion insbesondere in der Heil- und Sonderpädagogik Eingang. Allerdings wird er inzwischen im politischen und gesellschaftlichen Diskurs sowohl von Vertreter(inne)n der Behindertenselbsthilfe als auch von der Behindertenhilfe verwandt.
Bei der Übersetzung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung gab es eine heftige Auseinandersetzung darüber, ob das englische Wort "inclusion" mit Inklusion oder mit Integration übersetzt werden sollte. Dies lag vor allem an den befürchteten beziehungsweise erhofften Auswirkungen auf das Schulsystem. In Deutschland hat die damalige Bundesregierung gemeinsam mit den anderen deutschsprachigen Ländern als Übersetzung die Integration gewählt - entgegen der Forderung insbesondere aus den Reihen der Behindertenbewegung, den Terminus Inklusion zu verwenden.1 Die Protestierenden haben befürchtet, dass mit dem Begriff der integrativen Schulbildung der Status quo festgeschrieben werden könnte. Inklusion im Zusammenhang mit Schule meint, das System Schule zu verändern und nicht, dass sich Schüler(innen) mit Behinderung an das bestehende Schulsystem anpassen müssen.2 Mit der inklusiven Schule verbanden sie eine Verpflichtung des Staates, die Schulen so zu gestalten, dass ein gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung möglich wird.3 Der Begriff der inklusiven Schule wurde übrigens inzwischen von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz aufgegriffen, ein Hinweis darauf, dass der Begriff der Inklusion den allgemeinen politischen Diskurs erreicht hat.4 Er stammt ursprünglich aus der soziologischen Theorie und beschreibt, ob Menschen inkludiert oder exkludiert sind. Strukturelle Exklusionsphänomene sind für Kastl "der systematische Ausschluss behinderter Menschen von Berufsrollen, Liebesbeziehungen, dem Bildungssystem oder bestimmten Institutionen und Teilbereichen des Bildungssystems", während "die rechtliche Gleichstellung, das Zugänglichmachen von Arbeits- und Wohnmöglichkeiten außerhalb von Einrichtungen und so weiter als Inklusionsphänomene" zu bezeichnen sind.5
Im politischen Diskurs erfüllt der Begriff der Inklusion eher die Funktion der Zielbestimmung und dient häufig als "Platzhalter für eine Art ideale Einbeziehung behinderter Menschen in die Gesellschaft"6 in dem Sinne, dass Menschen mit Behinderung selbstverständlich dazugehören. Bisher sind Menschen mit Behinderung zu wenig in konkrete Entscheidungsprozesse und bei Planungen eingebunden.
Disability Mainstreaming - Behinderung geht alle an
Hier setzt das Konzept des Disability Mainstreaming an, das sich implizit und explizit an den Begriff "Gender Mainstreaming" anlehnt. Dieser Begriff ist 1995 im Zusammenhang mit Entwicklungspolitik auf die internationale politische Agenda gekommen und wurde in der Folge auch in Deutschland eingeführt.
Disability Mainstreaming ist wie Gender Mainstreaming nicht für eine Übersetzung ins Deutsche geeignet. Dahinter steht, dass das Thema Behinderung in sämtlichen Bereichen verankert werden soll, sei es in Politik, Wissenschaft oder Gesellschaft. Behinderung wird zur Querschnittsaufgabe - und Menschen mit Behinderung sind an Entscheidungsprozessen beteiligt. Dies hat weitreichende Auswirkungen, da es ein tiefgreifendes Umdenken von Menschen ohne Behinderung erforderlich macht.7
Karl-Hermann Haack, der ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, hat im Jahr 2004 auf das Allumfassende von Disability Mainstreaming hingewiesen. Jedes politische und gesellschaftliche Handeln solle danach befragt werden, in welcher Weise es zur Gleichstellung und Teilhabe behinderter Menschen beitrage oder sie verhindere. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und der FDP ist ein Schritt in diese Richtung. Es heißt dort: "Politische Entscheidungen, die Menschen mit Behinderungen direkt oder indirekt betreffen, müssen sich an den Inhalten der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen messen lassen."8
Mit Disability Mainstreaming ist der Anspruch verbunden, nach Möglichkeit Sonderprogramme zu vermeiden. Regierungsprogramme, so die frühere britische Regierung, müssten gleichzeitig zwei Ansprüchen genügen: den Bedürfnissen von Menschen mit und den Bedürfnissen von Menschen ohne Behinderung. Nur für Menschen mit komplexeren Bedürfnissen könne und solle es zusätzliche, auf sie zugeschnittene Angebote geben, wenn dies notwendig sei.
Am Beispiel von Bussen oder Straßenbahnen wird dies deutlich: Ein für Rollstuhlfahrer(innen) geeigneter Bus ist für Menschen, die einen Kinderwagen schieben, von Vorteil, ebenso für Menschen mit Gehbeeinträchtigungen. Für alle ist so ein Verkehrsmittel bequemer - und die Einstiegzeiten verkürzen sich. Das Beispiel zeigt auch, dass es sinnvoll sein kann, noch einen Schritt weiterzugehen: nicht nur zu unterscheiden in Menschen mit und ohne Behinderung, sondern verschiedene Nutzungsanforderungen verschiedener Gruppen an den öffentlichen Nahverkehr wahrzunehmen.9
Wertschätzung von Vielfalt
Anders als bei dem Beispiel der Busse geht es der Vision einer inklusiven Gesellschaft, die zum Ausgangspunkt die Vielfalt der Bürger(innen) nimmt - und ihre Gleichheit10 -, nicht nur um eine Feststellung der Bedürfnisse und Anforderungen unterschiedlicher Gruppen, sondern um eine positive Haltung zu Vielfalt. Differenzkategorien wie körperliche oder psychische Beeinträchtigungen, aber beispielsweise auch Kategorien wie Gender, Muttersprache oder Religion werden als Bereicherung wahrgenommen.11
Eine solche Haltung ist nicht selbstverständlich. Kompetenzen zum Umgang mit (kultureller) Vielfalt müssen erlernt werden. Der Freiburger Theologe Klaus Baumann verweist zu Recht darauf, dass die Gesellschaft nicht nur aus "Gutmenschen" besteht.12 Wenn Unternehmen die Vielfalt ihrer Mitarbeiter(innen) als Ressource entdeckt haben, dann wird diese Haltung in Workshops vermittelt. Der Stifterverband der Deutschen Wissenschaft und die CHE Consult, eine Beratungsgesellschaft für Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Wissenschaftsbehörden, hat eine Kampagne zum "Diversity Management" entwickelt. Sie verfolgt das Ziel, "Strategien und konkrete Maßnahmen zu entwickeln, wie mit Diversität im Alltag produktiv umgegangen werden kann, so dass die Verschiedenheit der Studierenden, ihre Voraussetzungen, Zugänge und Begabungen als Chance begriffen und die damit verbundenen Potenziale ausgeschöpft werden".13 Es werden verschiedene Gruppen genannt, deren Beitrag für die Hochschule gewürdigt werden soll - Menschen mit Behinderung sind allerdings nicht dabei, ebenso wenig wie bei der derzeitigen Kampagne mit dem Slogan "Wien ist anders - ich auch"14, in der Beispiele für die kulturelle Wertschätzung von Differenz präsentiert werden.
Da die Perspektive Behinderung offensichtlich immer wieder ausgeblendet wird, erscheint der Diversity-Ansatz der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen umso nötiger. "Der Konvention liegt ein Verständnis von Behinderung zugrunde, in dem diese keineswegs von vornherein negativ gesehen, sondern als normaler Bestandteil menschlichen Lebens und menschlicher Gesellschaft ausdrücklich bejaht und darüber hinaus als Quelle möglicher kultureller Bereicherung wertgeschätzt wird (,Diversity-Ansatz‘)".15 Deshalb verpflichtet die UN-Konvention für die Rechte von Menschen auch in Artikel 8c das Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderung zu fördern.
Belange der behinderten Menschen wahrnehmen
Die Vorstellung der inklusiven Gesellschaft kann als Vision im Sinne eines Narrativs beflügeln, weil sie Perspektiven verändert und so zu neuen Wegen und Lösungen führen kann. Schritte dahin können Planungsprozesse sein, bei der die Perspektiven von Menschen mit Behinderung von Anfang an einbezogen werden und an denen sie partizipieren. Deshalb ist Disability Mainstreaming ein wichtiges Instrument auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft. Bereits jetzt können Planungsprozesse inklusiv gestaltet werden. Eine wichtige Bedingung dafür ist, dass Menschen mit Behinderung und ihre Belange für alle sichtbar sind und damit ihre unterschiedlichen Bedürfnisse wahrgenommen, anerkannt und berücksichtigt werden. Andererseits liegt der Idee einer inklusiven Gesellschaft zugrunde, jenseits der Kategorien Menschen mit und ohne Behinderung zu denken.
Der Artikel ist die Weiterentwicklung des Vortrages "Inklusion und Disability Mainstreaming" auf dem 2. Caritaskongress in Berlin, 16. April 2010.
Anmerkungen
1. Es gibt unter anderem auch deshalb eine Schattenübersetzung von Netzwerk Artikel 3, dem Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter.
2. Siehe die Beiträge in der neuen caritas Heft 12/2010.
3. Grüber, Katrin: Zusammen leben ohne Barrieren : Die Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kommunen. Herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Reihe "Handreichung zur politischen Bildung", Band 2, 2010.
4. Fink, Franz: Die Regelschule muss diesen Namen verdienen. In: neue caritas Heft 12/2010, S. 21-25.
5. Kastl, Jörg Michael: Einführung in die Soziologie der Behinderung. Wiesbaden : VS Verlag, 2010.
6. Kastl, Jörg Michael: ebd., S. 177.
7. Grüber, Katrin: "Disability Mainstreaming" als Gesellschaftskonzept : Annäherungen an einen viel versprechenden Begriff. In: Sozialrecht + Praxis 17, 7, 2007, S. 437-444.
8. Koalitionsvertrag 2009, S. 83; www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf
9. Für Menschen mit komplexen Behinderungen können Sonderfahrdienste weiterhin sinnvoll sein.
10. Markowetz, Reinhard: Inklusion ist kein Etikettenschwindel. In: neue caritas Heft 12/2010, S. 16-20.
11. Hinz, Andreas: Inklusion - Einführung: Historische Entwicklungslinien und internationale Kontexte, 23./24.11.2007; www.lebenshilfe.de/wDeutsch/aus_fachlicher_sicht/downloads/integrationzurinklusion/Hinz.pdf
12. Baumann, Klaus: Rückenwind für sozialethische Grundanliegen. In: neue caritas Heft 12/2010, S. 10.
13. www.che-consult.de/cms/?getObject=371&getNewsID=1119&getCB=212&getLang=de
14. www.wienistanders-ichauch.at
15. Bielefeldt, Heiner: Zum Innovationspotential der UN-Behindertenkonvention. Berlin : Deutsches Institut für Menschenrechte, 2009, S. 6 f.