Lasst uns alle Gutmensch sein
2015 wurde "Gutmensch" zum Unwort des Jahres gekürt. Eine Jury aus vier Sprachwissenschaftlern und einem Journalisten erinnerte in der Begründung daran, dass das Wort schon seit langem verwendet würde, doch "im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsthema besonders prominent geworden war"1. Im Jahr 2011 war "Gutmensch" auf Platz zwei gelandet.
In der Begründung führte die Jury weiter aus: "Mit dem Vorwurf ,Gutmensch‘, ,Gutbürger‘ oder ,Gutmenschentum‘ werden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm oder weltfremdes Helfersyndrom diffamiert. Der Ausdruck ,Gutmensch‘ floriert dabei nicht mehr nur im rechtspopulistischen Lager als Kampfbegriff, sondern wird hier und dort auch schon von Journalisten in Leitmedien benutzt. Die Verwendung dieses Ausdrucks verhindert somit einen demokratischen Austausch von Sachargumenten."2
Unwörter entstehen im Gebrauch
Interessant ist, sich die Intention des Unworts des Jahres zu vergegenwärtigen. Auf der Website findet sich unter der Überschrift "Die Grundannahme: Unwörter entstehen im Gebrauch"3 das Anliegen: "Sprachliche Ausdrücke werden dadurch zu Unwörtern, dass sie von Sprechern entweder gedankenlos oder mit kritikwürdigen Intentionen verwendet werden, und dies im öffentlichen Kontext … Die Kritik an ihnen ist Ausdruck der Hoffnung auf mehr Verantwortung im sprachlichen Handeln."4
Das Unwort des Jahres wird auf Grundlage der Einsendungen von Bürgerinnen und Bürgern gewählt. 64 Personen hatten "Gutmensch" eingesendet, das am dritthäufigsten vorgeschlagene Wort im Jahr 2015. Diese Menschen waren offensichtlich nicht einverstanden mit der Verwendung dieses diffamierenden Begriffs.
Jedes Gemeinwesen lebt (auch) von Menschen, die bereit sind, sich zu engagieren, sich für andere einzusetzen und zu helfen, wo Hilfe benötigt wird. Dieses gute Verhalten durch den Begriff "Gutmensch" herabzusetzen und verächtlich machen zu wollen, ist nicht akzeptabel.
Genau hier setzt die Kampagne der Caritas an. Mit der Aufforderung "Sei gut, Mensch!" lädt sie ein, aktiv zu werden. Das heißt, Menschen beizustehen, ganz konkret und auch politisch, die Unterstützung brauchen. Und sich entschieden gegen Herabsetzung und Diffamierung "guten Handelns" zu wehren.
Ganz wichtig ist, dass es nicht um den moralischen Zeigefinger geht. Es geht vielmehr darum, ins Bewusstsein zu rufen und daran zu erinnern, dass wir alle in der Verantwortung stehen für ein gelingendes Miteinander. Jede und jeder kann etwas tun. Und jede und jeder muss auch etwas tun.
Wir erleben aktuell eine Zeit heftiger Umbrüche. Digitalisierung und Globalisierung verändern gravierend die Arbeits- und Lebenswelt vieler Menschen. Verstärkt werden die Veränderungsprozesse durch Zuwanderung und Migration. Themen, die auch in den kommenden Jahren virulent bleiben werden.
Dies alles führt dazu, dass sich viele Menschen verunsichert und orientierungslos fühlen. Sie ringen um den eigenen Platz in der Gesellschaft oder sie haben Angst vor dem sozialen Abstieg. Sorgen und Unsicherheit führen dazu, dass die Bereitschaft zu Toleranz abnimmt und die Befürchtungen wachsen, vergessen oder gar "überrollt" zu werden. Für viele Menschen liegt die Lösung darin, sich abzugrenzen von anderen, sich skeptisch und ablehnend gegenüber Vielfalt zu zeigen und sich auf das Bekannte und Vertraute zu beschränken.5 Dies fördert den Zusammenhalt in einer Gesellschaft nicht. So entstehen Abschottung, Abwertung, Risse im sozialen Gefüge.
Wenn jeder eine "Insel" sein will ...
Ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 2018, der sich mit dem Auseinanderdriften der Gesellschaft beschäftigt, ist überschrieben mit "Jeder will eine Insel sein".6 Die Autoren analysieren auf Grundlage der Arena Analyse 2018 "Wir und die anderen"7, wie die Idee der großen Gemeinschaft an Kraft verliert und die Menschen sich in immer kleinere Gruppen abgrenzen.8 So prägt die Angst vor dem Verlust des sozialen Miteinanders das Lebensgefühl vieler. Paradoxerweise schließen sich dann auf der Suche nach mehr Gemeinsamkeit kleinere Gruppen zusammen, die sich entschlossen nach außen abgrenzen.9
Am sichtbarsten und zunehmend kritisch wahrgenommen findet sich diese Entwicklung in den sozialen Medien. Wenn Menschen nur noch die Nachrichten lesen (können), die ihnen die Algorithmen von Facebook und Co. anbieten und die das jeweilige Weltbild entsprechend verfestigen. "Die wechselseitige Abgrenzung auf diesen Plattformen passiert nahezu automatisch durch die dahinterliegenden Algorithmen … Unmerklich zurrt der Zentralrechner die Scheuklappen immer enger."10
Toleranz, Respekt und Solidarität: Sie sind der Schlüssel
Scheuklappen sind nicht hilfreich, um Vielfalt wahrzunehmen, Unterschiedlichkeit auszuhalten, den Konsens zu suchen. In einer diversen Welt, in der unterschiedliche Milieus, Kulturen, Nationen und Religionen es notwendig machen, sich in konstruktiver Weise auseinanderzusetzen und nach Konsens zu suchen, sind Toleranz und Respekt wichtig. Und ein fast altmodisch anmutender Begriff erfährt seine Renaissance: Solidarität.
Der Soziologe Heinz Bude sieht einen Unterschied zwischen Empathie und Solidarität: "Wer empathisch ist und jemanden versteht, muss noch lange nicht solidarisch sein."11 Solidarität ist für ihn ein "Modell der Symmetrie"12, zu dem gehört, dass man das eigene Verhalten an das Verständnis seines Selbst bindet: "Zu Ihrem Selbstverständnis gehört, in bestimmten Lagen zu teilen. Der Grundmodus ist nicht das Geben, sondern das Teilen."13
Hier setzt die Caritas-Kampagne "Sei gut, Mensch!" an. Sie fordert zu solidarischem Verhalten mit Menschen in Not auf. Diese Solidarität kann sichtbar werden in konkretem Handeln, in konkreter Hilfe und sie kann sichtbar werden in politischer Aktion und politischen Forderungen. Der Verweis auf das Leitbild des Deutschen Caritasverbandes bietet sich an. Hier ist zu lesen: Der Deutsche Caritasverband "setzt sich für Menschen ein, die am Rande der Gesellschaft leben, die öffentlich keine Stimme haben und die sich nicht selbst helfen können. Er verschafft ihren Nöten und Anliegen Gehör und unterstützt sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte. Er tritt gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen entgegen, die zur Benachteiligung von Einzelnen und Familien oder zur Ausgrenzung gesellschaftlicher Gruppen führen"14.
Im Rahmen der Caritas-Kampagne werden Menschen vorgestellt, die auf ganz unterschiedliche Weise empathisch und solidarisch sind mit anderen. Sie engagieren sich in der Not- und Katastrophenhilfe von Caritas international; sie verhindern, dass Lebensmittel auf dem Müll landen; sie fahren virtuelle Autorennen mit Senioren; sie begleiten trauernde Kinder und Jugendliche und sie engagieren sich in Demokratie-Projekten. Sie arbeiten in Einrichtungen und Diensten der Caritas, sie engagieren sich ehrenamtlich und freiwillig bei der Caritas oder bei anderen Organisationen und Vereinen. Jede und jeder Einzelne von ihnen zeigt, dass man einen Beitrag leisten kann - ganz gleich wie groß oder klein er sein mag - um das soziale Miteinander in unserer Gesellschaft und weltweit zu bewahren.
Gutmenschen sind nicht naiv
Alle sind "gute" Menschen. Das heißt aber keineswegs, dass diese Frauen und Männer und Jugendlichen naiv oder leichtgläubig sind, dass sie einfältig oder Träumer sind. Ganz im Gegenteil. Sie sind Menschen, die sich anrühren lassen; die anpacken können und wollen; die bereit sind, ihre Zeit, ihre Aufmerksamkeit und auch materielle Dinge zu teilen. Sie sind Menschen, die im Leben stehen, die Arbeit, Freunde und Familie haben, und die dennoch Zeit und Kraft finden, für andere da zu sein. Mal in einem zeitlich befristeten Projekt, mal für mehrere Jahre, manchmal nur für eine Aktion. Sie wollen Verantwortung übernehmen über das eigene Umfeld hinaus. Ihnen ist wichtig, Schwachen eine Stimme zu geben. Ihnen ist wichtig, sich politisch zu engagieren.
"Gutmensch" wurde zum Unwort, weil dieser Begriff Hilfsbereitschaft und Toleranz diffamiert. Zudem hat die Jury darauf hingewiesen, dass der Begriff durch seine fehlende Sachlichkeit eine demokratische, gewinnbringende Diskussion verhindert.15 Die häufige und missbräuchliche Verwendung des Begriffs durch Populisten hat die negative Konnotation des Begriffs ermöglicht und verstärkt.
An dieser Stelle Widerstand zu leisten und den Versuch zu wagen, die Perspektive zu drehen - nicht nur mit Blick auf die Verwendung des Wortes "Gutmensch", sondern auch auf entsprechende Debatten -, ist auch ein Ziel der Kampagne. Es ist ein zugegebenermaßen ambitioniertes Vorhaben, das auch herausfordern wird. So werden wir uns im Kampagnenjahr 2020 darauf einstellen müssen, dass es Widerspruch und Häme geben mag. Wir müssen mit Verunglimpfung rechnen, mit Hass, mit übler Nachrede. Doch wir wollen ganz bewusst ein Zeichen setzen: Ein guter Mensch zu sein darf nicht verunglimpft werden.
Wir wollen die Bedeutung des Wortes drehen
Wir sind nicht allein mit diesem Anliegen. Dies zeigt zum Beispiel das Engagement der Toten Hosen. Die Punkband hat sich 2014 die Markenrechte für das Wort "Gutmensch" für die Verwendung von Merchandising-Produkten gesichert. In einem Interview sagt der Manager der Band, Patrick Orth: Eigentlich sei die Eintragung ein "interner Gag" gewesen. Schon seit Jahrzehnten werde versucht, Menschen, die sich gesellschaftlich engagieren, mit dem Wort zu diskreditieren, so Orths Begründung. "Um die Deutungshoheit zurückzugewinnen, hatten wir den Einfall, das Wort als Marke eintragen zu lassen."16 Und beim Caritas-Kongress im März 2019 in Berlin hat der Blogger "Gutmensch" zu den Themen und Anliegen der Caritas gebloggt.
So unterstützen auch andere das Bestreben, solidarisches Verhalten in der Gesellschaft nicht abwerten und verächtlich machen zu lassen. Die Caritas will mit der Kampagne ihren Beitrag gegen diese Diffamierung leisten. Wir wollen die Bedeutung des Wortes "drehen", wir wollen das Negative umkehren in das Positive. Das ist ein großer Anspruch, ob es gelingt, ist offen. Aber wir müssen es versuchen.
Gutes Leben für alle ist nur möglich, wenn der Zusammenhalt bewahrt wird, wenn Menschen füreinander einstehen. Dazu leisten die vielen Mitarbeitenden der Caritas in all den Einrichtungen und Diensten jeden Tag ihren Beitrag. Dies unterstützen viele Tausend Ehrenamtliche und Freiwillige in der Caritas und bei vielen anderen Verbänden, Vereinen und Organisationen. "Solidarität ist das einzige Mittel gegen Verbitterung"17, so Heinz Bude.
In diesem Sinn ist die Kampagne zu verstehen: Gemeinsam mit vielen solidarisch handeln für den Zusammenhalt und ein gutes Miteinander. Sei gut, Mensch!
Anmerkungen
1. Spiegel Online: "Gutmensch" ist Unwort des Jahres, 12. Januar 2016, abgerufen am 8. Juli 2019.
2. Website "Unwort des Jahres": www.unwortdesjahres.net/index.php?id=112, abgerufen am 18.7.2019.
3. Website "Unwort des Jahres": www.unwortdesjahres.net, abgerufen am 18.7.2019.
4. Ebd.
5. Gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland erhalten und fördern. Impulspapier der Delegiertenversammlung des Deutschen Caritasverbandes (Abruf auf caritas.de).
6. Fernsebner-Kokert, B., Osztovics, W.: Jeder will eine Insel sein: Zeit Online, 15. Januar 2018, www.zeit.de/2018/03/gesellschaftlicher-zusammenhalt-europa-studie-wir-und-die-anderen, abgerufen am 07.01.2020.
7. Kovar & Partners: Wir und die anderen. Arena Analyse 2018, www.publicaffairs.cc/arenaanalyse2018, abgerufen am 07.01.2020.
8. Siehe Fußnote 6.
9. Ebd.
10. Ebd.
11. Bisky, J.: Heraus aus der Angstspirale. In: Süddeutsche Zeitung, 11. März 2019, S. 9.
12. Ebd.
13. Ebd.
14. Leitbild des Deutschen Caritasverbandes. Freiburg, 4. Auflage 2016, S. 7 (Abruf auf caritas.de).
15. Siehe Fußnote 2.
16. Spiegel Online: "Tote Hosen" sichern sich Rechte am Unwort "Gutmensch", 14. Januar 2016, www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/tote-hosen-sichern-sich-rechte-am-unwort-gutmensch-a-1072085.html, abgerufen am 07.01.2020.
17. Siehe Fußnote 11.
Dieser Beitrag ist als Grundsatzartikel erschienen im neue-caritas-Jahrbuch 2020.