Pflegende Angehörige sprechen für sich selbst
In Deutschland leben mehr als zwei Millionen Pflegebedürftige. Rund eine Million dieser Menschen nimmt keinen Pflegedienst in Anspruch, das heißt, fast jeder zweite Pflegebedürftige wird in der Regel allein von nahestehenden Angehörigen gepflegt.1
Die Arbeit, die die Angehörigen leisten, ist enorm. Etwa zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt. Auch nach einem Umzug in ein Heim helfen Verwandte ihren pflegebedürftigen Angehörigen weiterhin in einem hohen Ausmaß. Jede(r) dritte Heimbewohner(in) erhält von eigenen Verwandten wöchentlich Pflege- und Hilfeleistungen.2 Doch fast 15 Jahre nach Einführung der sozialen Pflegeversicherung haben hierzulande pflegende Angehörige noch keine oder nur vereinzelt eine Lobby, und das, obwohl ihre wertvolle und unverzichtbare Pflegeleistung per Gesetz fest eingeplant ist.3
Die Mitwirkung pflegender Angehöriger ist in aller Regel nicht vorgesehen, wenn es darum geht, Pflegeangebote weiterzuentwickeln und nach Lösungen zur zukünftigen Sicherung der Pflege zu suchen. Wie lässt sich diese fehlende Einbeziehung erklären, wo doch pflegende Angehörige der größte "Pflegedienstleister" im Land sind, ohne den die pflegerische Versorgung gar nicht aufrechterhalten werden könnte? Pflegende Angehörige nehmen der Gesellschaft eine große Verantwortung ab. Wer Verantwortung übernimmt, muss auch Möglichkeiten zur Mitbestimmung haben. Deshalb unterstützt der Deutsche Caritasverband (DCV) in einem auf drei Jahre angelegten Projekt den Aufbau und die Förderung der Interessenselbstvertretung pflegender Angehöriger.4 Projektstart war der 1. April 2007. Wenn es der Caritas ernst damit ist, die Ressourcen und Fähigkeiten der Betroffenen im Sinne der Subsidiarität zu stärken und sich anwaltschaftlich für diejenigen einzusetzen, die keine Stimme haben, dann ist es auch Aufgabe der Caritas, dafür zu sorgen, dass sie eine Stimme bekommen, und ihnen auf diese Weise zu mehr Mitsprache und Beteiligung zu verhelfen. Die Initiative der Caritas für selbstbestimmte Teilhabe5 ist ein gutes Beispiel dafür, dass dieser Einsatz für Angehörige dem grundlegenden Selbstverständnis der Caritasarbeit entspricht. "Die Selbstvertretung von Klient(inn)en beziehungsweise durch Angehörige, wenn sie selbst dazu nicht in der Lage sind, ist zu fördern", so die Kommission "Sozialpolitik und Gesellschaft" der Delegiertenversammlung zu den Eckpunkten zur selbstbestimmten Teilhabe.6
Nicht Fürsorge, sondern Hilfe zur Selbsthilfe
Das ist das Neue an dem Projekt: Es geht über den Fürsorgeaspekt hinaus und stellt die Mitsprache und Selbstvertretung der Interessen in den Mittelpunkt. Pflegende Angehörige sollen den Schritt aus der familiären Zurückgezogenheit wagen und ihre Situation selbst zum öffentlichen Thema machen. Sie sollen als Expert(inn)en in eigener Sache (an)gehört werden, mehr Mitsprachemöglichkeiten erhalten und an Entscheidungen mitwirken können. Auf diese Weise ist es ihnen auch möglich, sich für die Interessen der pflege- und hilfsbedürftigen Menschen einzusetzen, die dazu nicht oder nicht mehr in der Lage sind. Dadurch wird eine zahlenmäßig sehr große Gruppe gestärkt, die sich bislang aus eigener Kraft kaum Gehör verschaffen konnte.
Pflegende Angehörige erhalten durch das Projekt ein Forum, um sich zu organisieren und mit ihren Wünschen und Interessen in ihrem sozialen und politischen Umfeld wirkungsvoll einzubringen. Für die Selbstorganisation brauchen sie Ermutigung und Unterstützung, um ihre Interessen an der richtigen Stelle zu artikulieren. Gemeinsam mit den Gliederungen der verbandlichen Caritas bietet ihnen der DCV mit dem Projekt diese Unterstützung an.
In Kooperation mit dem Referat "Förderung von Interessenselbstvertretung in der Behindertenhilfe und Pflege" beim Diözesan-Caritasverband Limburg und den Orts-Caritasverbänden Frankfurt, Hochtaunus, Main-Taunus und Breisgau-Hochschwarzwald sind mittlerweile lokale Foren entstanden, in denen sich derzeit 25 Teilnehmer(innen) engagieren. An vier Modellstandorten - Region Dreisamtal bei Freiburg, Frankfurt am Main, Hochtaunus-Oberursel, Maintaunus-Hofheim - finden alle vier bis sechs Wochen Gruppentreffen statt.7 Im Aufbauprozesses ihrer Interessenvertretung sind die Angehörigen auf eine fachkompetente Begleitung vor Ort angewiesen. Mitarbeiter(innen) moderieren den Gruppenprozess. Die beteiligten Angehörigen nehmen diese Unterstützung der Caritas dankbar an und schätzen sie. Die Themen wählt jede Gruppe selbst aus. Dabei orientieren sich die Angehörigen nicht allein an ihren persönlichen Interessen, sondern auch daran, welche Anliegen von allgemeinem Interesse für pflegende Angehörige sein könnten. Um ein Meinungs- und Bedarfsbild von möglichst vielen Angehörigen zu erhalten, plant eine Gruppe eine Angehörigenbefragung. Themen an anderen Standorten sind beispielsweise die bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, die Unterstützung der Angehörigenarbeit in Einrichtungen oder die Versorgung demenzkranker Menschen im Krankenhaus.
Die Öffentlichkeitsarbeit steht für alle Gruppen im Vordergrund. Die pflegenden Angehörigen möchten ihre Situation öffentlich machen und ihr Wissen auch an ihre Mitbürger(innen), Dienste und Einrichtungen bis hin zu politisch Verantwortlichen auf kommunaler und überregionaler Ebene weitergeben. Sie beginnen, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass sie selbst auf sich aufmerksam machen und sich einmischen müssen, wenn sie etwas bewegen wollen. Beispielsweise hat eine Gruppe ihre Interessen in einen Wahlkampf zur Bürgermeisterwahl eingebracht. Sie hat die Kandidaten dazu eingeladen, zum Thema "Alt werden in meiner Kommune" Stellung zu nehmen. Fünf Kandidaten stellten sich den Fragen und Anliegen der Angehörigen.
Um sich in der Öffentlichkeit Gehör verschaffen zu können, benötigen die Gruppen entsprechendes Rüstzeug in Form von Informationen, fachkundiger Anleitung und Schulungen. Dazu werden neben den lokalen Gruppentreffen auch zentrale Veranstaltungen angeboten, die das Empowerment und die Vernetzung der Gruppen fördern. Beispielsweise haben Pressereferenten der Caritas bei den letzten beiden zentralen Treffen eine Einführung in die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit gegeben. Erste Pressemitteilungen und Informationsveranstaltungen vor Ort sind bei pflegenden Angehörigen und in der Lokalpresse auf deutliches Interesse gestoßen. Weitere Teilnehmer(innen) konnten auf diesem Weg für die Mitarbeit gewonnen werden.
Ebenfalls wichtig sind Kenntnisse darüber, wie Lobbyarbeit funktioniert. In einer zentralen Schulung werden die Gruppen befähigt, ihre Interessen auf unterschiedlichen Ebenen und auch gegenüber der Politik zu vertreten. Es werden Wege aufgezeigt, wie und an wen sie ihre Anliegen weitergeben können, um damit Gehör zu finden.
Bedenken, dass pflegende Angehörige eigentlich keine Zeit für die Interessenvertretung haben, wurden mittlerweile aufgrund erster Erfahrungen entkräftet. Selbstverständlich fällt es pflegenden Angehörigen in der Regel aufgrund ihrer persönlichen Situation nicht leicht, die Teilnahme an den Gruppentreffen wahrzunehmen. Aus diesem Grund werden auch gezielt ehemals pflegende Angehörige einbezogen, die in der Regel über einen größeren zeitlichen Freiraum verfügen.
Die Vermutung liegt nahe, dass diejenigen, die die Zeit der Pflege hinter sich haben, sich dann auch nicht mehr in dem Bereich engagieren möchten. Doch ungefähr die Hälfte der Projektteilnehmer(innen) sind ehemals pflegende Angehörige. Dieser hohe Anteil zeigt, dass sie ihre aktive Pflegezeit nicht unbedingt als eine Phase der Belastung hinter sich lassen wollen, sondern diese Lebenszeit im Rückblick mit all ihren Schwierigkeiten, aber auch schönen Momenten für sie weiterhin präsent ist. Sie haben Interesse, ihre Erfahrungen weiterzugeben, damit andere nicht erst am Ende wissen, was sie zu Beginn der Pflege hätten wissen sollen. "Von einer Minute zur anderen wurde ich mit 48 Jahren zur Pflegerin. Mit nur 52 Jahren wurde mein Ehemann ein Pflegefall. Ich hatte keine Vorstellung davon, was auf mich zukommen würde", so eine Projektteilnehmerin, die ihren Mann zwölf Jahre zu Hause pflegte, bis er starb.
Auch der Einwand, pflegende Angehörige könnten in Anbetracht der kurzen Pflegephase kaum ein Interesse an einer Selbstvertretung entwickeln, konnte relativiert werden. Die durchschnittliche Pflegedauer beträgt 8,2 Jahre. Hilfe und Unterstützung werden oft noch viel länger geleistet. "Ich rutschte in die Pflege rein, ohne es zu merken", so die Bilanz einer Teilnehmerin, die ihren Ehemann neun Jahre lang zu Hause pflegte. Pflege kann Angehörige durchaus mehrmals betreffen. So ist es beispielsweise keine Seltenheit, dass beide Elternteile gleichzeitig oder nacheinander hilfs- und pflegebedürftig werden. Auch die Möglichkeit, irgendwann vielleicht selbst einmal pflegebedürftig zu sein, ist für viele pflegende Angehörige ein wichtiger Grund, sich für bessere Rahmenbedingungen in der Pflege einzusetzen.
Vom Dialog profitieren
Unterschiedliche Interessen zwischen Einrichtungen und Diensten und den Angehörigen können auch zu Konflikten führen. Hier kommt es darauf an, wie damit umgegangen wird. Konflikte werden nicht dadurch gelöst, dass sie verschwiegen werden. Nur wenn unterschiedliche Interessen und auch Kritik offen und konstruktiv ihren Platz haben, besteht die Chance, Interessengegensätze zu vermindern und ein gegenseitiges Verständnis füreinander zu entwickeln (siehe dazu nebenstehendes Statement). Einrichtungen und Dienste, die sich auf den gemeinsamen Dialog mit den Angehörigen einlassen, lernen deren Wünsche kennen. Sie können sich auf ihre Bedürfnisse einstellen und bedarfsgerechte Angebote vorhalten. "Das Gute an Märkten ist, dass Anbieter die Interessen der Nutzer(innen) ihrer Dienste nicht dauerhaft ungestraft ignorieren können."8 Angebote, die am Bedarf vorbeigehen, werden über kurz oder lang auf den Märkten sozialer Dienste nicht mehr nachgefragt werden.
Die Projektteilnehmer(innen) setzen sich für einen partnerschaftlichen Dialog ein. Ihrer Meinung nach können die zukünftigen Herausforderungen der Pflege nur gemeinsam angegangen werden: Für die lokalen Foren wurde an einigen Standorten deshalb der Begriff "Pflege-Dialogforum" gewählt. In die Projektgruppen sind auch ehrenamtlich Engagierte und Pflegeprofis miteinbezogen. Nicht selten sind hauptberuflich oder ehrenamtlich Pflegende gleichzeitig auch pflegende Angehörige. Diese "doppelte" Betroffenheit erhöht das gegenseitige Verständnis.
Das Projekt zeigt, dass die Selbstvertretung pflegender Angehöriger möglich ist, wenn sie dabei unterstützt werden und entsprechende Rahmenbedingungen zur Verfügung stehen. Der Deutsche Caritasverband leistet hier gemeinsam mit den Kooperationspartnern und den pflegenden Angehörigen Pionierarbeit. Damit nimmt die Caritas gegenüber anderen Wohlfahrtsverbänden eine Vorreiterfunktion ein, die sie sich nicht nehmen lassen sollte. Eine Caritas, die es mit der selbstbestimmten Teilhabe der Hilfesuchenden ernst meint, darf den Aufbau der Interessenselbstvertretung pflegender Angehöriger nicht einigen wenigen Diözesen, Einrichtungen und Angehörigen überlassen. Die Selbstorganisation pflegender Angehöriger ist auf viele Förderer, Unterstützer und Nachahmer angewiesen.
In irgendeiner Form sind wir alle Angehörige und werden in einer Gesellschaft des langen Lebens mit großer Wahrscheinlichkeit auch einmal pflegende Angehörige sein. Daher sollten wir uns in unserem eigenen Interesse für die Lobby pflegender Angehöriger einsetzen.
Anmerkungen
1. Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 2007 - Deutschlandergebnisse. Wiesbaden, 2008, S. 4.
2. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in stationären Einrichtungen (MuG IV) - Befunde und Empfehlungen. Zusammenfassung, Berlin, 2008, S. 4; www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/BMFSFJ/Service/Publikationen/publikationen,did=109690.html
3. Im SGB XI Soziale Pflegeversicherung § 19 sind Hauptpflegepersonen definiert als Personen, die einen Pflegebedürftigen nicht erwerbsmäßig in seiner häuslichen Umgebung pflegen.
4. "Pflegende Angehörige" steht für Familie, Verwandte, Freunde, Nachbarn und andere Bezugspersonen, die nichtberuflich pflegen oder betreuen beziehungsweise gepflegt haben - unabhängig davon, wo sie helfen.
5. Näheres unter www.teilhabeinitiative.de
6. Erläuterungen der Kommission "Sozialpolitik und Gesellschaft" der Delegiertenversammlung des DCV zu den Eckpunkten "Selbstbestimmte Teilhabe sichern, Märkte ordnen, im Wettbewerb bestehen" vom 18. Oktober 2007 in Erfurt. In: neue caritas Heft 2/2008, S. 34.
7. Im März 2009 haben die vier Projektgruppen die Ziele ihrer Interessenselbstvertretung in einem Informationsblatt zusammengestellt. Informationen über die Projektleiterin (claudia.brinner@caritas.de) und unter www.caritas.de/62114.html
8. Cremer, Georg: Selbstbestimmte Teilhabe ist leitende Norm. In: neue caritas Heft 2/2007, S. 10.