Die Wahrheit suchen, auch wenn es schmerzt
Alle in der Sozialen Arbeit Tätigen haben das sozusagen natürliche Bestreben, Schaden von der eigenen Einrichtung fernzuhalten. Und was könnte auf den ersten Blick der Einrichtung mehr schaden als eine öffentliche Kampagne wegen eines Misshandlungs- oder Missbrauchsskandals? Dennoch darf im Fall von Anschuldigungen nicht an erster Stelle der Schutz des guten Rufes stehen. Vielmehr kann nur das Bestreben, der Wahrheit ans Licht zu helfen, eine Einrichtung in christlicher Trägerschaft (wieder) glaubwürdig machen.
Bischof Walter Mixa geriet weniger deshalb in die Schusslinie, weil er beschuldigt wurde, Kinder körperlich gezüchtigt zu haben. Vor allem hat er der Öffentlichkeit ein unsägliches Schauspiel zur Wahrheitsfindung geliefert. Entschuldigt hat er sich nicht etwa wegen der Ohrfeigen, sondern wegen der schwierigen Situation, in die er sein Bistum gebracht hat. Er ist ein Musterbeispiel dafür, wie wir es nicht machen dürfen. Bei weitem nicht alles ist wahr, was Einrichtungen der Erziehungshilfe derzeit vorgeworfen wird. Aber der Suche nach der Wahrheit sollten wir uns unter allen Umständen verpflichtet wissen. Dazu gehören ein paar wichtige Dinge:
- Ein mutmaßliches Opfer hat das Recht, gehört und ernst genommen zu werden. Das ist nicht gleichbedeutend mit „immer sofort recht geben“, sondern mit einer offenen Dialogbereitschaft, die mögliche unangenehme Wahrheiten einkalkuliert und nicht von vornherein leugnet. Aussagen wie „Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen!“ – „Pater X oder Schwester Y hätte das niemals getan, dafür kenne ich ihn/sie viel zu gut!“ oder „Der Z will sich nur verspätet rächen, den kennen wir doch!“ helfen niemandem weiter.
- Für die Wahrheitsfindung ist es absolut notwendig, die vorhandenen Akten zu sichern, das heißt so aufzubewahren, dass Ehemalige auf Wunsch Zugang haben können. Wichtig ist aber auch der Schutz der Akten. Jede Einrichtung sollte klare Richtlinien haben, wer unter welchen Umständen und mit welcher Begründung Einsicht in Akten bekommen kann und wer nicht. Die Bethanien Kinder- und Jugenddörfer haben solche Richtlinien. Vor allem bei denen, die lange im Erziehungsdienst tätig waren, gibt es immer wieder einmal das Bedürfnis, „noch mal was nachzulesen“. Dies kann verständlich und im Einzelfall auch berechtigt sein, sollte aber klar geregelt werden, um jeden Eindruck von Aktenmanipulation von vornherein auszuschließen.
- Es lohnt, sich grundsätzlich Gedanken zur Krisenkommunikation zu machen, noch bevor irgendein Vorwurf aufgetaucht ist. Als die Bethanien Kinder- und Jugenddörfer zum ersten Mal massiv mit einer Anschuldigung konfrontiert wurden, war ich als Generalpriorin so betroffen, dass ich als Ansprechpartnerin für das mutmaßliche Opfer ebenso unbrauchbar war wie für die Presse. Die externe Kommunikation hat Gott sei Dank dann eine Mitschwester übernommen.
- Die Schwestern vom Guten Hirten haben in ihren Einrichtungen neben den Gesprächspartnern für mutmaßliche Opfer auch einen „Beistand für angeschuldigte Schwestern“ installiert. Dies finde ich einen sehr lohnenswerten Gedanken, der im Rahmen guter Rollenaufteilung mit berücksichtigt werden sollte.
Echte Aufarbeitung, um zu heilen und vorzubeugen
Die Wahrheit kann schmerzlich und hässlich sein, aber wir dürfen ihr nicht ausweichen. Das kann – und darf – uns etwas kosten: So hat es mich Mut gekostet, die Ehemaligenbefragung der Bethanien Kinder und Jugenddörfer1 mit anzustoßen. Ich wusste nicht, was dabei herauskommen würde, und musste dieses Projekt auch intern genügend verteidigen. Aber es hat sich gelohnt: nicht nur wegen der Ergebnisse, sondern vor allem, weil wir nun auf sicherem Boden stehen, wenn wir über unsere Kinderdorfgeschichte sprechen.
„Der Schmutz auf dem Weg des Nachbarn macht unsere eigene Straße nicht sauber.“ Dieses Wort des Groninger Bischofs Gerard de Korte mahnt, dass das Thema des geschehenen Unrechts kein quantitatives Problem sein kann. Oft höre ich in Gesprächen Äußerungen wie: „Es wurde überall geschlagen, das war damals so.“ – „In Familien wird viel mehr Missbrauch betrieben als durch Priester.“ – „Das war/ist doch nur ein Einzelfall.“ Auf der anderen Seite wird auch gesagt: „Jeder Fall ist einer zu viel.“ Ja, genau das. Doch hüten wir uns davor, dass dieser Satz zur Floskel wird und wir im Stillen denken: „So schlimm war das doch bei uns gar nicht!“
Es gibt keine geteilte Geschichte, es gibt nicht die Geschichte der Opfer und die der Täter(innen), sondern nur die gemeinsame, und diese ist keineswegs einfach „schwarz- weiß“. Zu begrüßen ist, dass sich derzeit seriöse Forschungsprojekte mit diesem Thema beschäftigen, beispielsweise an der Ruhr-Universität Bochum unter Leitung der Professoren Traugott Jähnichen und Wilhelm Damberg2.
Wir wissen aus der Psychotherapie, dass eine gesunde Entwicklung nur möglich ist, wenn schwierige Teile der Vergangenheit angeschaut und in das eigene Leben integriert werden konnten. Ich bin davon überzeugt, dass dies auch für unsere Einrichtungen gilt. Das sage ich aus der Sicht eines Trägers, der nun schon mehr als 50 Jahre die Trägerschaft innehat. Für uns gilt in besonderer Weise, dass unsere Geschichte nicht teilbar ist, auch nicht in die Zeit vor und nach der Gründung der Kinderdörfer gGmbH und der schrittweisen Übernahme aller Leitungsverantwortung durch Laien. Wer heute in unseren Einrichtungen Verantwortung übernimmt, erbt auch unsere Geschichte.
„Prüft alles, und behaltet das Gute.“ Dieser Satz des heiligen Paulus weist uns die Richtung. Derzeit stehen wir oftmals mit dem Rücken zur Wand: Wir müssen uns verteidigen, rechtfertigen, erklären. Aber wir dürfen auch stolz sein auf Erfolge, auf Positiv-Geschichten, auf Schwestern und Erzieherinnen, an die sich Ehemalige mit Dankbarkeit erinnern, auf hochqualifizierte Arbeit, die es auch gestern schon gab und die heute Standard sein sollte. Es ist derzeit fast ein Drahtseilakt, ausgewogen über die Vergangenheit und Gegenwart unserer Einrichtungen zu berichten. Aber es gibt keinen Grund, das Gute zu verleugnen und trüben zu lassen.
Anmerkungen
1. Vgl. unter www.klinge-seckach.de, Klingezeitung 1/2009, S. 4.
2. Vgl. unter www.ruhr-uni-bochum.de/jaehnichen/kirchliche_heimerziehung.pdf