Wie umgehen mit Vorbehalten und Ängsten beim Thema Flucht?
Vorbehalte haben etwas mit Gruppenzugehörigkeiten zu tun und stützen sich auf Verallgemeinerungen. Gerade Mitglieder moderner, das heißt ausdifferenzierter und heterogener Gesellschaften, in denen man sich nur bedingt persönlich kennen kann, greifen auf Sortierungen nach Gruppen zurück. Dies entlastet, es reduziert die als anstrengend empfundene Komplexität.
Was Deutschland angeht, passen 60 Jahre nach dem ersten Abkommen zur Anwerbung von Gastarbeitern die früheren Schubladen aber nicht mehr so richtig. Die Gastarbeiter(innen) und ihre Nachkommen sind, ebenso wie die Aussiedler und Spätaussiedler oder die Menschen aus Bosnien oder dem Kosovo, Einheimische. Deutschland ist, wenn auch unerklärt und bislang eher verdruckst, zum Einwanderungsland geworden. Es gibt alte Deutsche und neue Deutsche, wie ich in meinem Buch "Integriert Euch!" darlege. Und es gibt alte und neue Vorbehalte: Manche der sogenannten alten Deutschen (damit sind Menschen ohne Einwanderungsgeschichte gemeint) interessiert die deutsche Staatsangehörigkeit der Nachkommen der Einwanderer nicht: "Einmal Türke, immer Türke!", sagen sie. Lernen sie jemanden kennen, der ihren Vorbehalten nicht entspricht, so wird dieser zur Ausnahme erklärt.
Vorbehalte bei alten und neuen Deutschen untereinander und gegenüber den Flüchtlingen entstehen erstens aus Gefühlen der Verunsicherung. Die wachsende Heterogenität der Gesellschaft und die Frage, wie genau die Integrationsprozesse verlaufen werden und wie viel Zeit sie brauchen, wird von vielen als Kontrollverlust empfunden. Zweitens erleben zahlreiche Flüchtlingshelfer(innen) Enttäuschungen; sie ärgern sich über diejenigen Flüchtlinge, die kein Interesse und kein Engagement zeigen. Für sie ist das "Durchmogeln" mancher Flüchtlinge frustrierend; für die Flüchtlinge selbst kann dieses Verhalten durchaus angemessen und für sie rational sein. Wie geht man nun mit Vorbehalten um, die man bei sich selbst und bei anderen feststellt? Ich möchte einige Ansatzpunkte für einen konstruktiven Umgang vorschlagen.
Sich austauschen und erinnern
Viele Menschen, die in pädagogischen und sozialen Berufen arbeiten, setzen sich unter Druck, dass sie keine Vorbehalte haben dürfen. Es scheint mir jedoch wichtig, die Wahrnehmungen und Ängste auszutauschen: Worauf gründen sie sich konkret? Was sind meine Sorgen? Welche Erfahrungen machen andere? Habe ich nur schlechte oder auch gute Erfahrungen gemacht? Wie sahen die Umstände jeweils aus? Welche Erwartungen hatte und habe ich? Möglicherweise bin ich ungeduldig, weil mir die Integrationsarbeit so langwierig erscheint.
Älteren kann es helfen, darauf zu schauen, welche Umstellungen sie in den letzten Jahrzehnten schon vollzogen haben: Sie haben realisiert, dass Deutsche heute ganz verschieden aussehen, nicht zwingend weißhäutig sind und nicht ausschließlich Müller oder Schmidt heißen. Deutsche können auch Schimanski, Boateng oder Özoguz heißen. So ist das in einem Land mit Einwandererfamilien, die in der zweiten, dritten oder auch vierten Generation hier leben. Das heißt, man hat schon reichlich Erfahrung im Umgang mit einem breiten Spektrum von Herkünften und weiß, dass die Herkunft alleine nur bedingt aussagekräftig ist. Das sichtbare Merkmal muss nicht die ausschlaggebende Eigenschaft eines Menschen sein.
Nichtverstehen zulassen
Diejenigen von uns, die selbst den berühmt-berüchtigten Migrationshintergrund haben, sind manchmal auch frustriert, wie lange alles dauert, aber ansonsten mit sich selbst und Deutschland überraschend zufrieden. Im Umgang mit Konflikten sind diese neuen Deutschen häufig souveräner und in der Wortwahl unbefangener. Sie könnten die alten Deutschen ermuntern: Alle haben wir gelernt, dass es solche und solche gibt - auch unter Einwanderern und ihren Nachkommen und selbstverständlich auch unter Flüchtlingen. Und es ist auch okay, ein Verhalten oder einen Zusammenhang nicht zu verstehen. Man darf sein Befremden auch zum Ausdruck bringen und muss keineswegs für alles Verständnis haben.
Mit Konflikten klarkommen und auf Erfahrung setzen
Es geht nicht darum, alle Einwanderer und Flüchtlinge zu mögen, sondern darum, miteinander klarzukommen - wie es in der Gesellschaft generell gilt. Ein solcher Pragmatismus ist nichts Ehrenrühriges, sondern etwas sehr Modernes. Es ist in Ordnung, wenn man teilweise auch nebeneinanderher lebt. Aus einer soziologischen Perspektive heraus sehe ich das ganz unaufgeregt. In modernen Gesellschaften gibt es ganz viele Subkulturen und Milieus, die sich nicht oder nicht sofort vermischen. Nüchtern betrachtet, sind die Voraussetzungen gar nicht so schlecht - zumindest in den sogenannten alten Bundesländern. Hier gibt es einen Erfahrungsvorsprung in den Beziehungen zwischen alten und neuen Deutschen, der auch für den Umgang mit den Flüchtlingen hilft.
Das Beharren darauf, dass die Integration "bestimmt scheitern wird", ist schön für die Erregungskurve, blockiert aber unsere alltäglichen Interaktionen. Denn wir stehen nicht bei null und könnten die Kompetenzen der Experten stärker anzapfen, als wir es tun. Also nicht die tausendste Veranstaltung zum Thema: "Wie ticken Moslems?", sondern einen Workshop zu folgendem Thema konzipieren: Wie organisieren wir das Zusammenleben im Einwanderungsland? Dazu können Einzelhandelskaufleute, Lehrerinnen, Sozialarbeiter, Pflegedienstleiterinnen, Ärzte und andere einschlägig Bewanderte - ohne und mit Migrationshintergrund - etwas beitragen. Viele Menschen haben reichlich Erfahrung im Umgang mit Vorbehalten und verstehen etwas von dem, was man Gelingensbedingungen der Integration nennen kann.
Selbstbewusst sein, Geduld haben - auch mit sich selbst
In einem sich seiner selbst bewussten Einwanderungsland zu leben ist keine Kuschelveranstaltung. Moderne Gesellschaften werden durch Sympathie und Kooperation zusammengehalten, aber auch durch die Art und Weise, mit Meinungsunterschieden und Konflikten umzugehen. Wenn wir uns selbst anschauen, wollen wir in aller Regel als Einzelpersonen gewürdigt und nicht nur mit den Gruppen assoziiert werden, denen wir nun eben angehören.
Seien wir neugierig auf neue Menschen in Deutschland und versuchen wir, sie - so schwer uns das auch fallen mag - als Einzelpersonen zu sehen. Fragen wir sie nicht immer nur nach Schwerem und Bedeutsamem, sondern reden wir auch über Harmloses - üben wir uns in Smalltalk statt ständigem Herkunftstalk. Und lassen wir es zu, dass auch sie uns etwas fragen. Wir müssen nicht permanent auf Sendung sein, nicht immer Bescheid wissen, nicht jede Situation selbst definieren, sondern können auch mal beobachten und zuhören. Das kann auch im Umgang mit Menschen, die sich von ihren Ängsten gefangen nehmen lassen, helfen.
Was antwortet man aber jemandem, der steif und fest darauf beharrt, dass "uns der Laden um die Ohren fliegen wird", man es auch gar nicht schaffen wolle oder dass Deutsche nun einmal hellhäutig zu sein hätten? Eine Möglichkeit ist folgende Antwort: "Da habe ich ein ganz anderes Bild von Deutschland und seinen Bürgern." Wie weit wir als Einwanderungsland schon gekommen sind, ohne uns als solches erklärt zu haben, bietet Anlass zur Zuversicht, ohne blauäugig zu sein. Integration als Projekt für alle zu verstehen, ist die Grundlage für die anstehende gesellschaftliche Debatte.
Zur Autorin: Annette Treibel ist Professorin für Soziologie im Institut für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Zu den Forschungsfeldern der gebürtigen Freiburgerin gehören Soziologische Theorien, Migration, Geschlechterforschung, Zivilisationstheorie und Öffentliche Soziologie. In ihrem 2015 erschienene Buch "Integriert Euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland" bekennt sich Treibel zu der Einwanderungsgesellschaft.
Der Artikel erschien im Original in der Beilage der neuen caritas "Migration und Integration Info", Ausgabe 2/2016: Vorbehalte gegen Einwanderung.