Nur wer sich einbringen kann, gehört dazu
Selbstbestimmte Teilhabe für alle ermöglichen: Dies steht aktuell für die Jahre 2009 bis 2011 im Fokus des Deutschen Caritasverbands (DCV). Dieser Teilhabeinitiative ging die drei Jahre dauernde Befähigungsinitiative für benachteiligte Kinder und Jugendliche voraus. Durch die Kampagnen "Mach dich stark für starke Kinder" (2007) und "Achten statt ächten. Eine Initiative für benachteiligte Jugendliche" (2008) ist es gelungen, in der Öffentlichkeit auf die Stärken und Potenziale der jungen Menschen aufmerksam zu machen. Der Ansatz der Befähigungsgerechtigkeit war das Leitprinzip für diese Initiative.
Wir befinden uns also nun nicht nur am Schnittpunkt zwischen zwei Initiativen, sondern auch zwischen selbstbestimmter Teilhabe und Befähigung. Grund genug nachzufragen, wie diese Prinzipien und Initiativen zusammenhängen.
Was Befähigung bedeutet
Im Wort Befähigung steckt der Begriff Fähigkeiten. Die Befähigungsgerechtigkeit wurde wesentlich durch die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum begründet und hat eine hohe Anschlussfähigkeit zur christlichen Sozialethik. Martha Nussbaum geht davon aus, dass Menschsein durch bestimmte Eigenschaften gekennzeichnet ist, denen sich Fähigkeiten (engl. "capabilities") zuordnen lassen. So korrespondiert beispielsweise mit der Eigenschaft, einen Körper zu haben, die Fähigkeit, gesund und angemessen ernährt zu sein. Mit der Vernunft hängt die Fähigkeit zusammen, Entscheidungen reflektieren und treffen zu können. Diese Fähigkeiten gehören zur Natur des Menschen. Wo sie nicht verwirklicht werden können, herrscht soziale Ungerechtigkeit. Der Mensch verfügt grundsätzlich über diese Fähigkeiten, auch wenn sie aufgrund physischer oder psychischer Situationen eingeschränkt sein können.1 Doch um diese Fähigkeiten entfalten zu können, muss die Gesellschaft die notwendigen Voraussetzungen schaffen. Dazu gehören zum Beispiel ein gerechtes Bildungssystem und eine ausreichende Gesundheitsversorgung, die niemand alleine sicherstellen kann. Dies ist die Verantwortung und Pflicht der Gesellschaft. Befähigungsgerechtigkeit brauchen alle, ganz besonders Kinder und Jugendliche. Denn in der Kindheit und den Chancen, die ein Kind in dieser Zeit hat, liegt ein Schlüssel für seine Möglichkeiten in der Zukunft. Jugendliche, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft keinen Schulabschluss erreichen, haben ein viel höheres Armutsrisiko. Die Befähigungsinitiative hat versucht, die Ursachen von Kinderarmut und Ausgrenzung zu bekämpfen. Sie war Ausdruck einer befähigenden und präventiv wirkenden Sozialpolitik des DCV.
Teilhabe heißt dazugehören
Eine der Grundfähigkeiten, die zu einem menschenwürdigen Leben gehören, ist die Fähigkeit, dieses zu gestalten und sich auf familiäre und gesellschaftliche Interaktion einzulassen. Das alles setzt Teilhabe voraus. Es geht um Teilhabe in verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens. Alle Bürger(innen) haben ein Recht auf Teilhabe an politischen und wirtschaftlichen Prozessen. Sie haben auch ein Recht auf soziale und kulturelle Teilhabe. Menschsein findet in sozialen und politischen Kontexten statt, eine fehlende Teilhabe daran hat existenzielle Folgen.2 Teilhabe heißt gleiche Zugangsmöglichkeiten zu allen gesellschaftlichen Bereichen. Teilhabe bedeutet das Gefühl, dazuzugehören, einen Platz in der Gesellschaft zu haben und gebraucht zu werden. Sie heißt auch, Handlungsspielräume zu haben und die eigene Lebenssituation verändern zu können. Menschen, die in verfestigter Armut leben und ausgegrenzt sind, haben diese Teilhabechancen nicht oder nur kaum. Sie fühlen sich oft abgehängt von den Prozessen und der Zukunft einer Gesellschaft.
Wie hängen Befähigung und selbstbestimmte Teilhabe nun zusammen? Es handelt sich dabei nicht um ein Phasen-Modell nach dem Motto: Erst werden alle Menschen befähigt und dann können alle an der Gesellschaft teilhaben. Es geht vielmehr um ein Ineinandergreifen beider Gerechtigkeitskonzepte. Nur wer befähigt wird, seine Fähigkeiten frei zu entfalten, kann auch selbstbestimmte Teilhabe verwirklichen. Umgekehrt kann nur derjenige, der am gesellschaftlichen Leben teilhat, seine Fähigkeiten frei entfalten. Befähigung und selbstbestimmte Teilhabe müssen also Hand in Hand gehen.
Die Forderung nach Teilhabe in der Gesellschaft darf keinen affirmativen Charakter bekommen in dem Sinne, dass die bestehenden Verhältnisse automatisch als gut angesehen werden. Die Gesellschaft kann auch ungerechte Strukturen oder Institutionen beinhalten. Zu fragen ist immer auch nach der Veränderung gesellschaftlicher Mechanismen und Strukturen.3 Alle gesellschaftlichen Entwicklungen, politischen Entscheidungen und Strukturen müssen daraufhin überprüft werden, inwieweit sie zur selbstbestimmten Teilhabe aller beitragen, ob sie Hilfe zur Selbsthilfe leisten oder neue Abhängigkeiten bedeuten. Das gilt auch für die Arbeit von Caritasorganisationen.
Selbstbestimmung ergänzt Teilhabe
Die Selbstbestimmung stellt eine wichtige Ergänzung zur Teilhabe dar. Sie ist begründet in der jedem Menschen von Gott geschenkten Würde. Jeder muss über seine Teilhabe selbst bestimmen können. Es gibt auch ein Recht zur Nicht-Teilhabe.
Der Begriff Selbstbestimmung stellt zugleich einen Paradigmenwechsel dar, weg vom Modell der "Fürsorge" hin zu (mehr) Eigenverantwortung der Menschen, wie sie ihre Teilhabe verwirklichen. Selbstbestimmte Teilhabe ist natürlich nicht als reiner Egoismus zu verstehen. Das Recht auf selbstbestimmte Teilhabe steht in einem Wechselverhältnis zur Pflicht des Einzelnen zur Solidarität.
Bis in die 90er Jahre war der Begriff Teilhabe fast ausschließlich in der Behindertenhilfe geläufig und im Sozialgesetzbuch Neuntes Buch verankert. In den vergangenen Jahren wurde der Begriff der (selbstbestimmten) Teilhabe zunehmend gebräuchlicher und zwar als Maßstab von sozialer Gerechtigkeit, bezogen auf alle Menschen in der Gesellschaft. Teilhabe wird als neues Konzept und gesellschaftlicher Wert für alle Bürger(innen) verwendet. Eine allgemeingültige Definition und ein einheitliches Konzept für den Begriff liegen jedoch bisher nicht vor.
Ein Leitprinzip in der Politik und der sozialen Arbeit
Zunehmende Bedeutung hat das Teilhabekonzept vor allem durch den Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vom April 2005 erhalten. Der Bericht orientiert sich nicht mehr allein an der Verteilung ökonomischer Ressourcen, sondern er verwendet das Konzept der Teilhabe- und Verwirklichungschancen und den Lebenslagenansatz als Grundlage für die Armuts- und Reichtumsberichtserstattung.
Es gibt eine breite Debatte darüber, ob sich in den vergangenen Jahren die Teilhabechancen von bestimmten Gruppen in Deutschland verändert haben. Eine zentrale Frage ist, inwiefern die größer gewordene Vielfalt an Arbeits- und Lebensweisen neue Teilhabechancen für die Einzelnen schafft oder andererseits Ungleichheit und Ausgrenzung fördert. Der Abbau von einfachen Tätigkeitsfeldern in der Wirtschaft beispielsweise durch Automatisierung führt zu weniger Teilhabechancen für Menschen mit geringer Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt. Bei fehlender Teilhabe geht es "also um Ausgrenzung in der Gesellschaft, nicht um Ausgrenzung aus der Gesellschaft".4 Gesellschaftliche Entwicklungen müssen immer darauf überprüft werden, inwieweit Menschen "mitgenommen" werden oder auf der Strecke bleiben. Hier setzt die Caritas mit ihrem Engagement als Anwalt und Solidaritätsstifter an. Sie tritt dafür ein, dass niemand verloren geht und Menschen am Rande Zugang zur Gesellschaft finden. Sie engagiert sich dafür, dass Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen, straffällig oder psychisch krank sind, einen Platz in der Gesellschaft finden.
Der Schriftsteller Adolf Muschg fragte in einem Essay: "Wie hält es die Mitte mit ihren Rändern?" und begründet seine Frage sogleich selbst mit den Worten: "Es ist weise und klug, so zu fragen. Denn die Ränder bestimmen insgesamt die Form einer Gesellschaft, ihre Lebensform." Die Humanität einer Gesellschaft erweist sich also im Umgang mit ihren Rändern. Daher heißt das Motto der Jahreskampagne der Caritas 2009 "Soziale Manieren für eine bessere Gesellschaft". Der Fokus liegt auf der selbstbestimmten Teilhabe von Menschen am Rande.
Mit ihren Plakatmotiven und dem Slogan "Soziale Manieren für eine bessere Gesellschaft" zeigt sie, dass Teilhabe nicht nur gerechte politische Rahmenbedingungen erfordert. Diese sind entscheidend, können aber die konkrete Teilhabe vor Ort, im Umgang miteinander nicht ersetzen. Teilhabe bedeutet auch: Werde ich überhaupt als Person wahrgenommen? Wird der obdachlose Mensch vor dem Supermarkt nur als Störenfried oder auch als Mensch mit einer Geschichte und eigenen Würde gesehen? Die Kampagne setzt bewusst da an, wo Teilhabe beginnt: bei der gegenseitigen Wahrnehmung, der Wertschätzung, dem Wort und schließlich bei der Begegnung.
Herausforderungen für die Caritas
Der Einsatz für selbstbestimmte Teilhabe bedeutet für die Caritas gleichzeitig auch einen selbstkritischen Blick nach innen. Ziel der Initiative ist es, dass in allen Fachbereichen überprüft wird, inwieweit die konkrete Arbeit und die Konzepte zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen beitragen. Sie stellt auch die Frage, inwieweit die Betroffenen bei der Gestaltung der Angebote der Caritas und möglicherweise bei der Entwicklung von Konzepten und politischen Positionen einbezogen werden und mitentscheiden können. Ein Thema ist die Selbstvertretung von Betroffenen und Angehörigen in den Einrichtungen, zum Beispiel von pflegebedürftigen Angehörigen. Die Initiative bietet also auch die Chance, die eigene Arbeit und Ansätze der Caritas zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.
Die Befähigungsinitiative und die neue Teilhabeinitiative ergänzen sich also sehr gut, genauso wie die Befähigungsgerechtigkeit und das Prinzip der selbstbestimmten Teilhabe. Sie sind eine Herausforderung für die Caritas. Sie sind eine Orientierung für die Kirche und ihre Caritas, zu einem Leben in Würde für alle Menschen und Solidarität in der Gesellschaft beizutragen.
Anmerkungen
1. Vgl. Winkler, Katja: Körperlichkeit, Gesundheit, gutes Leben. Zur Begründung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung aus der Perspektive des Capabilities approach. In: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 47 (2006). S. 131 f.
2. Vgl. Winkler, Katja: Befähigung zur Beteiligung - Befähigung durch Beteiligung. Beteiligungsgerechtigkeit nach Martha Nussbaums Capabilities approach. In: Filipovic, Alexander; Eckstein, Christiane; Oostenryck, Klaus (Hrsg.): Beteiligung - Inklusion - Integration. Sozialethische Konzepte für die moderne Gesellschaft. Münster, 2007, S. 54 f.
3. Vgl. Filipovic, Alexander: Elemente einer kritischen Theorie der Beteiligungsgerechtigkeit : Christlich-Sozialethische Sondierungen. In: Heimbach-Steins, Marianne; Kruip, Gerhard; Neuhoff, Katja (Hrsg.): Bildungswege als Hindernisläufe : Zum Menschenrecht auf Bildung in Deutschland. Bielefeld, 2008, S. 173, 185.
4. Bartelheimer, Peter u.a.: Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung Deutschlands. Zweiter Bericht, Zwischenbericht, Teil I: Auswertung der Werkstattgespräche zur sozioökonomischen Entwicklung im ersten Halbjahr 2006, Göttingen; Teil 2: Zweiter Bericht zur sozioökonomischen Entwicklung Deutschlands - Konzept, Gliederung und Arbeitsplan. Göttingen 2006, S. 60.