"Die inneren Wunden werden nie ganz heilen"
Indem ich dem Wunsch des Bundesverbandes katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe (BVkE) nachkomme, über meine Erfahrungen als „Heimzögling“ zu berichten, werden in mir höchst ambivalente Gefühle wach. Ja, Heimkind war ich und bin heute als Professor an der Katholischen Fachhochschule Freiburg tätig, verheiratet, und wir haben einen zwanzigjährigen Sohn, der derzeit seinen Zivildienst in einem Krankenhaus absolviert. Meine Frau ist als Diplom-Psychologin in genau dem Heim tätig, in dem ich selbst fünf Jahre verbracht habe. Aber dies ist nur ein Bruchteil meiner Heimkarriere. Insgesamt war ich, nichtehelich geboren, im Rahmen der Amtsvormundschaft 19 Jahre lang in drei verschiedenen Heimen untergebracht: drei Jahre in einem Säuglingsheim in Saarbrücken, dann – bis zum 14. Lebensjahr – in einem Kinderheim, das wie das Säuglingsheim von Ordensschwestern geführt wurde, ebenfalls in Saarbrücken, und schließlich fünf Jahre im Christophorus-Jugendwerk in Oberrimsingen.
Mein schulischer und beruflicher Werdegang in Stichworten: Volksschule, höhere Handelsschule, Lehre als Großhandelskaufmann, Fachhochschulreife, Studium der Sozialarbeit an der Katholischen Fachhochschule Freiburg, fünfzehn Jahre Sozialarbeiter in der Jugendvollzugsanstalt Adelsheim (Baden-Württemberg), berufsbegleitend Studium der Erziehungswissenschaft und Kriminologie an der Universität Heidelberg, seit 1989 zunächst als Fachschulrat und seit 2003 als Professor für den Bereich der Straffälligenhilfe an der Katholischen Fachhochschule Freiburg tätig.
Meine Ambivalenz hängt damit zusammen, dass der Verdacht aufkommen könnte, dass ich für den Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) gleichsam als „Aushängeschild“ einer erfolgreichen Heimsozialisation diene und zwar für eine Zeit der Heimerziehung der 1950er und 60er Jahre, die im Moment skandalisiert wird. Und um es gleich vorwegzunehmen, sie steht zu Recht am Pranger. Die Mühe, schreibend in die Vergangenheit zu tauchen, hätte ich mir nicht gemacht, wenn ich als Feigenblatt herhalten sollte.
Es gibt auch berufliche Gründe, die mich immer wieder mit meiner Vergangenheit konfrontieren. Aktuell ist es das Bekanntwerden des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen in Internaten kirchlicher Trägerschaft. Mich bewegen aber auch Meldungen darüber, wie entwürdigend mit jungen Soldaten bei der Bundeswehr umgegangen wird. Gleichermaßen treffen mich Missbrauchshandlungen in Jugendstrafanstalten. Gemein ist allen Einrichtungen, dass sie, um es in der Terminologie von Erving Goffman1 auszudrücken, als totale Institutionen zu beschreiben sind: also als Institutionen, wo alle Lebensbezüge aller „Insassen“ nur an diesem einen Ort stattfinden und einer zentralen Autorität unterworfen sind. Ungeachtet der verschiedenen Ziele der genannten Institutionen ist allen gemein, dass eine scharfe Trennung zwischen dem Personal und den Insassen entsteht. Und genau diese Trennung führt zu sozialen Konflikten und Problemen innerhalb der Institution. Je geschlossener die Einrichtung, so mein Eindruck, umso stärker entwickeln sich Subkulturen, und die sozialen Konflikte nehmen zu.
Die Heimerziehung damals hatte faschistoide Züge
Es ist Peter Wensierski2 mit seinem Buch „Schläge im Namen des Herrn: Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“ zu verdanken, dass die unrühmliche Geschichte der Heimerziehung der 1950er und 60er Jahre in unser Bewusstsein gebracht wurde. In Berlin hat sich ein runder Tisch gebildet, mit der Aufgabe, dieses dunkle Kapitel der Heimerziehung zu erhellen (siehe neue caritas Heft 15/2009, S. 23–25 sowie neue caritas Heft 8/2009, S. 20 f.). Ich finde es durchaus auch richtig, dass die Betroffenen Schadenswiedergutmachungen einfordern. Wie grausam die Heimerziehung in den oben angesprochenen Jahren gewesen ist, will ich an drei Beispielen, die mir selbst im Kinderheim in Saarbrücken widerfahren sind, verdeutlichen.
- So bestand etwa die Regel, dass lediglich einmal in der Woche geduscht wurde. Das war am Samstag und geschah in Badehosen, obwohl die Jungen von den Mädchen in Gruppen getrennt lebten. Bei dieser Gelegenheit wurde auch die Unterwäsche, die zuvor eine Woche getragen wurde, gewechselt. Die Ordensschwester kontrollierte die Unterhose auf ihre Sauberkeit. War die Unterhose verschmutzt, und das war sie freilich jede Woche, gab es mit einem Rohrstock auf den Hintern, nachdem er entblößt werden musste.
- Eine zweite sehr grausame Erziehungsmethode traf mich sehr oft. Es gab die Regel, beim Mittagessen nicht zu sprechen. Wurde ich beim Sprechen erwischt, musste ich in die Mitte des Speisesaals gehen und mir wurde ein circa vier bis fünf Millimeter breiter Serviettenring zwischen die Zähne geklemmt. Dabei kam es unweigerlich zum Speichelfluss, und genau dies wurde wiederum mit Ohrfeigen bestraft. Es wurde grundsätzlich erwartet, den Teller zu leeren. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich manchmal vor einem Teller saß, den ich nicht leeren konnte. Auch Erbrochenes musste ich aufessen.
- So wenig es mir beim Mittagessen gelang, den Mund zu halten, so schwer fiel es auch abends im Schlafsaal, wo ich mit weiteren 15 Jungen untergebracht war. Auch hier blieb nicht aus, dass ich des Öfteren bestraft wurde. Meist musste ich nach einer Tracht Prügel noch stundenlang vor dem Schlafsaal knien.
Wer das Buch von Wensierski liest, wird weitere Strafen der sozialen Ausgrenzung und der Verletzung des Körpers und der Seele kennenlernen. Die Erinnerungen treiben mir Tränen in die Augen und machen deutlich, dass die inneren Wunden wohl nie ganz verheilen werden. Und dennoch: Es waren keine Schläge im Namen des Herrn. Es waren Schläge und Misshandlungen von Ordensschwestern, die mit ihren Aufgaben völlig überfordert waren. Ohne berufliche Qualifikation und Supervision waren sie das gesamte Jahr rund um die Uhr im Dienst – eingebettet in eine allgemein akzeptierte gesellschaftliche Vorstellung und Praxis von Erziehung, für die Repression selbstverständlich war.
Auch gute Erfahrungen waren dabei
Persönlich hatte ich das Glück, vom Kinderheim in Saarbrücken in das Christophorus-Jugendwerk in Oberrimsingen, ebenfalls in Trägerschaft der katholischen Kirche, verlegt worden zu sein. Es war die Zeit, in der der Heimerziehung ein scharfer Wind ins Gesicht wehte. Zentraler Gegenstand der damaligen Debatte war die Zukunft einer alternativen Heimerziehung, während heute die individuellen Erfahrungen ehemaliger Heimkinder im Fokus sind. Für den Heimhistoriker erinnere ich an das Buch „Fürsorgeerziehung, Heimterror und Gegenwehr“ von Peter Brosch3, der gemeinsam mit mir als Zögling im Jugendwerk war und von dort auf den Staffelberg verlegt wurde, von wo aus die Heimrevolte ihren Ursprung nahm. Das Christophorus-Jugendwerk blieb von der Heimkampagne unberührt. Der Vorwurf, die Heimerziehung ziele primär auf die soziale Kontrolle ihrer Adressaten und gleiche in ihrer Struktur eher einem Gefängnis als einem pädagogischen Ort, lief hier ins Leere. Ich habe das Christophorus-Jugendwerk als einen Ort erlebt, wo man bemüht war, den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der anvertrauten Jugendlichen gerecht zu werden. Es glich insoweit keiner „totalen Institution“, als ich meine Lehre als Großhandelskaufmann in Freiburg absolvieren durfte. Pädagogik verwirklicht sich in der personalen Begegnung zwischen Erzieher(in) und zu Erziehenden. Ich bin im Jugendwerk auf Personen gestoßen, die mich beeindruckt, überzeugt und geprägt haben. Sie waren auch die Menschen, die in mir den Berufswunsch reifen ließen, Sozialarbeiter zu werden.
In fester Erinnerung und von bleibendem Wert sind die vielen Erlebnisse, die ich mit der Heimfußballmannschaft oder der Breisgauer Puppenbühne und der damit verbundenen Tournee in den Sommerferien hatte. Die Hochgebirgswanderung in den Allgäuer Alpen war ebenfalls ein Höhepunkt mit bleibender Erinnerung. An solche Erfahrungen im Sport und in der Erlebnispädagogik konnte ich Jahre später in meiner Arbeit mit jugendlichen Strafgefangenen wieder anknüpfen.
Das Christophorus-Jugendwerk ist gemeinsam mit der Katholischen Fachhochschule Freiburg Initiator des Vereins „Für die Zukunft lernen – Verein zur Erhaltung der Kinderbaracke Auschwitz-Birkenau“ (www.fuer-die-zukunft-lernen.de). Hier schließt sich für mich der Kreis, wenn ich mit Studierenden unserer Hochschule und mit Mitarbeiter(inne)n und Jugendlichen des Jugendwerks jährlich für zehn Tage nach Auschwitz fahre, um so gemeinsam aus der Erfahrung der nationalsozialistischen Vergangenheit „für die Zukunft zu lernen“.
An meiner „Heimkarriere“ lässt sich deutlich machen, dass es in der Heimerziehung in kirchlicher Trägerschaft, auch in den 1950er und 60er Jahren, erhebliche qualitative Unterschiede gab. Das Anliegen von Peter Wensierski ist ernst zu nehmen. Er gibt in seinem Buch ehemaligen Heimkindern eine Stimme und damit auch die Möglichkeit, ihre leidvolle Biografie zu spiegeln. Wenn ich das richtig sehe, war sein Buch auch Mitauslöser der Gründung des „Runden Tischs Heimerziehung“, der von Antje Vollmer geleitet wird, wo ehemalige Heimkinder gleichermaßen vertreten sind wie auch Vertreter(innen) beider Kirchen.
Anmerkungen
1. Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt, 1973.
2. Wensierski, Peter: Schläge im Namen des Herrn : Die verdrängte Geschichte der Heimerziehung in der Bundesrepublik. Hamburg, 2006.
3. Brosch, Peter: Fürsorgeerziehung – Heimterror und Gegenwehr. Frankfurt, 1971.