Gegen Ausbeutung osteuropäischer Arbeitskräfte
Schon der erste Eindruck von der jungen Frau im Nachbarbett des Krankenzimmers verstört Inge Bultschnieder: Ihre Bettnachbarin ist abgemagert, hat Ringe unter den Augen. Eigentlich ist Inge Bultschnieder, von Beruf selbstständige Bäckerin, wegen heftiger Bauchschmerzen für eine Nacht zur Beobachtung im Hospital und hat ganz andere Probleme. Doch sie spricht die Frau an. Die ganze Nacht wird geredet, teils mit Händen und Füßen. Und geweint.
Diese Nacht ändert für Inge Bultschnieder alles. Ihre Bettnachbarin Katya P. stammt aus Bulgarien und arbeitet im hiesigen Fleischwerk. Das Unternehmen Tönnies ist der größte Schlachtbetrieb Deutschlands. Angestellt ist Katya P. bei einer osteuropäischen Werkvertragsfirma. Mehr als die Hälfte der über 6000 Personen, die in Rheda-Wiedenbrück täglich bis zu 30.000 Schweine schlachten und verarbeiten, sind Werkvertragsarbeiter. „Man hörte immer wieder Gerüchte, wie es im Fleischwerk und in den Unterkünften zugeht“, berichtet Inge Bultschnieder. Aber erst durch Katya P. kommt die 47-Jährige mit der Realität in Kontakt: Versteckt leben die Menschen in Bruchbuden. Katya teilt sich mit vier Frauen ein Zimmer. Die meisten rauchen, Katyas Asthma interessiert nicht.
„Stopp: So kann das nicht weitergehen“
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Werkvertragsarbeiter(innen) lassen Inge Bultschnieder nicht los. Im Internet sieht sie einen ARD-Beitrag über osteuropäische Beschäftigte bei Amazon. Sie schreibt einen Kommentar: Bei uns ist es ähnlich, wenn nicht schlimmer. „Ich dachte, damit bin ich raus aus der Geschichte.“ Doch die sollte erst beginnen.
Ihr Kommentar erreicht die Fernseh-Journalistin Isabel Schayani. „Sind Sie sich darüber im Klaren, welche Konsequenzen das für Sie haben kann, wenn wir das öffentlich machen?“, warnt sie. Die schließlich mit dem Deutschen Sozialpreis der Freien Wohlfahrtspflege ausgezeichnete Doku „Deutschlands neue Slums – das Geschäft mit den Armutseinwanderern“ läuft 2013 in der ARD und löst ein heftiges Echo aus.
Inge Bultschnieders Heim wird ein Hort für Hilfesuchende, über 20 Gleichgesinnte gründen eine Interessengemeinschaft für faire Lebens- und Arbeitsbedingungen. 2016 richtet der Caritasverband für den Kreis Gütersloh ein Beratungsangebot ein. Inge Bultschnieder: „Das Wissen um diese Arbeitsbedingungen werte ich als Verpflichtung jedes Christen, aufzustehen und zu sagen: Stopp, so kann das nicht weitergehen.“