Kein Mensch kann Leben bilanzieren
Das Wort "Sterbehilfe" meint in seinem Ursprungssinn eine besondere Weise gelebter Mitmenschlichkeit. Aus New York hat Antoine de Saint-Exupéry seinem Freund Léon Werth (dem er den "Kleinen Prinzen" gewidmet hat) ins besetzte Frankreich geschrieben: "Ich muss dir helfen dürfen zu leben"1 - die prägnanteste Formel für Freundschaft und Mit-Menschlichkeit. Sterben ist ein Lebensgeschehen; denn Sterbende leben. Lebenshilfe in dieser Situation kennzeichnet eine eigene Selbstlosigkeit: sie verzichtet grundsätzlich auf Rückempfang des getanen Guten. Wer jemandem den Wunsch Tibulls erfüllt, kann ihn sich nicht von ihm erfüllen lassen: "Dich möcht’ ich anschaun, wenn meine letzte Stunde gekommen, Dich möcht’ ich halten im Tod mit erschlaffender Hand."2
Und nun wird dieser Name reiner Lebenshilfe zur euphemistischen Bezeichnung für die Tötung eines Menschen, ob in Allein- oder Mittäterschaft.
Verantwortung des mit Leben Beschenkten
In Ost wie West scheint die Weltweisheit übereinstimmend zu der Überzeugung gekommen, Leben sei Leiden. So die "edle Wahrheit" Buddhas und gleichen Sinnes die Griechen: "Das Beste ist, nicht geboren zu sein; und bist du geboren, das Zweitbeste, rasch wieder dorthin zu gehen, woher du kamst."3 Anders sehen das der "normale Mensch", der "lieber ein lebender Hund als ein toter Löwe" ist (Koh 9,5), und die biblische Schöpfungserzählung mit Gottes "Werde!"-Geheiß und der Bestätigung beim Abendrückblick des Schöpfers.
Der Begriff vom "Wert des Lebens" ist mit Vorsicht zu gebrauchen, denn der Wertbegriff stammt aus der Ökonomie. Leben ist jedoch keine Ware, sondern ein Grund-Gut, eine Kostbarkeit an und für sich. Seine Bejahbarkeit bestimmt sich nicht nach seiner Nützlichkeit für andere, noch nicht einmal nach seinem Bilanzwert für den Lebenden selbst, weil es sich überhaupt nicht nach einem Zweck oder Ziel beziehungsweise seiner Brauchbarkeit dafür bestimmt. Sein "Wert-Gewicht" erhält es anstatt vom Um-zu aus seinem Von-her: Leben heißt Gewolltsein, das sagt der Schöpfungsglaube von jeglichem Leben. Was immer Menschen sagen mögen: Keine(r) von uns ist bloß "passiert"; jede(r) ist gerufen, ist sich wie den anderen - gegeben.
Eine Gabe stellt indes immer auch eine Aufgabe dar - darum wecken bei aller Freude Geschenke nicht selten auch ein geheimes Ressentiment. Zuerst einmal hat man die Gabe entgegenzunehmen - oder man muss sie eigens verweigern, sich mühsam entschuldigen. Wem hätte die Annahme seiner selbst noch niemals Probleme bereitet?
Mit Geschenken ist richtig umzugehen, auch wenn sie einem "gehören". Haben bedeutet mehr als besitzen, es bedeutet: hüten. So auch das Leben, das eigene und das Leben anderer: als Gottes Gabe, die er nicht bloß leiht, sondern uns wirklich anvertraut.
So fordert Leben unsere Verantwortung heraus. Und die ist nicht vage allgemein zu denken, sondern im Vollsinn: Zu antworten hat jemand einem anderen - im Blick auf etwas oder jemanden. So geht es im Gewissen nicht zuerst um Normen, sondern um die Antwort an den heiligen Rufer. Und statt vom "Wert" des Lebens ist von seiner "Heiligkeit" zu reden. Heilig ist es, weil göttlich, das heißt: von Gott gegeben und ihm vorbehalten.4
Darum hat Leben nicht Zweck, sondern Sinn: Gründet die Heiligkeit des Lebens darin, dass es Geschenk ist, so zeigt sich als sein Adel, dass der Beschenkte es nicht "wie ein Beutestück" (Phil 2, 6) an sich reißt und festhält. Leben als Gabe erfüllt sich in seiner Annahme darin, dass es weitergeschenkt wird: "Keiner lebt für sich selbst" (Röm 14, 7).
Umstrittenes "Recht auf den Tod"
Ein Geschenk soll man nicht an sich reißen; doch ebenso wenig wirft man es fort. - Aber höflich ablehnen wird man es dürfen? Oder es dankbar zurückgeben wie ein gelesenes Buch?
Philosophisch wird der Suizid bis heute gegensätzlich beurteilt. Für die Stoa garantierte er die Souveränität des Menschen. Reflektierte Verteidigung in unserer Zeit erfuhr er durch Wilhelm Kamlah und Jean Améry. Platon hingegen verwarf den Suizid als Ungehorsam gegenüber den Göttern, und Aristoteles lehnte ihn unter Hinweis auf die Gemeinschaft ab. Auch Immanuel Kant hielt ihn für unerlaubt, weil das Subjekt der Sittlichkeit nicht ausgelöscht werden darf. Im Staatslexikon der katholischen Görresgesellschaft bestreitet Annemarie Pieper ein Recht auf Selbsttötung, verteidigt aber ihre Erlaubtheit.
In der Bibel wird der Suizid nicht streng verworfen: "So werden Fälle von Selbsttötung, die keine Verurteilung, sondern z.T. ausdrücklich Belobigung erfahren, bereits im AT und im frühen Christentum aufgeführt" (Ri 9,54; 16,30 [mit Hebr 11,32], 2 Makk 14,41-46.) In "der nt.l. [neutestamentlichen] Verkündigung spielt [sie - außer bei Judas] offenbar keine Rolle" (Bernhard Stoeckle).5
In der katholischen Moraltheologie hat sich für Jahrhunderte die entschiedene Ablehnung durch Thomas von Aquin durchgesetzt. Aus seiner Tradition führt er drei Argumente an6 - die neue Fragen aufwerfen:
1. Jede Sache liebt von Natur aus sich selbst, bewahrt sich im Sein und widersteht nach Kräften Zerstörendem. Wer sich tötet, handelt also gegen seine natürliche Neigung und gegen die Liebe. - Aber verliert der Mensch durch den Tod sein Sein? Und könnte er nicht gerade durch die Preis-, gar erst die Hingabe seines irdisch-leiblichen Lebens seine personale Identität bewahren, ja vollenden?
2. Der Mensch ist Teil der Gemeinschaft, und dieser tut er durch Selbsttötung Unrecht. - Doch ist die Person derart Teil? Und nicht vielmehr Teilhaber(in)?
3. Leben ist ein Gottesgeschenk an den Menschen, bleibt aber unter der Vollmacht des Herrn über Leben und Tod. So verfehlt der Suizidant sich gegen Gott.
Suizid als Votum und Signal
Im Horizont solcher Gedanken hat dieser Beitrag mit der Erinnerung an den Schöpfungsgedanken begonnen. Tatsächlich ist Gott der Herr über Leben und Tod und Herr des Urteils über den Sinn von Leben und Leiden.
Aber ist Gott nicht auch, im selben Sinn, Herr über Glück und Unglück und über Gesundheit und Krankheit? Und doch hat die christliche Tradition nichts gegen den Einsatz zur Verbesserung von Lebenssituationen und den Gang zum Arzt.
Allerdings hat vor Jahren Hansjürgen Verweyen Gedanken zu den Implikationen unbedingter Solidarität vorgelegt7: Wer angesichts himmelschreienden Leidens bei Gott protestiert, sieht sich vom Frage-Blick des Sterbenden getroffen und gerät dadurch in eine Aporie (Verlegenheitssituation): "Entweder er bleibt bei seinem Urteil über die absolute Sinnlosigkeit dieses Leidens." Dann wird es einen Augenblick geben, von dem an er den Sterbenden mit sich allein lässt und seinerseits weiter protestiert. - Oder er entscheidet sich dafür, ihn "auch bei diesem letzten Schritt in die Sinnlosigkeit hinein nicht allein zu lassen, ihm vielmehr zu signalisieren: ,Ich versuche mitzugehen‘".
Das verwandelt die Situation. "Mit dem Schritt auf jenes Dunkel zu muss der solidarisch Mitgehende eine Hoffnung auf Sinn wider allen Anschein von Sinnlosigkeit setzen, gleichsam blanko einen Scheck unterschreiben, den nur der einzulösen vermöchte, ,über den hinaus Größeres nicht gedacht werden kann‘."
Die Frage sittlicher Erlaubtheit des Suizids, "die heute (über die Entschuldbarkeit aus psychologischen Gründen hinaus) von Philosophen und Theologen offenbar in zunehmendem Maß vertreten wird", verneint Hansjürgen Verweyen mit demselben Argument: "Den vor mir zu Tode Gekommenen mag ich vielleicht noch ein solches Signal des Mitgehens gesetzt haben. Für die nach mir Sterbenden setze ich [durch den Suizid] ein deutliches Gegensignal. Sie lasse ich auf dieser dunkelsten Strecke ihres Lebens allein." Dieser Gedanke sei im Folgenden noch weiter zugespitzt.
Sein Weiterleben darf niemand rechtfertigen müssen
Wenn ich in bestimmten schweren Notlagen mich selber sollte töten dürfen, folgt daraus kaum schon, dass ich andere um Hilfe dazu bitten (geschweige denn: nötigen) darf. Fraglos aber besagt es, dass dann allen und jedem in vergleichbarer Situation der Suizid gleichermaßen erlaubt ist.
Damit jedoch geraten diese Menschen unter Rechtfertigungsdruck - angesichts der Belastung, die sie für ihre Mitwelt bedeuten. Das eigene Dasein rechtfertigen zu müssen aber erscheint als fundamentale Verletzung der Würde des Menschen; denn keiner ist dazu in der Lage. Niemand vermag selbst zu sagen, es sei gut und zu wünschen, dass es ihn gebe.
Gewahrt bleibt eines jeden Menschen Würde also einzig dann, wenn er auf die (auch unausgesprochene) Frage, warum er sich nicht töten (lassen) wolle, bloß erwidern darf: Es ist mir nicht erlaubt.
Man muss nicht positiv zeigen können, das Leben oder ein Abschnitt darin sei sinnvoll. Erst recht nicht, worin denn der Sinn von Schmerzen und Leid bestünde. Solche Versuche laufen wohl doch auf Zynismus hinaus. Das hat auch die biblische Tradition lernen müssen: Das Buch Hiob bezeugt es im Scheitern der räsonierenden Freunde. Menschlichkeit aber hat sich gerade angesichts unserer Antwortlosigkeit zu bewähren.
Gleichwohl sei noch ein letzter behutsamer Hinweis gestattet. Karl Rahner hat sich der Frage gestellt: Warum lässt Gott uns leiden?8 Natürlich auch er ohne Antwort. Aber er gibt zu bedenken, dass in der Praxis des Lebens die Annahme des Geheimnisses Gottes einzig in der schweigenden Annahme der Unerklärlichkeit und Unbeantwortbarkeit des Leides geschehe. Sonst würden wir eigentlich doch nur unsere Gottes-Idee, nicht Gott selbst bejahen. Geht so noch einmal - und gerade im Sterben, das uns unserer selbst ent-eignet - das Leben in seiner Heiligkeit auf? Heilig zutiefst darum, weil es uns zum Heiligen selbst führt?
Dabei einander helfen zu dürfen wäre der Adel jeder Lebenshilfe - zuhöchst jener, die sich in Sterbehilfe im eingangs benannten Sinne vollendet.
Anmerkungen
1. Saint-Exupéry, Antoine: Brief an einen Ausgelieferten. Karl Rauch Verlag, Boppard, 1948.
2. Tibull (geboren um 55 v. Chr.): 1. Elegie.
3. Sophokles: Ödipus auf Kolonos.
4. Das "Kainsmal" - Gen 4,15 - war ein Schutzzeichen in diesem Sinne: Sogar das Leben des Mörders ist heilig. Antasten darf es nicht Rache, sondern nur - wiederum heiliges - Recht.
5. Staatslexikon 7, Bd. 4, Selbsttötung: III. Ethische Positionen (1157-1159 - Annemarie Pieper), IV. Moraltheologische Beurteilung (1159-1160 - Bernhard Stoeckle).
6. Thomas von Aquin: Summa theologica, Sth II-II q 64 a 5.
7. Verweyen, Hansjürgen: Kants Gottespostulat und das Problem sinnlosen Leidens. In: ThPh 62 (1987) 580-587.
8. Rahner, Karl: Schriften zur Theologie XIV. Zürich 1980, S. 450-466.