Community Organizing für eine politische Bürgergesellschaft
Barack Obama, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, arbeitete drei Jahre lang als Community Organizer für eine Bürgerplattform in Chicago. In der Tradition des Community Organizing bereitete er das gemeinsame Handeln von Menschen vor, damit sie selbstbestimmt für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in ihren Stadtgebieten eintreten. Diese Arbeit hat sein Politikverständnis geprägt.1 Sie ist auch für die Bürgergesellschaftsdiskussion in Deutschland von großer Bedeutung.
Hinter dem Diskurs um eine Bürgergesellschaft steckt die Frage nach einer neuen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Staat, Gesellschaft und Individuum. Diese berührt nicht nur die Frage der Sozialstaatlichkeit, ihrer Organisation und ihrer Finanzierung. Vielmehr geht es um die Grundlagen einer lebendigen, demokratischen Gesellschaft.
Die zukunftsweisende Frage für die deutsche Bürgergesellschaft lautet: Kann sie gegenüber Staat und Markt ein echter, anerkannter Partner, ein streitbares und seriöses Gegenüber werden, um nicht nur als Lückenbüßer oder - schlimmer noch - als reine Wohlfühlveranstaltung für Gönner auf der Strecke zu bleiben? Nur als gleichwertiger Partner kann sie den Platz einnehmen, der ihr in einer lebendigen Demokratie gebührt. Denn eigentlich ist sie nicht der "dritte Sektor" der Gesellschaft, sondern der erste. In ihr entstehen die Beziehungen des Respekts und des Vertrauens, ohne die Staat und Markt nicht bestehen können.
Eine mögliche praktische Antwort auf diese Frage will Community Organizing (CO) in Deutschland sein. CO steht für eine partizipatorisch-demokratische Kultur in der lokalen Zivilgesellschaft, bei der die Bürger eines (gefährdeten) Gemeinwesens durch den Aufbau einer selbstständigen Bürgerplattform strukturell die Möglichkeiten des "Sichbeteiligens" entwickeln, anstatt nur partiell und von oben "beteiligt zu werden".
Im Oktober 2005 startete hierzu das Kooperationsprojekt "Den Sozialraum mittels Bürgerplattformen von unten organisieren - Broad-based Community Organizing (CO-Projekte) in ökumenischer Verantwortung" des Deutschen Caritasverbandes2 und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB). Dieses Kooperationsprojekt erweiterte die 1999 in Berlin begonnenen Aufbauprozesse von Bürgerplattformen nach dem Ansatz von Community Organizing. Im Zeitraum von drei Jahren sollten an vier Standorten in Deutschland (Berlin-Wedding, Hamburg, Bruchsal und Region Stuttgart) mit Begleitung und Mentoring des Deutschen Instituts für Community Organizing (DICO/siehe Kasten) Bürgerplattformen aufgebaut werden. Trotz der unterschiedlichen Beschaffenheit der Standorte sowie des unterschiedlichen Rollenverständnisses der lokalen Caritasverbände sollten vergleichende Erkenntnisse gewonnen werden. Bis zum Ende des Projekts 2008 sind in Hamburg und Berlin-Wedding Bürgerplattformen entstanden. In Bruchsal wurde die Implementierung des Programms "Soziale Stadt" nachhaltig geprägt. Flankierend zur praktischen Arbeit fand die wissenschaftliche Begleitforschung durch das Berliner Institut für christliche Ethik und Politik (ICEP) statt.
Was ist Community Organizing?
Community Organizing baut lösungsorientiertes, zivilgesellschaftliches Engagement auf breiter gesellschaftlicher Basis von unten auf. Konkret verdichtet sich diese Tätigkeit in Form von parteipolitisch und konfessionell unabhängigen Bürgerplattformen, die sich aus einer Anzahl von zivilgesellschaftlichen Gruppen vor Ort zusammensetzen. Die von CO aufgebauten Bürgerplattformen unterscheiden sich von anderen Formen des zivilgesellschaftlichen Handelns durch einige entscheidende Merkmale:
- Sie beruhen auf einer breit angelegten Basis von intermediären Gruppen, Institutionen und Organisationen über sozioökonomische und ethnische Trennlinien hinaus. Diese sind durch respektvolle Beziehungen und gemeinsame Interessen verbunden.
- Sie legen Wert auf finanzielle, parteipolitische und ideologische Unabhängigkeit.
- Sie zielen auf Nachhaltigkeit, um langfristig planen und wirken zu können.
- Sie arbeiten mit vielen freiwilligen Schlüsselpersonen, nur wenigen Hauptamtlichen und minimaler Infrastruktur.
- Sie legen ihre Themen selbst fest und streben selbst erarbeitete, praktikable Lösungen für strukturelle Probleme an.
- Sie entwickeln eine hartnäckige und erfolgsorientierte Handlungsfähigkeit (mittels Aktionen und Aktionskampagnen), die sowohl auseinandersetzungswillig als auch kompromissbereit ist.
Aufbau von öffentlichen, persönlichen Beziehungen
Eine Voraussetzung für solidarisches, verantwortungsbewusstes Engagement sind tragfähige Beziehungen von zivilgesellschaftlichen Akteuren im Gemeinwesen. Folglich beginnt der Aufbau einer Bürgerplattform mit einer systematischen und intensiven Entwicklung öffentlicher, jedoch persönlicher Beziehungen, geprägt von Respekt und Vertrauen. Dieser Aufbau will bewusst religiöse, kulturelle und ökonomische Grenzen zwischen Gesellschaftsmitgliedern überwinden. In vielen Einzelgesprächen und später in kleineren Gruppentreffen stehen die Interessen, Sorgen und Visionen der Menschen im Mittelpunkt. In einer pluralisierten Gesellschaft, in der Differenz immer mehr zu einer kennzeichnenden Größe im Zusammenleben wird, ist der gezielte Aufbau von öffentlichen Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen einerseits eine Herausforderung. Andererseits ist sie eine notwendige Vorbedingung des gemeinsamen Handelns. Gerade auch im interreligiösen und multiethnischen Dialog sind diese grenzüberschreitenden Beziehungen von größter Bedeutung. Durch das gezielte Einbinden von unterschiedlichen Schlüsselpersonen, Gruppen und Organisationen in eine Plattform will CO eine Kultur der Verständigung unterstützen. Hier können sich Muslime, Katholiken und Protestanten mit ihren Anliegen begegnen und eine Basis für gemeinsames Handeln schaffen, ohne sich ausschließlich vor dem Hintergrund religiöser Unterschiede wahrzunehmen. Solche Beziehungen bilden eine Form von Sozialkapital aus, das gerade marginalisierten Gruppen häufig fehlt: das "Brückenkapital"3. Es kennzeichnet soziale Vernetzungen, die in der Lage sind, verschiedene gesellschaftliche Trennlinien zu überwinden und dadurch den Zusammenhalt moderner, pluraler Gesellschaften sichern.
Zu gemeinsamer Handlungsmacht befähigen
Beziehungsaufbau, auch wenn er einen Wert an sich darstellt, darf kein bloßer Selbstzweck sein. Bürgerplattformen sind Instrumente für die zivilgesellschaftlichen Kräfte vor Ort, sich für selbst definierte, gemeinsame und öffentliche Themen einzusetzen. Die Arbeit der Plattformen an diesen Themen ist eine Form demokratischer Beteiligung, die an Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen teilnehmen will, um somit als Partner von staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren anerkannt zu werden. Es geht in gewisser Weise um eine Demokratisierung der Demokratie, indem die formale Demokratie durch lokale Partizipationsformen als lebendiges Aushandlungsgeschehen in der Lebenswelt erfahrbar gemacht wird. Vertrauensverluste von Bürgern in staatliche Handlungs- und Lösungsfähigkeiten sind Folgen des fehlenden Austausches zwischen dem politischen System und den Lebenswelten der Bürger. In Letzteren steigt die Ohnmacht, das eigene Leben nicht mehr gestalten zu können. Dieser Entwicklung will CO durch die Förderung des gemeinsamen, öffentlichen Handelns von Menschen entgegenwirken. Gerade marginalisierte Gesellschaftsmitglieder sind tendenziell noch immer schwächer in den politischen und sozialen Beteiligungsstrukturen vertreten und leiden an einer eingeschränkten öffentlichen Handlungsfähigkeit. In den Bürgerplattformen sollen daher gezielt auch von Exklusion bedrohte oder betroffene Gesellschaftsmitglieder vertreten sein. Durch die soziale Beteiligung von Migranten oder Menschen mit Behinderung an Selbstorganisationsprozessen kann Zivilgesellschaft zur inkludierenden, befähigenden Struktur im Sozialraum - zur "Enabling Community" - werden.
Zwei neue Bürgerplattformen (ImPuls-Mitte Hamburg und ‚Wir sind da!‘ Bürgerplattform in Wedding und Moabit) sind im Zusammenhang mit dem Projekt entstanden. Sie umfassen insgesamt etwa 65 religiös und nicht religiös gebundene Gruppierungen und Institutionen, die zivilgesellschaftlich agieren. Darunter befinden sich einige katholische Kirchengemeinden sowie Caritas-Einrichtungen. Bei den Entstehungsprozessen wurden etwa 100 freiwillige Schlüsselpersonen in Wochenendseminaren in CO geschult; etwa doppelt so viele in kürzeren Treffen und Seminartagen. Es wurden zwei neue Organizer gefunden und ausgebildet. Über die unmittelbare Aufbauarbeit hinaus wurden erste konkrete Themen in Angriff genommen: Zuständigkeiten recherchieren, Lösungsvorschläge erarbeiten, Aktionen gegenüber Entscheidungsträgern durchführen.
Der DCV und Community Organizing
Der Deutsche Caritasverband versteht sich als Solidaritätsstifter. Er ermöglicht den Auf- und Ausbau solidaritätsfördernder Arrangements in der Gesellschaft. In der Entwicklung ehrenamtsfördernder Strukturen leistete der Verband in den letzten Jahren Pionierarbeit für eine zukünftige Bürgergesellschaft. Zudem erkannte er in seiner Befähigungsinitiative explizit an, dass die Befähigung von Menschen zur Teilhabe und Mitgestaltung von Gesellschaft zentrale Aufgabe caritativen Handelns ist. Mit dem CO-Projekt förderte der DCV gemäß diesen normativen Leitideen die Selbstorganisationsprozesse in Sozialräumen. Er ist somit Ermöglicher oder "Hebamme" für die Entwicklung von Bürgerplattformen. Er hilft, die notwendigen Veränderungen der sozialen und subsidiären Vereinbarungen angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen zu leisten.
Schwierig bleibt allerdings beim Einsatz von Community Organizing im Kontext der Caritas die anhaltende Spannung zwischen einer institutionalisierten, konservierenden (bis defensiven) Haltung und einer offensiven, pragmatischer Haltung, die zuerst Funktionen und erst nachträglich entsprechende Formen sucht. Daraus ergeben sich auch unterschiedliche Arbeitsweisen und -kulturen sowie Organisationslogiken, die nicht auf Anhieb kompatibel sind. Dahinter verbirgt sich der Spagat zwischen dem Ziel der Caritas, Stifter von Solidarität, und gleichzeitig Dienstleister im Auftrag eines sich immer mehr ökonomisierenden Sozialsystems zu sein. Diese Spannung gilt umso mehr, weil der politische Bereich unvermeidlich von CO tangiert wird.
Bürgerplattformen sind von ihrem Grundgedanken und von ihrem Wesen her keine Caritas-Projekte im herkömmlichen Sinne. Verbandliche Caritas kann eine Hebammenfunktion ausüben: Die in Hamburg erfolgreich mit der Hilfe von Caritas und Seelsorgeamt aufgebaute Plattform führt ihr eigenes Leben. Sie versteht sich nicht als Caritas-Plattform. Dies wird von beiden Seiten respektiert und geschätzt. Die Rolle des Ermöglichers entwickelt sich im Laufe des Prozesses zu der eines Verbündeten und Unterstützers. Dieses Verhältnis bietet der Caritas die Möglichkeit, auch Distanz zur Plattform zu bewahren, damit politisch gesehen keine Verwechslungen oder falsche Attributionen auftreten. Es geht darum, Prozesse anzustoßen und zu begleiten, und danach das neu Entstandene in die verbundene Selbstständigkeit zu entlassen.
Darüber hinaus kann die verbandliche Caritas wichtiger Partner der lokalen Bürgerplattformen sein. Mit ihren vielfältigen Institutionen und Einrichtungen ist sie traditionell als Wohlfahrtsförderer in den Gemeinwesen vertreten und somit Teil der lokalen Sozialstruktur. Insofern können Bürgerplattformen als Struktur genutzt werden, um die Kluft zwischen verbandlicher und pfarrgemeindlicher Caritas durch das gemeinsame öffentliche Wirken in Sozialräumen zu überwinden. Bürgerplattformen bieten hier Raum für Begegnung und gemeinsames Handeln im Sinne der Caritas als Lebensvollzug von Kirche. Bürgerplattformen können also eine Chance für die Caritas sein, ihrer Aufgabe zur Mitarbeit und Förderung der Gestaltung des öffentlichen Lebens gerecht zu werden, "durch ihre Tat zu zeigen, […] wie sich persönliche Initiative mit solidarischer Verbundenheit zum gemeinsamen Ganzen, (und) gebotene Einheit mit fruchtbarer Vielfalt verbinden lassen" (Gaudium et spes 75).
Anmerkungen
1. Vgl. Obama, Barack: Why Organize? Nachdruck mit deutscher Übersetzung in: Rundbrief des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit, 44. Jg., Oktober 2008, S. 1-10.
2. Das CO-Kooperationsprojekt wurde vom Referat Gemeindecaritas und Engagementförderung im Deutschen Caritasverband geplant und koordiniert und aus Mitteln der "Unser Stiftung" und der "Caritas-Stiftung" finanziert.
3. Diese Bezeichnung findet sich bei Putnam, der in seinen Untersuchungen zum sozialen Kapital die Unterscheidung zwischen "Bonding Capital" (exklusiv) und "Bridging Capital" (inklusiv) trifft. Putnam, Robert: Bowling Alone. New York : Simon & Simon, 2000, S. 22-24.