Für Frauen in Not – das unterste Netz hält
Wo unten ist, weiß Maria Nestele genau. Sie leitet im Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt die Frauenpension. Was zunächst nach Urlaub klingt, hat einen ernsten Hintergrund. Die Pension, eine Einrichtung der Caritas, gibt seit 1994 rund 50 wohnungslosen Frauen ein Zuhause. 600 sollen es insgesamt sein in der Landeshauptstadt. Maria Nestele nennt das Haus „das unterste Netz für die Frauen“. Wer es hierher schafft, hat Glück im Unglück. Denn der Andrang ist riesengroß; aktuell stehen 30 Namen auf der Warteliste.
Alle Bewohnerinnen haben einen langen Leidensweg hinter sich. Meilensteine waren häufig gewalttätige Partner, Drogen, unerträgliche Wohnverhältnisse, Aggressionen, Zwangsprostitution, Klinik oder Gefängnis. Kommen darf jede. Die einzigen drei Voraussetzungen: Sie muss sich selbst versorgen können und aktuell kein Hausverbot haben. Und sich „in groben Zügen“ an die Hausordnung halten.
Erst mal zur Ruhe kommen
In der Pension finden die Frauen erst einmal Ruhe. Sie müssen sich nicht helfen lassen. „So viel Normalität wie möglich und so viel Hilfe wie nötig“, lautet die Maxime. In der Theorie sollen die Frauen nach den Phasen der Beruhigung und Stabilisierung in der Pension in ein anderes Angebot der Wohnungsnotfallhilfe mit verbindlicher Mitarbeit oder in eine eigene Wohnung ziehen. Doch dies bleibt für die allermeisten ein Traum. Zu wenig Wohnraum, zu groß die Konkurrenz auf dem Markt, zu bescheiden das eigene Vermögen. Maria Nestele hält dagegen: „Ich finde, nicht nur perfekte Menschen haben das Recht auf eine Wohnung.“
Die sieben Sozialarbeiterinnen hier sind Allrounderinnen: Sie hören zu, bauen Vertrauen zu den Klientinnen auf, kümmern sich um Geld, Alltag, Schulden und Arztbesuche. Sie schlichten Streit und helfen beim Aufräumen. Trotz der belastenden Tätigkeit ist die Fluktuation gering. Denn: „Die Kolleginnen wissen, worauf sie sich hier einlassen.“
Prostituierte schätzen "La Strada"
Keine fünf Kilometer Luftlinie entfernt steht das "La Strada". Auch eine Einrichtung des Caritasverbandes in Kooperation mit dem Gesundheitsamt der Stadt. Auch für Frauen, die mit dem Leben kaum klarkommen. Hierher kommen diejenigen, die auf der Straße arbeiten. Die Stuttgarter Prostituierten schätzen diesen Ort, an dem sie durchatmen können. Sie finden hier an vier Abenden pro Woche einen Raum der Ruhe und gute, gebrauchte Kleidung. Es gibt etwas zu essen, eine Tasse Kaffee – vor allem aber jemanden, mit dem sie reden können. "Rückzugsmöglichkeit", nennen das die Sozialarbeiterinnen.
Gern nehmen die Prostituierten das Angebot an, das Ehrenamtliche und Sozialarbeiterinnen ihnen bieten. Gerade für die Prostituierten ein riesiges Plus ist die kostenlose ärztliche Behandlung und Beratung. Zur Prävention zählt die Vorsorge zur Vermeidung von Infektionen mit HIV und Hepatitis. Dazu dient auch die Ausgabe von Kondomen und Gleitmitteln. Ebenso wie in der Frauenpension gilt: Wer kommt, hält sich an das Alkohol- und Drogenverbot und bleibt friedlich.
"Systemsprenger": junge Mädchen
Birgit Reddemann arbeitet seit über 20 Jahren in der Frauenpension. Sie kümmert sich vor allem um Klientinnen zwischen 16 und 18 Jahren, die weder bei Eltern noch bei Freunden, weder in der Schule noch in der Jugendhilfe zurechtkommen. Oft verwahrlost, von den Eltern alleingelassen, sprengen sie jeden Rahmen, halten sich nicht an Regeln, drangsalieren Mitbewohnerinnen oder laufen weg. Seit sieben Jahren gibt es für sie zwei Plätze in der Frauenpension.
Regisseurin Nora Fingscheidt recherchierte dort für eine Dokumentation und kam auf die Idee, selbst einen Film über solche sogenannten Systemsprenger zu drehen (siehe Filmtipp weiter unten).
Neuankömmlinge staunen zunächst über die relativ große Freiheit. Dass sie fast selbstständig leben können, dass es so gut wie keine Regeln gibt. „Wir lassen sie in Ruhe“, so Birgit Reddemann lakonisch. Lange Therapiesitzungen hätten die Mädchen genug erlebt. Dabei muss Reddemann schon mal mit Aggressionen umgehen: Sie schreien herum und toben, treten gegen Wände, knallen Türen. „Wir halten mehr aus als eine Jugendhilfeeinrichtung“, sagt Birgit Reddemann. Und dem Mädchen sagt sie: „Du bist okay. Aber dein Verhalten ist nicht okay.“
Mit unerschütterlicher Geduld nähert sich Birgit Reddemann den Mädchen. Findet Stärken und Bedarfe heraus. Regelt den Alltag. Sichert eine Basisver­sorgung. Hilft in allen Lebensfragen und checkt, ob ein Ein-Euro-Job möglich ist. Das alles in winzig kleinen Schritten. Die Sozialarbeiterin formuliert das lächelnd so: „Erfolge müssen hier anders gemessen werden.“ Der Aufbau einer Beziehung zum Beispiel. Das ist schon ein Riesenerfolg für sie.
Viel beachteter Kinofilm
Wenn Benni (Helena Zengel) sich an ihre Mama kuschelt und ihren zärtlichen Worten lauscht, ist die Welt für sie in Ordnung. In diesen Momenten ist kaum zu glauben, dass die Neunjährige unzählige Kinderhilfe-Einrichtungen und Pflegefamilien verschlissen hat und regelmäßig Gast in der Kinderpsychiatrie ist. Benni ist eine Systemsprengerin: Durch ein frühkindliches Trauma rastet sie unvermittelt aus, schreit, schlägt um sich und kennt keine Grenze – auch nicht die zur Gewalt. Fasst jemand ihr ins Gesicht, ist dies oft Auslöser unbändiger Wut und Verzweiflung. Der Zuschauer erfährt nebenbei: Man hat ihr als Baby die Windel aufs Gesicht gedrückt.
Sie sehnt sich nach der Mutter, doch bei ihr kann sie nicht bleiben. Diese ist mit ihrer Tochter und noch zwei Kindern restlos überfordert. Doch was wird mit Benni? Anti-Gewalt-Trainer Micha hat die Idee, mit ihr mehrere Wochen im Wald zu verbringen...
Die großartige Darstellung der jungen Helena Zengel geht unter die Haut. Und der Zuschauer fragt sich, was mit einem Kind geschieht, wenn nichts mehr funktioniert …