Sozialräumliche Strategien als Antwort
Im Kern geht es um das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Altersstufen, kultureller Hintergründe und Lebenslagen mit ihren je eigenen Vorstellungen vom gelingenden Leben, ihrem gleichen Recht auf politische, soziale und kulturelle Teilhabe. Dabei zeigen sich große regionale Unterschiede: Ländliche Regionen Ostdeutschlands lassen sich nicht mit westdeutschen Ballungszentren vergleichen. Folglich muss der soziodemografische Wandel in erster Linie auf regionaler und lokaler Ebene gestaltet werden. Hierfür bietet das Fachkonzept Sozialraumorientierung wichtige Ansatzpunkte.
Die Lage vor Ort berücksichtigen
Ausgangspunkt sozialräumlicher Handlungsstrategien ist die Detailkenntnis lokaler Gegebenheiten: Bevölkerungszahl, -zusammensetzung und verbreitete Lebenslagen sowie die das Leben vor Ort prägenden lokalen Akteure wie Vereine, Kirchen, Unternehmen, Einrichtungen für Kultur, Bildung, Gesundheit und soziale Arbeit etc. Auf Basis dieser Informationen ermöglichen verschiedene Formen der Sozialraumanalyse, zu erfahren, was die Bewohner(innen) brauchen, welche Probleme es gibt. Das können Spannungen zwischen Gruppen sein, fehlende Begegnungsmöglichkeiten, zu hohe Bordsteine, vernachlässigte öffentliche Plätze und vieles mehr. Als Nächstes gilt es, mit den Bewohner(inne)n vorhandene Ressourcen zu erschließen, gezielt nach Kooperationspartnern für die Lösung der erkannten Probleme zu suchen und Vernetzungsbeziehungen aufzubauen.
Strikt am Willen der Menschen orientieren
Die Sozialraumanalyse zeigt auf, wie das Zusammenleben im Quartier oder Dorf auch im Hinblick auf künftige Entwicklungen gelingen kann. Die Kommunen als Verantwortliche für die Sozialplanung sind zentrale Akteure und Partner in diesem offenen Prozess, der vor allem die Arbeit von Netzwerkstellen und offenen Treffs in den Quartieren beschreibt, die auch einzelfallbezogene Beratungsangebote und soziale Dienste integrieren.
Sozialraumorientierung lässt sich aber auch von stationären und ambulanten Einrichtungen und Diensten umsetzen - vor allem der Altenhilfe, die durch den demografischen Wandel unter hohem Anpassungsdruck steht. Wenn sie sich sozialräumlichen Konzepten verschreiben, wird das ihre Gestalt und Organisation grundlegend verändern. Denn die Sozialraumorientierung fordert die strikte Orientierung am Willen der Menschen - und alle wünschen sich Selbstbestimmung. Damit auch hilfsbedürftige Menschen weitgehend eigenständig und dennoch in Gemeinschaft und gut versorgt leben können, bedarf es geeigneter Wohnformen und solidarischer Nachbarschaften. Es braucht die Verantwortungsgemeinschaften aller Institutionen/Akteure vor Ort.
Eine langfristige Strategie in die Organsiation integrieren
Das Organisieren solcher Verantwortungsgemeinschaften ist eine Rolle, die soziale Träger oder Verbände übernehmen können. Hierfür gibt es schon viele Projekterfahrungen, allerdings meist lokal begrenzt und um ihre Verstetigung kämpfend. Diese "Projektitis" ist für viele in der sozialen Arbeit Tätigen eine allgegenwärtige Last. Gerade Ziele und Methoden sozialräumlicher Projekte können sich aber in kurzen Laufzeiten kaum entfalten. Das enttäuscht die Menschen vor Ort (die sich womöglich beim nächsten Projekt nicht mehr engagieren) ebenso wie die Hauptamtlichen, die immer wieder "innovativ" sein müssen, anstatt Erreichtes weiterzuentwickeln
Strukturierte Kooperationsbeziehungen, Ressourcenerschließung, Beteiligung und Vernetzung brauchen Kontinuität, gerade auch personell. Eine hohe Hürde für örtliche Träger ist außerdem, dass Zuwendungsgeber sich meist nicht auf die Prozesshaftigkeit sozialräumlicher Projekte einlassen, sondern schon zu Beginn der Maßnahme sehr aufwendige Projektkonzeptionen und Zieldefinitionen einfordern, oft auch neues Personal. Daher spricht einiges für die Überlegung, Projektfinanzierungen zwar für die Konzeptentwicklung zu nutzen, die Sozialraumorientierung selbst aber als langfristige Strategie zu planen und in die bestehende Organisation zu integrieren.
Politische Lobbyarbeit notwendig
Eine weitere Herausforderung sozialräumlicher Strategien ist ihr konzeptioneller und politischer Anspruch der Partizipation. Viele Faktoren entziehen sich der Gestaltungsmacht der Quartiersbewohner(innen): die medizinische Versorgung im ländlichen Raum, die Sicherung öffentlicher Mobilität, auch die Verfügbarkeit von Wohnraum etc. Kreative und dem Bürgerengagement entsprungene Lösungen sind wertvoll, vermögen Struktur- oder Wohnungspolitik aber nicht zu ersetzen. Ohne politische Lobbyarbeit geht es nicht, das trifft auch auf die Bekämpfung von Altersarmut oder auf gleiche Bildungschancen für Zugewanderte zu.
Fazit: Der demografische Wandel setzt die verbandliche Caritas unter Anpassungsdruck. Doch mindestens genauso maßgeblich sind veränderte Werthaltungen und Erwartungen der Menschen, die der Caritas eine veränderte professionelle Haltung und zivilgesellschaftliche Rolle abverlangen bei der Wahrnehmung ihrer Funktionen als Anwalt, Dienstleister (dabei auch Arbeitgeber) und Solidaritätsstifter. Auch in diesem Dreiklang verschiebt sich etwas: Die Solidaritätsstiftung wird gestärkt. Die Caritas bleibt kompetenter Dienstleister mit einzelfallbezogenen und spezialisierten Angeboten, tritt jedoch zunehmend als sozialpolitischer Akteur auf und gestaltet in Partnerschaft mit anderen lokale Gemeinwesen mit. Sie regt Menschen an, ihre Interessen zu vertreten, Kompetenzen einzubringen, stärkt und befähigt sie, selbstbestimmt und zugleich in solidarischem Miteinander zu leben.