Maximale Ausbeutung in der Fleischindustrie
Der Caritasverband für den Kreis Gütersloh hat 2016 ein überwiegend muttersprachliches Beratungsangebot geschaffen. Caritas-Vorstand Volker Brüggenjürgen und Diplom-Sozialpädagogin Cornelia Hedrich erklären im Interview, wie sich die Caritas hier ganz konkret und deutlich positioniert.
Warum braucht es eine Einrichtung wie die Beratung für Werkvertragsarbeiter-Familien?
Volker Brüggenjürgen: Das hat damit zu tun, dass der Kreis Gütersloh zum Mittelpunkt der deutschen Schlachtindustrie geworden ist - durch die Unternehmensgruppe Tönnies, aber auch andere. Der weitaus größte Teil der Beschäftigten in diesem Industriezweig kommt aus südosteuropäischen Ländern - Rumänien, Polen, Bulgarien. Und die arbeiten nicht in regulären Arbeitsverhältnissen, sondern im System der Werkverträge. Das heißt, sie arbeiten - rechtlich gesehen - bei einem Subunternehmen.
Weil vor Ort keine Wohnungen auf dem freien Markt zu bekommen sind, wohnen die Arbeiter in Wohnungen dieser Subunternehmer. Durch diese Koppelung von Wohnen und Arbeit haben die Subunternehmer den Werkvertragsarbeiter in der Hand. Wer krankgeschrieben ist, zahlt in manchen Fällen zum Beispiel pro Tag zehn Euro mehr an Miete. Durch solche Methoden wird ein großer Druck ausgeübt, trotz Krankheit zur Arbeit zu gehen. Wer dem nicht folgt, wird entlassen und muss auch die Wohnung verlassen. Job weg, Wohnung weg!
Wie sieht ein typisches Werkvertragsarbeiter-Schicksal aus?
Cornelia Hedrich: Der Vater wird in seinem Heimatland von Subunternehmern angeworben und kommt als Erster nach Deutschland, irgendwann zieht die Mutter nach, damit beide hier arbeiten. Dadurch ist die Familie zerrissen. Die Kinder bleiben in der Heimat und kommen viel später dazu. Die Familien wohnen in Deutschland oft in maroden Häusern. Sieben, acht Menschen in kleinen Zwei- bis Dreizimmerwohnungen. Sie haben keinen Kontakt zu Menschen, die Deutsch sprechen.
Im Mai 2020, während der Corona-Pandemie und den zahlreichen Covid-19-Fällen in deutschen Fleischbetrieben, äußert sich Volker Brüggenjürgen im Video-Interview zu den Arbeits- und Lebensbedingungen der Werkarbeiter_innen:
Wie werden Werkvertragsarbeiter bezahlt - angemessen oder ausbeuterisch?
Hedrich: In vielen Subunternehmen sind 800 bis 1000 Euro für eine Arbeit mit vielen Überstunden und einer Sechstagewoche üblich. Mal Nachtschicht, mal Frühschicht. Vor allem bei rumänischen Subunternehmen beobachten wir häufig total chaotische Arbeitszeiten. Urlaubsgeld gibt es nicht. Die Menschen arbeiten teilweise fünf Jahre ohne Urlaub. Es gibt Arbeiter, die haben drei, vier Monate gearbeitet und dafür nie Lohn bekommen.
Brüggenjürgen: Arbeitszeiten von 60 Stunden in der Woche sind überhaupt nicht ungewöhnlich. Alle Ratsuchenden klagen darüber, dass sie viel mehr Zeit bei der Arbeit verbringen, als abgerechnet wird, so dass der Mindestlohn unterlaufen wird. Es erfolgen Abzüge, wenn die Bänder nicht laufen. Die Wege- und Rüstzeiten werden nicht eingerechnet.
Sind die Werkvertragsarbeiter deutlich schlechter gestellt als einheimische Arbeitnehmer?
Brüggenjürgen: Das sind eindeutig Arbeitnehmer zweiter Klasse. Das ganze Prinzip beruht auf der maximalen Ausbeutung dieser Arbeitnehmer. Sie sind völlig abhängig von den Subunternehmern. Das verhindert ja auch die Integration. Sie leben teilweise so abgeschottet, dass es noch nicht mal auffällt, wenn ein Kind nicht zur Schule geht. Ich habe jüngst einen Bericht von unseren Beratern bekommen über ein rumänisches Kind, das verspätet eingeschult wurde. Es ist seit über einem Jahr in Deutschland und spricht nicht ein einziges Wort Deutsch.
Wissen die Betroffenen nicht, dass es Kindergärten und Schulen gibt?
Hedrich: Doch, sie wissen das schon. Aber sie schaffen es nicht, alle Bedingungen zu erfüllen. Sie müssten Anträge stellen - im Jugendamt oder im Kindergarten. Aufgrund der Sprachprobleme gibt es eine große Unkenntnis über das vorhandene Hilfs- und Bildungssystem.
Brüggenjürgen: Und das führt dazu, dass sie die Ansprüche, die sie haben, überhaupt nicht geltend machen können.
Ist das System so angelegt, dass die Betroffenen ganz bewusst "dumm" gehalten werden?
Brüggenjürgen: Wir als Caritas-Berater würden das so sagen, dass es kein Interesse der Arbeitgeber gibt, den Menschen bei der Sprachförderung zu helfen. Denn wer die Sprache kann, hat auch die Chance, seine Rechte in die Hand zu nehmen und sich in die Gesellschaft zu integrieren. Aus Sicht der Unternehmen würde das aber wohl eine Dauerbeschäftigung erschweren.
Hedrich: Nach unserer Erfahrung sind die Menschen schnell raus, wenn sie Fragen stellen. Eine Frau sagte mir in der Beratung, wenn ihr Chef erfahren würde, dass sie bei mir in der Beratung ist, dann würde er sie sofort rausschmeißen.
Lässt das Arbeitsrecht das zu?
Brüggenjürgen: Wo kein Kläger, da kein Richter. Verstöße zu belegen, dazu fehlen den Werkvertragsarbeitern die Mittel und die Ressourcen, sich zur Wehr zu setzen. In diesen Arbeitskontexten herrscht ein unglaublicher Druck. Es sind sehr schwere Arbeiten, sehr lange Arbeitszeiten, dann die prekären Wohnsituationen und die Trennung von Heimat und Arbeitsort - das alles führt zu einer Gemengelage, in der sich Menschen nicht wehren oder sich nicht besser integrieren können.
Hedrich: Oft bekommen die Werkvertragsarbeiter einfach neue Verträge, die sehr unübersichtlich sind. Irgendwelche Blätter werden einfach dazwischengeschoben. Anhand der Farbe und der anderen Schrift kann man schon sehen, dass da etwas nicht stimmt. Das ist alles in Deutsch. Was sie da unterschreiben, können die Menschen gar nicht verstehen.
Welche Beratungsangebote hält die Caritas vor?
Hedrich: Meistens kommen die Familien mit einem "Alibi-Antrag" - einem Kindergeldantrag oder eine Lohnabrechnung, die nicht in Ordnung sind. Dann entwickeln sich Gespräche über ganz andere Probleme wie "Meine Tochter will nicht zur Schule gehen". Oder Trennungs- und Beziehungsprobleme. Die Beschäftigung steht oft gar nicht zur Debatte. Es sind die Probleme, die sich dadurch ergeben, dass die Menschen sehr lange arbeiten: Sie haben keine Zeit, ein geregeltes Leben zu führen, sich mit den Kindern zu beschäftigen. Sie können nicht da sein, wenn die Kinder morgens zu Schule gehen. Die Kinder boykottieren wiederum die Eltern, weil sie nie da sind. Solche Fragen stehen dann im Vordergrund der Beratung.
Offenbar sind die Kinder auf sich selbst gestellt. Die Eltern gehen morgens um sechs Uhr zur Arbeit …
Hedrich: … um sechs Uhr? Meist um drei Uhr. Ich habe eine Familie, da geht die Mutter um drei und kommt um 16 Uhr wieder. Der älteste Sohn bringt seine Geschwister zur Schule. Sie sehen die Mutter nur kurz, weil sie schlafen muss, damit sie wieder zur Arbeit gehen kann.
Das heißt, der Projekttitel der Beratung ist wörtlich zu nehmen - es geht nicht vorrangig um die Werkvertragsarbeiter, sondern um die Familien?
Brüggenjürgen: Im Prinzip sind die Lebensbedingungen der Familien so belastend, dass die psychosozialen Beziehungen total darunter leiden. Die Trennungssituation von Kindern und Eltern führt zu Familienkonstellationen, die fast nicht auszuhalten sind.
Das Interview erschien im neue caritas-Jahrbuch 2018.