Community Organizing macht selbstbewusst
"Wir sind da!": Dass dieser Name Programm ist, davon zeugt die Gründungsversammlung dieser gleichnamigen Bürgerplattform. In der "Universal Hall" in Berlin-Moabit haben sich am 25. November 2008 mehr als 1100 Menschen versammelt, um nach zweieinhalb Jahren der Sondierung und Aufbauarbeit von vierzig Gruppen die Bürgerplattform zu gründen. Eine bunte Vielfalt der Gruppierungen - türkische, arabische, afrikanische, asiatische und deutsche - hat sich trotz unterschiedlicher kultureller und religiöser Wurzeln in der Plattform auf breiter Basis zusammengefunden. Unter den zahlreichen Gästen, darunter mehrere Abgeordnete des Deutschen Bundestages sowie des Berliner Abgeordnetenhauses, waren auch der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, der Rektor der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, Andreas Lob-Hüdepohl, sowie der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher.
Zusammenschluss dieser Größe ist beispiellos
Ein bürgerschaftliches Bündnis dieser Größenordnung und Vielfalt auf breiter gesellschaftlicher Basis ist in Deutschland bisher einmalig. Susanne Sander, Politologin und "Community Organizerin" der ersten Stunde in Wedding, sieht sich bestätigt: "Für die Menschen war es unheimlich wichtig zu sehen, was sie auf die Beine stellen können und dass ihre Beziehungen tragfähig sind. Nun geht es an die inhaltliche Arbeit." In den kommenden Monaten werden die Arbeitsgruppen der Plattform Ziele und Strategien bestimmen und dann konkrete Aktionen planen.
Die Idee klingt einfach und ist es auch wirklich: Wenn Bürger(innen) sich zusammentun, wenn sie gemeinsame Interessen feststellen und gemeinsam auftreten, um diese durchzusetzen, dann sind sie eine Macht, selbst wenn sie keiner Partei angehören. Es ist eine neue Qualität der Demokratie, mit der sich die etablierte Politik hier konfrontiert sieht.
Die Berliner Altbezirke Wedding und Moabit, die nach einer Bezirksreform gemeinsam mit Mitte und Tiergarten zum neuen Großbezirk Mitte zusammengefasst wurden, sind die Verlierer des Hauptstadtpokers. Während alle Welt von der "Neuen Mitte" redet, wo seit dem Mauerfall Berlin schick, international, gebildet und kreativ geworden ist, redet niemand von den Vierteln, in denen Arbeiter(innen), sozial Schwache, Hartz-IV-Empfänger(innen) und Migrant(inn)en leben. Der Soldiner Kiez, im Berliner Sozialstrukturatlas auf dem letzten Platz (Nr. 319) liegt zum Beispiel in Mitte. Doch selbst die Kommunalpolitiker(innen) verweisen auf diese Tatsache nur mit einem müden Lächeln. Auch jahrelanges Quartiersmanagement, das Berliner Allheilmittel für "Gebiete mit besonderem Entwicklungsbedarf", hat den Kiez bislang nicht retten können. Es sind die Menschen, die dort leben, die Susanne Sander davon berichten, wie sie sich im "Job-Center" mit Geringschätzung und Ignoranz behandeln lassen müssen, weil sie "nur" als Künstler(innen) arbeiten. Oder die sich von überforderten Beamt(inn)en sarkastische Antworten abholen dürfen und deren Kinder bei den Behörden schüchtern für die Eltern übersetzen, die nur unzureichende Deutschkenntnisse besitzen. Es sind diese Menschen, die sich, wie Gewerkschaften und andere Interessenverbände vor ihnen, nun zusammenschließen und gesellschaftlich organisieren, weil sie verstanden haben, dass sie nur gemeinsam etwas erreichen können.
Eine Tür ist eine Tür
Azize Karagülle, 51, ist eine von ihnen. Die Türkin, die 1968 nach Wedding kam, engagiert sich heute in einem Selbsthilfeverein mit dem bezeichnenden Namen "Kümmere Dich". - "Mein Papa hat es nicht gemocht, dass ich zur Schule gehe. Mein Papa sagte zu mir: ,Azize, wenn ich dir sage, das ist ein Tisch, ist das ein Tisch. Basta. Egal, was es ist.‘ Und ich hab ihm geantwortet: ,Nein, Papa. Wenn ich sehe, das ist kein Tisch, sondern eine Tür, dann ist es eine Tür. Irgendwann in meinem Leben werde ich viele Berge weit weg von hier sein. Und dann zählt, dass ich weiß, dass es eine Tür ist, und niemanden interessiert, ob du das für einen Tisch gehalten hast.‘"
Durchaus mit Respekt nennt sie Leo Penta "den Professor". Penta hat Community Organizing aus den USA nach Deutschland gebracht und hat den Aufbau in Wedding initiiert. Sie bewundert die Bildung des Hochschullehrers und Theologen - und vor allem, dass er dieses Wissen für Menschen wie sie einsetzt. "Es ist gut, dass er uns hilft, damit wir selbst auf gleicher Augenhöhe mit den Politikern sprechen können", findet sie (siehe auch den Titelbeitrag von Leo Penta Heft 6/2009).
Auch Selcuk Saydam, 36, berichtet bei der Gründung der neuen Bürgerplattform vom Schicksal, "bildungsfern" aufgewachsen zu sein, wie es im Neudeutsch der Sozialarbeiter(innen) heißt. Der Sohn türkischer Einwanderer half schon früh im elterlichen Betrieb aus und wurde wie sein Vater Bäcker. "Geld verdienen war wichtiger als Bildung", erzählt er. "Heute bin ich arbeitslos und kann ohne Bildung nicht einmal meinen Kindern bei den Hausaufgaben helfen." Bessere Bildungschancen für Kinder aus Migrantenfamilien will der gläubige Muslim erreichen. Sein Verein der Haci-Bayram-Moschee ist eine der vierzig Gruppen, die sich in der Bürgerplattform zusammengeschlossen haben.
Initiativen, Vereine und Organisationen sind das Herzstück von Community Organizing; im Ansatz steckt die Idee von "Community", Gemeinschaft. Der Boden dafür ist in Wedding und Moabit seit längerem bereitet, denn diese Stadtteile sind bereits von einem Netz an Zusammenschlüssen durchzogen, deren Namen auf "e.V.", "Werkstatt" oder "Projekt" enden. Nicht einzelne Bürger(innen) sollen sich Community Organizing anschließen, sondern solche, die sich bereits in Gruppen zusammengefunden haben. Nur so, erklärt Leo Penta, kann die kritische Masse erreicht werden, die wirklich etwas bewegt.
Wie eine Bürgerplattform funktioniert
In Berlin kann diese Organisationsform "Bürgerplattform" auf ein beeindruckendes Referenzprojekt im ehemaligen Industriebezirk Oberschöneweide verweisen. Leo Penta hat dort mit seinen Student(in- n)en von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in den 90er Jahren beobachtet, wie die monumentalen Industriehallen an der Spree von ihren Firmen verlassen wurden, leer standen und verfielen, während die Bewohner(innen) ratlos und ohnmächtig ohne Arbeit und Perspektive lebten. Die im Jahr 2002 gegründete Bürgerplattform "Menschen verändern ihren Kiez - Organizing Schöneweide" ist inzwischen in Berlin gut bekannt. Sie erfreut sich der Wertschätzung des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD), der zu der Erkenntnis gelangt ist, dass etablierte Politik alleine längst nicht alles kann. In jahrelangen Verhandlungen erreichte "Organizing" in Schöneweide, dass die bis dahin an mehreren Orten arbeitende Fachhochschule für Technik und Wirtschaft (FHTW) an einen sanierten Standort im Stadtteil umziehen durfte und somit neues Leben in das durch die Wende benachteiligte Quartier kam. Das ließ sich Berlin immerhin 108 Millionen Euro kosten. Wer sieht, wie selbstbewusst die Schöneweider nach ihrem Coup mit der Fachhochschule auftreten, ahnt, warum so mancher Politiker ungern "auf Augenhöhe" mit den selbst organisierten Bürger(inne)n verhandeln mag.
Solche Erfolge kann die neu gegründete Bürgerplattform in Wedding/Moabit natürlich noch nicht vorweisen. Dabei sind die hiesigen Probleme weit komplexer als im Südosten Berlins. Auf der Gründungsveranstaltung wurden die dringlichsten Anliegen in Wedding und Moabit geschildert: Die Schulen müssen mehr für und um die Kinder kämpfen, für den öffentlichen Drogenkonsum braucht es Lösungen, und das "Job-Center" muss beigebracht bekommen, für seine Kund(inn)en effizienter und freundlicher zu arbeiten.
Lee Schneider, Pastorin der Neuen Nazarethkirche in Wedding, engagiert sich in der Bürgerplattform, weil sie etwas gegen den Drogenkonsum im Umfeld des Gotteshauses unternehmen will. "Trinker übernehmen die Kirchenstufen und machen sie zur Kneipe", berichtet Schneider. "Dann erwarten sie noch, dass die leeren Flaschen entfernt werden." Bei einer Reinigungsaktion im Umfeld der Kirche seien 170 Heroinspritzen hinter den Büschen gefunden worden. Es komme vor, dass sich jemand in aller Öffentlichkeit auf der Kirchentreppe einen Schuss setze.
Niemand schaut hin; niemand nimmt sich der Suchtabhängigen an. Die Geistliche mit puerto-ricanischen Wurzeln möchte hier ansetzen: "Wir wollen das endlich ändern."