Gesprächspartner mit Sachkompetenz
Mit dem Projekt „Pflegebegleiter“ ist ein spezielles Freiwilligenprofil in die Versorgungsstrukturen in Deutschland implementiert worden. Fünf Jahre lang, von November 2003 bis Oktober 2008, wurde dieser neue Ansatz modellhaft erprobt und von den Spitzenverbänden der Pflegekassen – im Rahmen der Modellvorhaben zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung – gefördert. In diesem Zeitraum haben mehr als zweitausend Freiwillige einen qualifizierenden Vorbereitungskurs zur Begleitung pflegender Angehöriger besucht und sind nun in diesem Engagementfeld tätig. Viele der an über 100 Orten in ganz Deutschland entstandenen Pflegebegleiter-Initiativen haben sich auch nach der Modellphase in der Fachpraxis etabliert. Sie leisten einen solidarischen Beitrag zur Stabilisierung häuslicher Pflege und zur Entwicklung einer neuen Pflegekultur.
Persönliche Beziehungen statt Dienstleistungen
Im Projekt „Pflegebegleiter“ wurde durch das Forschungsinstitut Geragogik (Witten) ein neues Konzept entwickelt und erprobt, das auf die Begleitung pflegender Angehöriger durch speziell qualifizierte Freiwillige zielt. Es setzt darauf, persönliche vertrauensvolle Beziehungen zu entwickeln – und nicht auf Dienstleistungen. Es orientiert sich an den Prinzipien der Wahlfreiheit und Selbstbestimmung. Projektleiterin und Erziehungswissenschaftlerin Elisabeth Bubolz-Lutz: „Das Angebot ist nachbarschaftlich, unentgeltlich und offen. Es ist geprägt vom gemeinsamen Lernen im Austausch, vom Geben und Nehmen zwischen den pflegenden Angehörigen und den Pflegebegleiterinnen und Pflegebegleitern.“
In einer Art „Brückenfunktion“ informieren die qualifizierten Freiwilligen über Entlastungsmöglichkeiten und vermitteln ins professionelle System. So entsteht ein Pflege-Mix, an dem viele Akteure beteiligt sind, Angehörige, Nachbarn, Professionelle und Freiwillige. Diese bilden ein persönliches Netzwerk, das entlastet und die Versorgung und Pflege zu Hause auch dort möglich macht, wo eine einzelne pflegende Person längst an persönliche Grenzen stoßen würde.
Die Freiwilligen engagieren sich aus ganz unterschiedlichen Motiven und Erwartungen heraus. Sie betonen aber häufig – und das ist eines der wichtigen Ergebnisse der Evaluation –, dass Qualifizierung und Tätigkeit im Projekt eigene Fragen zum Thema Altern und Pflegebedürftigkeit offenlegen und bearbeitbar machen, dass sie selbst in vieler Hinsicht von der Tätigkeit profitieren.
Selbst organisiert und kreativ Initiativen entwickeln
Im Modellprojekt „Pflegebegleiter“ wurden zwei Qualifizierungskonzepte entwickelt und erprobt: für Multiplikator(inn)en und für Freiwillige. Erstellt wurde zudem ein Methodenhandbuch als Anleitung für die Vorbereitungskurse und als Einführung in das didaktische Konzept des „Selbstbestimmten Lernens“. Der Ansatz des selbstbestimmten Lernens und das Konzept der partizipativen Curriculumentwicklung haben eine spezielle Motivationskraft der Akteure freigesetzt und tragen dazu bei, dass die einzelnen Pflegebegleiter-Initiativen vor Ort kreativ und möglichst selbst organisiert eigene Vorhaben entwickeln.
Die Profil- und Leitbildentwicklung im Projekt orientiert sich an drei Basiskonzepten: Empowerment, Kompetenzentwicklung und Vernetzung.1, 2
Die Grundidee des Empowermentansatzes: „Stärken statt helfen“ auf der Grundlage des Menschenbildes „Vertrauen in die Stärken des Menschen“ findet ihren Niederschlag in der Begleitpraxis der Freiwilligen, speziell in den Merkmalen
- den „Eigen-Sinn“ der Angehörigen zu akzeptieren,
- als Gesprächspartnerin und Gesprächspartner „normativ enthaltsam“ zu sein,
- darauf zu verzichten, dem anderen Hilfsbedürftigkeit zuzuschreiben,
- dem Gegenüber das Recht auf eine selbstbestimmte Lebens- und Lerngestaltung zuzugestehen.
Die Grundidee der Kompetenzentwicklung: Fähigkeiten und Haltungen entwickeln, nicht nur Wissen ansammeln. In den Vorbereitungen werden folgende miteinander verwobene, aber dennoch voneinander abgrenzbare Kompetenzbereiche vermittelt:
- Sachkompetenz/Verständnis,
- Begleitungskompetenz,
- Vernetzungs- und Feldkompetenz,
- Selbstsorgekompetenz,
- Reflexionskompetenz,
- (Selbst-)Organisationskompetenz.
Die genannten Komponenten gelten nicht nur als relevant für die Pflegebegleiter(innen) – sie regen entsprechende Prozesse auch bei pflegenden Angehörigen an. Auch die Projekt-Initiator(inn)en haben ein Kompetenzprofil zu entwickeln.3
Die Grundidee der Vernetzung: „Kooperation statt Konkurrenz“ zeigt sich zum Beispiel in der Zusammenarbeit von beruflich und ehrenamtlich tätigen Projekt-Initiator(inn)en. Vernetzung wurde auch auf folgende Weise angestrebt:
- unterschiedliche Kooperationspartner auf der Ebene der vier Regionalbüros (Ost/West/Nord/Süd),
- Trägervielfalt der Standorte,
- Kooperationen mit anderen Freiwilligeninitiativen,
- Patenschaften durch professionelle Partner in der Region.
Die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation des Projekts durch das Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung (IAF) der Katholischen Fachhochschule Freiburg konnte die Wirksamkeit des Projektes nachweisen. Es konnte aufgezeigt werden, dass sich mit dem Konzept ein neues Freiwilligenprofil entwickelt hat, das richtungsweisend auch für andere Bereiche ist.
Keine Konkurrenz zu professionellen Anbietern
Folgende Ergebnisse der fünfjährigen Begleitforschung erscheinen zentral:
(1) Das Angebot Pflegebegleitung befindet sich nicht in Konkurrenz zu professionellen Anbietern und Diensten, sondern ergänzt diese vielmehr und kooperiert mit ihnen im Sinne eines gelebten Pflege-Mix.
(2) Eine besondere Stärke liegt in der zwischenmenschlichen Begegnung, die zeitnah erfolgt – wenn der Bedarf wirklich aktuell vorhanden ist. Das ist ein wichtiger Faktor, warum Pflegebegleitung in der Praxis gut funktioniert und angenommen wird. Pflegebegleiter(innen) bieten psychosoziale Gesprächsbegleitung, fachliche Information und ermöglichen damit ein „Pflege-Insider-Gespräch“, das hilft, die Pflegesituation zu klären und zu optimieren. Sie eröffnen damit auch den Zugang zu Beratungsstellen und Netzwerken.
(3) Die Wirksamkeit von Pflegebegleitung wird durch die pflegenden Angehörigen bestätigt: Sie berichten im qualitativen Teil der Begleitforschung, dass sich die eigene gesundheitliche Situation verbessert hat. Dies führt nicht nur zu einer subjektiv besseren Befindlichkeit der pflegenden Person. Gefolgert werden kann, dass damit auch die Chance, die häusliche Pflegesituation aufrechtzuerhalten unterstützt wird: Nur wer sich dazu gesundheitlich in der Lage fühlt, wird auch weiterhin pflegen können. Dieses Ergebnis der Wirksamkeitsforschung, das anschlussfähig ist an zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema, zeigt aber auch, dass in einem erheblichen, wenn auch nicht genau zu beziffernden Umfang, die Krankheitsfolgekosten der pflegenden Angehörigen durch Pflegebegleitung reduziert werden können.
Insgesamt belegen die Ergebnisse der Begleitforschung Sinn und Notwendigkeit des freiwilligen Engagements für pflegende Angehörige: Sie werden durch die psychosoziale Begleitung psychisch entlastet, schätzen ihre eigene gesundheitliche Situation als verbessert ein und erleben die häusliche Pflegesituation als „stabilisiert“. Wer diese Form der Begleitung erfahren hat, möchte dieses Angebot nicht mehr missen. Der ausführliche Projektbericht steht unter www.gkv-spitzenverband.de /_8_Pflegebegleiter.gkvnet
Seit Abschluss der Projektphase wird die Idee der Pflegebegleitung in einem bundesweiten „Netzwerk Pflegebegleitung“ weiterverfolgt. Das Forschungsinstitut Geragogik unterstützt diese Entwicklungen. Intendiert ist ein kontinuierlicher Austausch der Akteure über die Entwicklungen in den einzelnen Bundesländern und die gemeinsame Weiterentwicklung der Qualifizierungen4.
Anmerkungen
1. Bubolz-Lutz, Elisabeth; Kricheldorff, Cornelia: Häusliche Pflegearrangements und Pflegebegleiter : Ein Modellprojekt auf der Grundlage von Empowerment. In: Klie, Thomas u. a. (Hrsg.): Die Zukunft der gesundheitlichen, sozialen und pflegerischen Versorgung älterer Menschen. Frankfurt a. M. : Mabuse, 2005, S. 169–180.
2. Bubolz-Lutz, Elisabeth; Kricheldorff, Cornelia: Freiwilliges Engagement im Pflegemix : Neue Impulse. Freiburg : Lambertus, 2006.
3. Ein detailliertes Beispiel zur Kompetenzentwicklung für die drei Akteursgruppen findet sich in Bubolz-Lutz/Kricheldorff, 2006, S. 70 ff.
4. Weitere Informationen zu Pflegebegleitung unter: www.pflegebegleiter.de