Sterben in Würde
In Fachbeiträgen und Artikeln findet sich oft die Aussage, das Thema Sterben würde von der Gesellschaft ignoriert oder tabuisiert. Das Verlagern des Sterbens in die Institutionen Krankenhaus und Altenheim hat sicherlich dazu beigetragen, dass eine Einbettung in den Alltag und in die Familien immer unwahrscheinlicher geworden ist. Doch scheint der Verweis auf ein Tabu auf der Ebene der öffentlichen Auseinandersetzung in Schieflage zu geraten. Eine öffentliche Debatte zu den Themen Sterben und Tod hat innerhalb der letzten 20 Jahre stark zugenommen. Medial in den Vordergrund gestellt werden dabei die ethisch hoch komplizierten Sachverhalte wie die einer aktiven oder passiven Sterbehilfe und die damit verbundenen Einzelschicksale. Die zunehmende Präsenz des Themas Sterben spiegelt sich konkreter aber in der aktuellen Debatte um die gesetzliche Regelung der Patientenverfügungen und in der Änderung gesetzlicher Rahmenbedingungen (§§ 37b und 132d SGB V, Spezialisierte ambulante Palliativversorgung, SAPV) wider (siehe dazu auch neue caritas Heft 17/2008, S. 20-24). Das bedeutet, dass das eigentliche Tabu nicht mehr das Sterben an sich ist, sondern dass Fähigkeiten und Bewältigungsstrategien im Umgang mit Sterben und Trauer abhanden gekommen zu sein scheinen. Vielerorts haben es Institutionen wie Krankenhäuser, ambulante Pflegestationen, aber auch Altenheime versäumt, eine Kultur des Lebens und Sterbens zu entwickeln, zu denen nicht nur stimmige organisatorische Bedingungen und optimale strukturelle und räumliche Gegebenheiten zählen. Dazu gehören auch eine adäquate Art und Weise, das Thema in der Einrichtung zu integrieren, das heißt eine Kultur des Begleitens und des Abschiednehmens zu leben, die sowohl den sterbenden Menschen, seine Angehörigen, aber auch die Mitarbeiter(innen) der Einrichtungen erreicht. Eng bemessene Zeitkorridore in der ambulanten Pflege und ein spitz kalkulierter Personalschlüssel im stationären Bereich lassen dem Pflegepersonal kaum Freiräume zum Begleiten und Pflegen sterbender Menschen. Damit bleibt auch wenig Raum zum notwendigen Innehalten als Ausdruck würdiger Anteilnahme, aber auch zur Bewältigung der eigenen Trauer. Die Pfleger(innen) leben den täglichen praktischen und emotionalen Spagat zwischen der Herausforderung, Sterbenden und ihren Angehörigen nahe zu sein und dem Auftrag, das übliche Tagesgeschehen nicht außer Acht zu lassen. Trotzdem hat man den Eindruck, dass gerade diese Leistung der Pflegekräfte, die solche Aufgaben oft unter starker psychischer Belastung wahrnehmen, wenig auf gesellschaftliche Anerkennung stößt.
Ein Projekt sorgt für Veränderung
Mit dem seit Oktober 2006 laufenden Projekt "Würdige Sterbebegleitung in den stationären und ambulanten Einrichtungen des Caritasverbandes für die Region Kempen-Viersen" möchte der regionale Caritasverband die Situation in seinen zwei Altenheimen und sechs Caritas-Pflegestationen wesentlich verbessern. Dank der Finanzierung durch die Nettetaler Stiftung zur Unterstützung von Jugend und Alter war es möglich, ein Projekt in diesem Umfang zu gestalten. Es sollten Strukturen innerhalb der bestehenden Einrichtungen geschaffen werden, die es ermöglichen, schwer kranke und sterbende Menschen in ihrer gewohnten Umgebung bis zuletzt in Würde und unter Einbeziehung der ganzheitlichen Aspekte der palliativen Versorgung zu begleiten, ohne dass sie aus ihrem Zuhause oder ihrem Heim gerissen werden. Es war deshalb von Beginn an klar, dass es nicht darum gehen würde, eine separate Palliativstation innerhalb der Einrichtungen oder ein stationäres Hospiz zu errichten. Vielmehr sollten Erfahrungen und das gedankliche Konzept aus dem Hospiz- und Palliativbereich so weit wie möglich in die Einrichtungen transferiert werden. Es sollte außerdem gewährleistet sein, dass es eine nachhaltige Palliativkultur für alle Beteiligten gibt und es nicht nur bei einem sporadischen beziehungsweise kräftezehrenden Engagement Einzelner bleibt. Für die Verwirklichung des Projekts war es daher entscheidend, mitarbeiterorientiert zu arbeiten: Die zu entwickelnden Arbeitsabläufe zur Begleitung Sterbender sollten entlastend und praxisnah gestaltet werden. Beispielsweise sieht ein mit der Hospizinitiative Kreis Viersen geschlossener Kooperationsvertrag mit den Altenheimen vor, dass zwei Hospizhelfer(innen) je Einrichtung zur Verfügung stehen. Auch die Entwicklung palliativer Pflegeleitlinien trägt dazu bei, dass sich die Mitarbeiter(innen) in der Pflege und Begleitung von Sterbenden und ihren Angehörigen sicher fühlen und konkrete Hilfestellungen bieten können. Das Projekt wurde gemeinsam mit den Mitarbeiter(inne)n an der Basis, sozusagen als "Bottom-up"-Strategie, entwickelt. In den Arbeitsgruppen wurde die Erfahrung der Teilnehmer(innen) genutzt und durch spezielle Fachkenntnisse der in palliativer Versorgung ausgebildeten Mitarbeiter(innen) ergänzt. Zeitweise wurden Mitarbeitende für die Projektarbeit freigestellt und konnten sich an wichtigen Steuerungstreffen beteiligen.
Wissenschaftliche Begleitung sichert Ergebniss
Der besondere Charakter des Projekts kommt nicht zuletzt in der wissenschaftlichen Begleitung zum Ausdruck. Das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung ("dip", Köln) wurde als unabhängige Institution einbezogen. Das "dip" stand beim Aufbau und der Umsetzung des Projekts beratend zur Seite und evaluierte es.
Im Jahr 2007 nahmen 216 Mitarbeiter(innen) (60 Prozent) an einer schriftlichen Erstbefragung teil. Außerdem wurden 8 Mitarbeiter(innen)- gruppen interviewt. Auch 50 Angehörige beteiligten sich an einer schriftlichen Befragung. Das "dip" interviewte ebenfalls zwei Bewohner(innen)gruppen der stationären Einrichtungen und elf Patient(inn)en in den ambulanten Pflegestationen. Die Erstanalyse sollte zunächst zeigen, inwiefern die Menschen in den Einrichtungen im Sterben und Abschiednehmen begleitet werden und welche Erwartungen und Wünsche die Befragten haben. Im Mai 2008 folgte dann eine Zwischenevaluierung der bisherigen Projektergebnisse, die neue Anstöße für die weiteren Projektschritte hervorbrachte. Seit Projektbeginn ist die Angst, über das Thema mit Bewohner(inne)n und Patiente(inne)n und Angehörigen zu sprechen, bei 30 Prozent der Mitarbeiter(innen) gesunken. Auch ist die Sicherheit in der Begleitung Sterbender bei 37 Prozent gestiegen. 66 Prozent halten die Beschreibung erprobter Verfahren und palliativer Pflegemaßnahmen für nötig, 72 Prozent halten die Hilfestellung in der Klärung von kritischen ethischen Fällen (ethische Fallkonferenzen) für angebracht.
In den einrichtungsbezogenen Arbeitsgruppen fanden die Mitarbeiter(innen) Antworten auf Fragen, wie die Menschen palliativ begleitet werden können, wie die Angehörigen in die Begleitung einzubinden sind, wie die Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern verbessert werden oder die Abschiedskultur in den Einrichtungen gestaltet werden kann. Unter anderem wurde in den beiden Altenheimen ein Leitfaden entwickelt, der das Gespräch zwischen Bewohner(in), Angehörigen und Mitarbeiter(in) erleichtern soll, wenn es um die Wünsche in der letzten Lebensphase geht. Um die Pfleger(innen) in der Begleitung am Sterbebett zu unterstützen, ist in den Altenheimen pro Wohnbereich ein sogenannter Palliativkoffer im Einsatz. Er hält Utensilien wie Windlichter, Duftöle, religiöse Symbole, Musik-CDs und eine Text- und Gebetssammlung bereit.
Entscheiden kann man nur zusammen
Nicht nur durch die Befragungen wurde deutlich, dass palliative Pflegeleitlinien für die Arbeit an Bedeutung gewinnen, um in der oftmals schwierigen Pflege handlungsfähig bleiben zu können. Handlungsleitendes Motiv ist hier, den Schwerpunkt von Aktivierung und Heilung auf Linderung und Begleitung zu verlagern. Die entstandenen Pflegeleitlinien zum Thema Lagerung, Wundversorgung und Ernährung in der letzten Lebensphase streifen immer die Grenze des ethisch Vertretbaren und können vor allem nur gemeinsam mit Patient(in), Angehörigen und behandelndem Arzt würdig gestaltet werden. Deshalb liegt ein Projektauftrag klar darin, dass sich Einrichtungen mit Kooperationspartnern vernetzen. So wurden mit den örtlichen Hospizdiensten die Formen der Zusammenarbeit genau beschrieben und Ansprechpartner(innen) benannt, damit die Mitarbeitenden der Einrichtungen konkrete zusätzliche Hilfen vermitteln können. Darüber hinaus beteiligt sich der regionale Caritasverband am Palliativnetz Viersen, in dem es auch um die Verbesserung der Zusammenarbeit mit Mediziner(inne)n, Apotheken, Sanitätshäusern oder Schmerztherapeut(inn)en geht. Hier zeigte sich zunächst ein allseits bekanntes Phänomen: Es sind einzelne Personen, die sich stark engagieren und vieles bewegen. Aber für ein ländliches und somit ein Flächengebiet wie den Kreis Viersen reicht dies langfristig nicht aus. Für die kommende Projektlaufzeit bis September 2011 liegt ein Arbeitsschwerpunkt im Bereich der Erweiterung und Kooperation, um die Projektinhalte zu festigen und nachhaltig in der Region zu verankern.
Wie es weitergeht
Was bleibt nach Ende der Projektarbeit? Welche Wege gibt es, Erkenntnisse, Ideen und Neugeschaffenes so zu implementieren, dass sie Bestand haben? Als Fundament für eine palliative Kultur in den Einrichtungen setzt der Caritasverband für die Region Kempen-Viersen zum einen auf die ausgebaute fachliche Bildung und Begleitung der Mitarbeiter(innen). Nicht nur das Aneignen von Wissen steht dabei im Vordergrund, sondern auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Einstellung zu Sterben und Tod. Konkret heißt das, dass die Mitarbeiter(innen) sich in den verschiedenen Kompetenzbereichen ihrer Arbeit weiterbilden, supervisorische Angebote vorgehalten werden und individuelle sowie teambezogene Abschiedsrituale realisiert werden. Neben Erinnerungsbüchern und einem Totengedenken in den beiden Altenheimen haben die Caritas-Pflegestationen beispielsweise einen "Lebensbaum" gestaltet, an dem die Namensschilder der verstorbenen Patient(inn)en als sichtbare Erinnerung verbleiben. Außerdem gibt es ein Gedenken an verstorbene Patient(inn)en innerhalb der regelmäßig stattfindenden Teamsitzungen. Ein weiterer Sockel des Fundaments bietet der Gesetzgeber mit der Spezialisierten ambulanten Palliativ-versorgung (SAPV). Hier ist eine finanzielle Grundlage für die Begleitung von Menschen in ihrer letzten Lebensphase geschaffen worden. Was die organisatorischen und personellen Voraussetzungen angeht, so bestehen derzeit jedoch erhebliche Bedenken, ob diese von einzelnen Einrichtungen erfüllt werden können. Der Caritasverband für die Region Kempen-Viersen möchte mit dem Angebot eines ambulanten Palliativpflegerischen Dienstes, integriert in die Caritas-Pflegestationen, die Herausforderung annehmen und Menschen in ihrer gewohnten Umgebung würdig bis ans Ende ihres Lebens begleiten.
Anmerkung
Ein Zwischenbericht zum Projekt "Würdige Sterbebegleitung" sowie ein Bericht mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Begleitung stehen zum kostenlosen Download unter: www.caritas-viersen.de, www.dip.de zur Verfügung.