Schwere Rückkehr aus der virtuellen Welt
Das Suchtpotenzial von Onlineportalen, Chatrooms1, E-Communitys2 und Onlinespielen und die klinische Relevanz damit verbundener Symptome werden in Fachkreisen zunehmend kritisch diskutiert. Hervorzuheben ist insbesondere die exzessive Nutzung von Computerspielen im Sinne eines abhängigen Spielverhaltens im Kindes- und Jugendalter.3
Nationale und internationale empirische Belege dafür, inwieweit solche interaktiven Medien von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kompetent oder aber suchtartig genutzt werden, existieren nur vereinzelt. Ein gesteigertes wissenschaftliches Engagement in diesem Bereich der Verhaltenssüchte ist jedoch zu registrieren. Aktuelle Fallzahlen und epidemiologische Angaben (zum Beispiel zur Prävalenzrate4 der Computerspielsucht) basieren allerdings zu einem großen Teil auf unterschiedlichen Zugängen zum Symptomkomplex. Der Einsatz standardisierter, evaluierter Erhebungsinstrumente mit verlässlichen psychometrischen5 Qualitäten ist somit eine Grundvoraussetzung, um aussagekräftige und vergleichbare Daten zu gewinnen. Gerade im bisher wenig beschriebenen Bereich pathologischer, exzessiver Verhaltensweisen bedarf es akkurater Diagnostik, um zu klären, ob süchtiges Verhalten vorliegt oder lediglich eine zwar exzessive, aber zeitlich begrenzte Aktivität. Insbesondere für Kinder und Jugendliche liegen wenige und stark differierende Angaben über die Zahl Betroffener mit pathologischem Onlinenutzungs- beziehungsweise Computerspielverhalten vor (vgl. Abb. 1). In einer Übersichtsarbeit über verschiedene internationale Studien zu den Prävalenzraten von Internetabhängigkeit6 variieren die Angaben zwischen drei und 13 Prozent.
Aktuelle Zahlen aus Hessen
Wegen der großen inhaltlichen Variationsbreite der verschiedenen Bereiche exzessiver Computer- und Internetnutzung (Computerspiel, Kaufen, Informationssuche, Sex, Glücksspiel) ist es jedoch dringend notwendig, die Verbreitung des pathologischen Ausprägungsgrades der einzelnen Auftretensformen getrennt voneinander zu erfassen.
Eine erste Erhebung zum exzessiven Computerspielen gab es im hessischen Suchthilfesystem im Jahr 2008. Innerhalb einer Kooperation zwischen dem Suchthilfeverbund Jugendberatung und Jugendhilfe (JJ) und der Ambulanz für Spielsucht der Kliniken der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz durchgeführt, zeigte sie einen Bedarf an regelmäßigen Beratungsangeboten auf. Bei dieser Erhebung wurden Mitarbeitende von 25 Einrichtungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten zu ihren praktischen Erfahrungen mit dem Störungsbild der Computerspiel- beziehungsweise Onlinesucht befragt. An der Erhebung nahmen zehn ambulante Suchtberatungsstellen, sieben Einrichtungen des betreuten Wohnens, sechs stationäre Therapieeinrichtungen sowie zwei Schulberatungsstellen teil.
Hilfeangebote und Nachfrage
Durchschnittlich wurden pro Quartal und Einrichtung zwei jugendliche Computerspielsüchtige beziehungsweise Jugendliche mit dem Verdacht auf Computerspielsucht vorstellig. Unter zusätzlicher Berücksichtigung junger Erwachsener beläuft sich die monatliche Inanspruchnahme auf 1,4 Besuche (das Durchschnittsalter der Betroffenen beträgt 16,9 Jahre). In insgesamt 63 Prozent der befragten Einrichtungen wurde bislang zumindest ein Fall eines computerspielsüchtigen Klienten registriert. Mit 46 Prozent wandte sich der Hauptteil der Hilfesuchenden an Einrichtungen der Suchtberatung. Auf stationäre Einrichtungen und Schulberatungen entfielen jeweils 20 Prozent der Computerspielsüchtigen, gefolgt von 14 Prozent in Einrichtungen des betreuten Wohnens. Die Kontaktaufnahmen und Beratungen erfolgten fast ausschließlich im persönlichen Gespräch. Über alternative Beratungsformen, wie etwa eine Onlineberatung, verfügen 23 Prozent der Einrichtungen. Jede siebte der Einrichtungen ohne Onlineberatungsangebot hat Interesse am Etablieren einer solchen Beratungsform bekundet.
Nach Einschätzung der Mitarbeiter(innen) lag bei 71 Prozent dieser Hilfesuchenden tatsächlich Computerspielsucht vor. Zu berücksichtigen ist, dass sich die Diagnostik an die ICD-107-Kriterien für Substanzabhängigkeit anlehnte. Demnach orientieren sich die Angaben am klinischen Eindruck, ohne Absicherung durch psychometrisch optimierte Verfahren. Zudem wurde von 60 Prozent der befragten Fachstellen angegeben, dass weiterer Qualifizierungsbedarf zum Störungsbild der Computerspielsucht bestehe.
Jede(r) zweite Betroffene suchte die Einrichtungen auf Anraten Dritter - wie zum Beispiel Eltern oder Schule - auf. Der häufigste Grund für die Suche nach Hilfe ist dabei in einem wahrgenommenen Leistungsabfall im schulischen Bereich zu sehen (50 Prozent), gefolgt von depressiven Symptomatiken (44 Prozent) und Tendenzen zum sozialen Rückzug (39 Prozent). Aggressives Verhalten (22 Prozent) und psychosomatische Belastungen (elf Prozent) sind weitere Motive.
Der Umfang therapeutischer Intervention bei Computerspielsucht wird auf durchschnittlich 4,7 Sitzungen pro computerspielsüchtigem Klienten veranschlagt. Von den behandelnden Therapeut(inn)en beobachtete Auffälligkeiten im Kausalzusammenhang mit der Sucht (Komorbiditäten) betreffen bei 79 Prozent der Patient(inn)en das soziale Spektrum, gefolgt von zusätzlichen psychischen Beeinträchtigungen (50 Prozent) sowie in 42 Prozent der Fälle eine komorbid vorliegende substanzgebundene Abhängigkeit (vgl. Abb. 2).
Den befragten Einrichtungen zufolge gibt es monatlich im Durchschnitt 0,8 Zugriffe auf ihre Beratungsangebote durch Angehörige Betroffener. In der Hälfte der befragten Einrichtungen wurde bislang zumindest einmal ein(e) Angehörige(r) eines computerspielsüchtigen Menschen vorstellig.
Fazit und Ausblick
Menschen, die unter Problemen mit dem eigenen Computerspielverhalten leiden, stellen keine statistischen Ausnahmefälle dar. Da gerade suchtgefährdende Online-Rollenspiele aufgrund eines hohen Werbedrucks und günstiger technischer Voraussetzungen (zum Beispiel Flatrates8) eine stetige Verbreitung erfahren, ist davon auszugehen, dass computerspielsüchtiges Verhalten künftig eher an klinischer Relevanz gewinnen denn verlieren wird.
Die dargestellten Ergebnisse der Erhebung in Hessen zeigen große Übereinstimmung mit empirischen Daten, die bei einer deutschlandweiten Studie zur Erfassung von Computerspielsucht in Suchthilfeeinrichtungen des Diakonischen Werkes erhoben wurden9. Dies weist auf einen steigenden Handlungsbedarf hin, dem gesell- schaftspolitisch Rechnung zu tragen ist - unter anderem durch eine vermehrte Bereitstellung angemessener Beratungs- und Behandlungsangebote im Suchthilfesystem.
Anmerkungen
1. Chatrooms sind "Plauderecken", in denen sich Nutzer(innen) mittels Tastatur und Bildschirm zu Themen austauschen.
2. E-Communitys beziehungsweise Social Communitys sind virtuelle Netzwerke wie die bekannten StudiVZ oder Xing, in denen sich Nutzer(innen) mit einem persönlichen Profil vorstellen und "Freundschaften" pflegen.
3. Vor allem sogenannte Massively Multiplayer Online Role-Playing Games (MMPORGs) wie zum Beispiel "World of Warcraft" können Spieler(innen) über lange Zeiträume binden.
4. Diese Kennzahl aus dem Gebiet der Epidemiologie (Krankheitsverteilung in der Bevölkerung) sagt aus, wie viele Menschen einer definierten Gruppe(ngröße) an einer (Sucht-)Erkrankung leiden.
5. Psychometrie als Querschnittsgebiet der Psychologie macht seelische Phänomene mittels statistischer Verfahren messbar.
6. Eichenberg, Christiane, und andere: Internetsucht, ein neues Störungsbild?, Psychomed 2003, 2, S.100-105.
7. Internationaler Krankheiten-Katalog der Weltgesundheitsorganisation.
8. Vom Nutzer pauschal bezahlter Zugang zum Internet ohne zeitliche oder Datenvolumen-Beschränkung.
9. Wessel, Theo; Müller, Kai W.; Wölfling, Klaus: Computerspielsucht: Erste Fallzahlen aus der Suchtkrankenhilfe. DHS Jahrbuch Sucht 2008, im Druck.
Literatur
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Batthyany, Dominik; Benker, Frank; Müller, Kai W.; Wölfling, Klaus: Computerspielverhalten : Klinische Merkmale von Missbrauch und Abhängigkeit. In: Wiener Klinische Wochenzeitschrift, in Druck.
Fisher, S.: Identifying video game addiction in children and adolescents. In: Addictive Behaviors, 19/1994, S. 545-553.
Greenfield, David N.: The Nature of Internet Addiction, 1999, www.virtual-addiction.com
Griffiths, Mark; Davies, Mark.N.O.; Chappell, Darren: Online computer gaming: a comparison of adolescent and adult gamers. Journal of Adolescence, 27/2004, S. 87-96.
Grüsser, Sabine; Thalemann, Ralf; Albrecht, Ulrike; Thalemann, Carolin: Exzessive Computernutzung im Kindesalter : Ergebnisse einer psychometrischen Erhebung. Wiener Klinische Wochenschrift, 2005.
Grüsser, Sabine; Thalemann, Ralf; Griffiths, Mark: Excessive computer game playing : Evidence for Addiction and Aggression? Cyber Psychology & behavior, 2007, S. 290-292.
Hahn, André; Jerusalem, Matthias: Internetsucht: Jugendliche gefangen im Netz. In: Raithel, Jürgen (Hrsg.): Risikoverhaltensweisen Jugendlicher : Erklärungen, Formen und Prävention. Opladen : Leske & Budrich, 2001.
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Wölfling, Klaus; Thalemann, R.; Grüsser, S.M.: Computerspielsucht: Ein psychopathologischer Symptomkomplex im Jugendalter. Psychiatrische Praxis, 2008, S. 226-232.