Bewährungsprobe für die soziale Marktwirtschaft
In der Derzeitigen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise zeigt sich dringender Handlungsbedarf bei der Gestaltung des ordnungspolitischen Rahmens der Marktwirtschaft. Die gegebene Regulierung des Finanzmarktes hat nicht verhindern können, dass Risiken entstanden sind, die die staatliche Wirtschaftspolitik zwingen, sogenannte "systemrelevante" Finanzinstitutionen mit Stützungszahlungen und Bürgschaften zu Lasten der Steuerzahler vor dem Zusammenbruch zu bewahren.1 Es gefährdet die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft, wenn privat vereinnahmten Gewinnen die Sozialisierung der Verluste entgegensteht. Der entscheidende Hebel für eine Senkung des künftigen Risikos ähnlicher Krisen muss bei der staatlichen Regulierung ansetzen. Natürlich gibt es auch eine individuelle Verantwortung der Handelnden dafür, dass sie die im Rückblick ganz offensichtlichen Risiken wie die der Verbriefung von Hypothekenkrediten nicht ausreichend erkannt haben oder nicht erkennen wollten. Wenn aber ein ganzer Wirtschaftszweig über Jahre solch hohe Risiken eingehen kann, dann ist dies auf Ebene eines Appells an das individuelle Verhalten nicht zu beheben.
Die vom DCV eingenommene Grundsatzposition zur Gestaltung der Märkte sozialer Dienstleistungen, die sich am Wahlrecht hilfebedürftiger Menschen orientiert, wird durch die Wirtschaftskrise nicht in Frage gestellt ("Selbstbestimmte Teilhabe sichern, Märkte ordnen, im Wettbewerb bestehen", Beschluss der Delegiertenversammlung 2007 des DCV2). Der DCV sollte die Chancen eines politischen Klimas nutzen, in dem - so ist zu wünschen - stärker ziel- und wirkungsorientiert als in der Vergangenheit über Fragen der Rahmensetzung von Märkten diskutiert werden kann, und sich für einen Ordnungsrahmen für den Wettbewerb sozialer Dienste einsetzen, der die Rechte der Nutzer stärkt. Damit leistet er zugleich einen Beitrag zur Zukunftssicherung der sozialen Marktwirtschaft.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt erneut, wie notwendig ein System sozialer Sicherung für alle Bürger ist. Der drastische Rückgang der Exporte in der Investitionsgüterindustrie - beispielsweise - bedroht auch gut qualifizierte Arbeitskräfte. Die soziale Sicherung wirkt in der Krise stabilisierend. Wer seine Arbeit verliert, muss nicht um den Krankenversicherungsschutz für sich und seine Familie fürchten, im Gegensatz zu Beschäftigten in den USA, die über ihren Arbeitgeber privat krankenversichert sind. Die Sozialleistungen in der Krise sichern Nachfrage. Kündigungsschutz und Kurzarbeit wirken raschen Entlassungen entgegen.
Die Krise schränkt die staatliche Handlungsfähigkeit ein. Die aufgelegten Konjunkturprogramme und die Stützungsmaßnahmen für gefährdete Finanzinstitutionen führen zu einer Ausweitung der Staatsausgaben und der öffentlichen Verschuldung mit folglich steigenden Zinslasten. Bund, Länder und Gemeinden haben 2009 bis 2013 Steuerausfälle von circa 300 Milliarden Euro zu verkraften. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit führt zu steigenden Ausgaben für Transferleistungen an arbeitslose Menschen und zu Einnahmenausfällen bei den Sozialversicherungen. Es sinken die Chancen, strukturelle Verbesserungen, wie etwa das Konzept der Caritas gegen Kinderarmut, durchzusetzen. An den Schnittstellen zwischen den Sicherungssystemen werden die Konflikte zwischen den Kostenträgern zur Abgrenzung von Leistungsansprüchen und der Kostenzuordnung (Verschiebebahnhof) wieder zunehmen.
Innerhalb des Sozialbereichs hat die Forderung hohe Sympathie, der absehbaren Einschränkung der staatlichen Handlungsfähigkeit durch Steuererhöhungen entgegenzuwirken. Der DCV sollte vermeiden, die Illusion zu befördern, man könne in starkem Maße die staatlichen Einnahmen erhöhen, ohne die Belastung auch für die Mittelschicht zu erhöhen. Und er sollte eindeutig gegen die Illusion von Steuersenkungen Stellung beziehen, da damit die staatliche Handlungsfähigkeit weiter eingeschränkt würde.
Konsequenzen aus den Steuerausfällen
Besonderes Augenmerk erfordert die finanzielle Situation der Kommunen. Die Steuerausfälle der nächsten Jahre bei ihnen werden auf 43 Milliarden Euro geschätzt. Mit wachsender Arbeitslosigkeit steigen gleichzeitig ihre Ausgaben für Unterkunft und Heizung für ALG-II-Empfänger. Ob Befähigung gelingt, entscheidet sich auch daran, ob soziale Dienste im Nahraum erhalten werden können. Die Chancen, wirksam für den Erhalt von Beratungsstellen und anderen sozialen Dienstleistungen im kommunalen Bereich einzutreten, werden umso größer sein, je glaubhafter auch die Bedeutung der Dienste für die Prävention künftiger sozialer Notlagen nachgewiesen und öffentlich vermittelt werden kann. Gegebenenfalls sind in der Krise spezifische Hilfen für hoch verschuldete Kommunen erforderlich, die unter Haushaltsaufsicht stehen und von der Rechtslage her keine nicht gesetzlich erzwungenen Leistungen bereitstellen dürfen.
Aufgrund der eingeschränkten Handlungsfähigkeit des Staates sinken die Chancen, eine "Sozialpolitik der Befähigung" durchzusetzen und die massiven Benachteiligungen zu überwinden, die junge Menschen aus benachteiligten Milieus daran hindern, ihre Potenziale zu entfalten. Der DCV muss sich dafür einsetzen, dass trotz der eingeschränkten staatlichen Handlungsfähigkeit Bildung, Ausbildung und Integration in den Arbeitsmarkt verbessert werden. Dies ist aus sozialen Gründen geboten und Voraussetzung für die Nachhaltigkeit der Sicherungssysteme. Befähigung muss mehr als bisher in den Regelsystemen des Sozialstaats erfolgen. Dies beinhaltet auch für die Dienste und Einrichtungen der Caritas eine Selbstverpflichtung.
Die gesellschaftliche Solidarität erhalten
In der eingeschränkten staatlichen Handlungsfähigkeit wächst die Aufgabe des DCV, politische Entscheidungen unter dem Blickwinkel der Partizipationsinteressen armer Menschen und der Menschen am Rande zu beurteilen. Die Dynamik des politischen Prozesses wird eher dazu tendieren, noch gegebene Verteilungsspielräume "mit der Gießkanne" zu verteilen oder wahlrelevante Schichten zu bevorzugen, wie beispielsweise die derzeitigen Eingriffe in die Rentenanpassungsformel zeigen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass eine Sozialpolitik für die Mitte, die eine Politik der Nachhaltigkeit der großen Sicherungssysteme einschließt, nachrangig ist. Es wird sicherlich schwer, Solidaritätspotenziale zu erhalten, wenn es nicht gelingt, den ohnehin verbreiteten Abstiegsängsten der Mittelschicht entgegenzuwirken. Ob allerdings die willkürlichen Eingriffe in die Rentenanpassungsformel diese Ängste mildern können, ist mehr als zweifelhaft.
Soziale Netze sichern
Die Krise führt nicht zu grundsätzlich neuen Herausforderungen für die Dienste und Einrichtungen der Caritas, ihre Stellung in den Märkten sozialer Dienstleistungen zu behaupten. Aber sie dürfte die zeitliche Dringlichkeit erhöhen, mit der diese Herausforderungen zu bewältigen sind. Die Krise wird deutlich spürbare Folgen für die Refinanzierung der Dienste und Einrichtungen der Caritas haben. In den härter werdenden Auseinandersetzungen um Prioritätensetzung in den öffentlichen Haushalten wird die verbandliche Caritas für den Erhalt sozialer Dienstleistungen eintreten, aber der Versuch, den Spardruck allein durch politisches Lobbying abzuwehren, wird nicht erfolgreich sein. Für die Orts-Caritasverbände wird entscheidend sein, ob das soziale Netz auf kommunaler Ebene erhalten wird beziehungsweise welche Einschnitte hier verkraftet werden müssen.
Betroffen sind aber auch Dienste und Einrichtungen, bei denen die Ansprüche der Nutzer gesetzlich abgesichert sind, wie in Krankenhäusern und Einrichtungen der Alten- oder Behindertenhilfe. Der höhere finanzielle Druck wird insbesondere die Konflikte zur Refinanzierung der Personalkosten, die den Löwenanteil der Kosten ausmachen, verschärfen. Die Caritas ist insbesondere in den Regionen und bei den Tätigkeitsfeldern (Wirtschaftsbereiche) verwundbar, in denen nach den AVR deutlich oberhalb des Niveaus der Mitbewerber zu vergüten ist, die Vergütung also nicht den Wettbewerbsverhältnissen entspricht. Somit wird es für die Stellung der Caritas im Wettbewerb sozialer Dienste noch entscheidender, dass eine Tarifpolitik gelingt, die flexibel den jeweiligen Wettbewerbsbedingungen der Dienste und Einrichtungen Rechnung trägt - wie sie mit der Neuordnung der Arbeitsrechtlichen Kommission intendiert war, bisher aber nicht realisiert werden konnte.
Ein weiteres Risiko besteht bei der Refinanzierung der Investitionskosten. In wichtigen Hilfefeldern findet der Übergang von der objektbezogenen zur subjektbezogenen Finanzierung über die Leistungsentgelte statt. Dies kann Chancen bieten. Die Umstellung wird aber dann höchst problematisch, wenn die Investitionskosten in den Leistungsentgelten nicht angemessen abgebildet sind.
Die Krise offenbart zudem erneut die Notwendigkeit, alle geeigneten Instrumente zu nutzen, die die Stellung der Dienste und Einrichtungen der Caritas in den Märkten sozialer Dienstleistungen festigen. Hier schöpft die verbandliche Caritas ihre Potenziale bei weitem nicht aus - wie etwa beim Crossmarketing oder beim Benchmarking. Dringend ist daher die Kooperation zwischen den verbandlichen Ebenen, um den Trägern der Dienste und Einrichtungen entsprechende Dienstleistungen anbieten zu können, sowie auch eine Analyse, warum das Benchmarking bisher nur in einem unbefriedigenden Umfang genutzt wurde.
Anmerkung
1. Ein ausführliches Hintergrundpapier zu den Folgen der Wirtschaftskrise finden Sie unter www.caritas.de/generalsekretaer
2. S.a. neue caritas Heft 2/2008, S. 32ff