Digitaler Alltag mit Behinderung
Sind Menschen mit Behinderung digitaler? Patrick Oeffner im Gespräch mit Martin Herceg.Patrick Oeffner
Herr Oeffner, vor 30 Jahren hat sich Ihr Leben massiv verändert. Seither sind sie als Tetraplegiker auf Unterstützung zur Bewältigung Ihres Alltags angewiesen. Zur selben Zeit – so sagen es heute viele Experten – ist hierzulande der Startschuss zur digitalen Revolution gefallen. Haben Sie ihn gehört?
Ich bin als Jugendlicher in der analogen Welt der 80er-Jahre aufgewachsen, hatte kaum Affinität zum Digitalen. Das hat sich für mich in der Situation mit Behinderung schlagartig geändert. 1993 habe ich zur Schaffung einer beruflichen Perspektive in eine professionelle Computer-Hardware investiert. Statt einer normalen Maus konnte ich einen Trackball zur Dateneingabe verwenden. Dieser war für mich der Schlüssel zur barrierefreien Nutzung – und hat es mir ermöglicht, auf Augenhöhe am Berufsleben teilzunehmen.
Können Sie beschreiben, wie sich seither Ihr Leben verändert hat?
Ich konnte von da an meine Arbeitskraft überall auf der Welt, wo es einen Stromanschluss gab, anbieten. Auf der rehabilitativen Ebene erlebte ich mich durch die Arbeit am Computer als weiterhin selbstständig aktives und kreatives Individuum. Als dann Ende der 90er-Jahre die Spracherkennung zur Texteingabe und das Internet hinzukamen, wuchs meine Beweglichkeit sprungartig – und ich konnte Grenzen digital neu definieren. Heute entwickle ich in meiner eigenen Firma automatische Greifhilfen für körperlich beeinträchtigte Menschen.
Wie digital ist Ihr Alltag heute?
Auch wenn man es vielleicht vermuten würde, ich habe kein Smartphone, nutze weder „Alexa“ noch soziale Netzwerke – und vermeide die Websuche über Google. Mein Alltag ist so digital wie nötig beziehungsweise nutzbringend er eben sein muss. Ich versuche, mich mit dem Thema Digitalisierung bewusst und reflektiert auseinanderzusetzen und habe große Sorgen beim Blick auf die zunehmende Monopolisierung des digitalen Lebens durch einige wenige Giga-Konzerne, die inzwischen mächtiger sind, als wir es uns oft eingestehen wollen.
Künftige Alltagshilfe? Der Pflegeroboter-Arm "Edan" schlägt testweise eine Bettdecke zurück.Caritas München / Thomas Sehr
Trotz aller digitalen Möglichkeiten bleiben essenzielle Bereiche des Lebens analog. Sie sind täglich auf die Hilfe von Menschen angewiesen. Könnten Sie sich vorstellen, diese Assistenz künftig von Robotern zu erhalten?
Ich habe es bisher sehr genossen, mit den Menschen, die mich unterstützen, zu interagieren. Allerdings nimmt die Verfügbarkeit von Assistenzkräften – besonders in strukturschwachen Gegenden – ab. Ich hätte inzwischen kein Problem damit, wenn in gewissen Situationen der zwischenmenschliche Aspekt der Assistenz wegfallen würde. Maschinen hätten konstante Leistungsfähigkeit und wären nie schlecht gelaunt. Wenn eine Assistenzkraft mit mir statt mit der eigenen Familie Weihnachten verbringen muss, dann wird sie wahrscheinlich nicht laut „Hurra“ schreien. Einem Roboter wären solche Dinge egal. Das spricht definitiv für den Roboter.
Würden Sie sagen, dass Menschen mit körperlichen Einschränkungen digitaler sind als Menschen ohne Handikap?
Nein, das denke ich nicht. Entscheidend ist, ob man Veränderungen annimmt und den Nutzen neuer Möglichkeiten subjektiv bewertet. Es braucht die nötige Motivation und Kompetenz diesen Nutzen dann für sich zu generieren. Entscheidend ist vor allem die Bedeutung, welche die neuen Möglichkeiten im eigenen Leben einnehmen. Ich bin ein gutes Beispiel hierfür. Wäre ich nicht in die Lebenssituation mit Behinderung gekommen, hätten wahrscheinlich andere Dinge in meinem Leben viel mehr Raum eingenommen. So musste ich mir neue Handlungsräume erschließen. Technischer Fortschritt bringt immer neue Lösungen zur Kompensation menschlicher Einschränkungen mit sich. Ein gutes Beispiel sind optische Hilfsmittel, wie Brillen oder Kontaktlinsen.
Industrie 4.0, Wirtschaft 4.0, Arbeit 4.0 das sind feste Begriffe. "Sozial 4.0" hört man hingegen recht selten. Ist die Digitalisierung noch nicht da angekommen, wo wir sie am dringendsten brauchen?
Es ist ganz wichtig, dass wir bei der Nutzung neuer Technologien und bei der derzeit stattfindenden Schaffung neuer Strukturen den Fokus darauf legen, welche Rolle der Mensch dabei spielt und welche Konsequenzen es für uns hat, wenn wir uns innerhalb dieser neuen Strukturen bewegen, sie tragen und weiterentwickeln. Wir müssen sehr besonnen sein. Umso mehr Technik auf das Zusammenwirken von Organisation und Mensch Einfluss hat, desto bedeutender ist es die Rolle des Menschen im Auge zu behalten. Wir müssen aufpassen, dass der Mensch nicht in eine Nebenrolle degradiert wird, oder von der Komplexität der Digitalisierung überfordert wird und nicht mehr in der Lage ist, bei Fehlern im System zu intervenieren. Diese soziotechnische Perspektive ist meines Erachtens wichtig, damit das Soziale nicht durchs Raster fällt.
Die große Koalition hat sich auf die Fahnen geschrieben, Digitalisierung und digitale Teilhabe voranzutreiben. Welche Schritte müssten aus Ihrer Perspektive geschehen, um dieses Ziel zu erreichen?
Die Politik sollte bewusst drauf schauen, dass sie nicht weiter die Monopolisierung in digitalen Lebensbereichen fördert. Wir brauchen auch bei der Digitalisierung Diversität. Kleine soziotechnische Systeme haben ganz andere Möglichkeiten, ihre Ideen am Mainstream vorbei umzusetzen, als große Giga-Unternehmen. Das sollte gefördert werden. Außerdem müssen wir den Mut haben, nicht mehr zu wissen was morgen ist. Wir müssen wandlungsfähig bleiben, aber trotzdem mit Freude und Wagemut Wandel mitgestallten. Die Politik täte gut daran, positive Zukunftsbilder für die Gesellschaft zu zeichnen und uns die Angst vor einer unbestimmten Zukunft zu nehmen. Ich glaube, die Digitalisierung ist eine große Herausforderung für unsere Demokratie.