Land verliert, Stadt gewinnt
"Weniger, älter, bunter" gilt als Formel für den demografischen Wandel in Deutschland. Bei genauerem Hinsehen jedoch ist es nicht ganz so einfach: Städte wachsen – während der ländliche Raum verliert. Das zeigt eine aktuelle Bevölkerungsprognose aus dem Datenportal "Wegweiser Kommune" der Bertelsmann Stiftung. Während für viele ländliche Gemeinden ein zum Teil dramatischer Bevölkerungsrückgang zu erwarten ist, gewinnen vor allem die Metropolen wie Berlin, Hamburg, Frankfurt und München sowie andere große Städte an Einwohnern. Bis 2030 werden etwa im sächsischen Hoyerswerda oder im thüringischen Roßleben gut ein Viertel Einwohner weniger leben. Unterföhring und Feldkirchen bei München dagegen erwarten einen Anstieg der Einwohnerzahl um mehr als ein Viertel.
Bundesweit würde die Bevölkerungszahl bis 2050 ohne Einwanderer um 20 Millionen sinken. Selbst bei 200.000 Einwanderern pro Jahr ginge die Bevölkerung schätzungsweise von circa 83 Millionen auf circa 73 Millionen zurück (Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschlands bis 2060. 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. 2015). 2014 und 2015 ist die Zahl der Einwanderinnen und Einwanderer auf jeweils annähernd 500.000 gestiegen (per Saldo, also Zuzüge minus Fortzüge). 2014 hatten laut Statistischem Bundesamt 16,4 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund, dies entspricht einem Anteil von 20,3 Prozent an der Bevölkerung.
Stadt-Land-Gefälle: Wer hat, dem wird gegeben
Eine weitere Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt jedoch, dass sich die Hoffnung, Zuwanderung könne den Bevölkerungsrückgang bremsen, bisher nur für urbane Zentren erfüllt. In die vom demografischen Rückgang besonders betroffenen Kommunen findet Zuwanderung kaum statt. Im Gegenteil: Dort sinkt mit der Einwohnerzahl auch der Ausländeranteil.
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass demografisch wachsende urbane Zentren und die prosperierenden Kommunen im Umfeld dynamischer Wirtschaftszentren die höchsten Ausländeranteile haben, so zum Beispiel: München mit 23,0 Prozent, Stuttgart (22,1 Prozent), Frankfurt am Main (26,3 Prozent), Köln (17,1 Prozent) oder Berlin mit 13,4 Prozent. Dresden mit seinem geringen Ausländeranteil von 4,3 Prozent gehört zu den Städten, die im ostdeutschen Vergleich sogar relativ viele Ausländer(innen) anziehen (www.wegweiser-kommune.de). Demgegenüber leben in den stark schrumpfenden und strukturschwachen ländlichen Kommunen durchschnittlich weniger als drei Prozent Ausländer(innen) - Tendenz rückläufig. Zuwanderung funktioniert bislang, so lautete hierzu die Schlussfolgerung der Bertelsmann Stiftung, eher nach dem "Matthäus-Effekt": "Wer hat, dem wird gegeben."
Dies trifft auch für die Altersstruktur der Städte zu. Die Städte mit ohnehin vielen jüngeren Einwohner(inne)n werden durch den relativ hohen Ausländeranteil nochmals begünstigt. Denn Zuwanderer sind im Durchschnitt jünger als der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung.
Einwanderer werden im Schnitt immer qualifizierter, wie neuere Untersuchungen (auch des Stat. Bundesamtes) belegen. So haben deutlich mehr einen Hochschulabschluss (43,7 Prozent) als dies bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund der Fall ist (24,1 Prozent).
Weniger und älter einerseits, mehr und bunter andererseits
Die eingangs erwähnte Formel für den demografischen Wandel müsste also richtiger lauten: "Weniger und älter einerseits - mehr und bunter andererseits". Während sich die städtischen Ballungsgebiete Berlin, Hamburg, München, Köln, Stuttgart und Frankfurt am Main unter anderem durch wachsende Vielfalt (verbunden mit Chancen sowie Alltagsproblemen), durch eine prosperierende Wirtschaft sowie steigende Zahlen von Jugendlichen und Schüler(inne)n auszeichnen, verliert der ländliche Raum. Die Jüngeren ziehen hier weg, die Schulen schließen, die Älteren bleiben, der Migrantenanteil bleibt äußerst niedrig.
Im ländlichen Raum zeigt sich der Fachkräftemangel besonders im Gesundheits- und im Pflegesektor wie auch in anderen Bereichen. Einem steigenden Bedarf steht hier ein geringes und weiter sinkendes Angebot gegenüber. In den ländlichen Gemeinden würden also dringend Migrant(inn)en gebraucht, vor allem gut ausgebildete. Doch mit der Bevölkerung nimmt auch die Infrastruktur ab: Wegen der Schließung von Schulen müssen die Schüler(innen) weite Wege in die Nachbargemeinden in Kauf nehmen; das Angebot an Geschäften und Gastronomie hat sich reduziert, Bahnhöfe schließen etc.
Einwanderung als Chance für den ländlichen Raum
Während städtische Ballungsgebiete also vor allem in mehr Wohnraum - nicht nur für Flüchtlinge, sondern für die insgesamt wachsende Bevölkerung - investieren müssen, stehen Städte und Gemeinden im ländlichen Raum vor einer Reihe von Herausforderungen: Wie können die bisherigen Einwohner(innen) im Ort gehalten werden? Wie lassen sich Einwanderinnen und Einwanderer anwerben, wie Arbeitsplätze schaffen? Wie kann die Infrastruktur angepasst und attraktiv gestaltet werden?
Die Antwort darf sich nicht allein in gezielten Werbestrategien erschöpfen. Vor allem gilt es, in Infrastruktur zu investieren: in flexible Mobilitätsangebote, schnelles Internet und eine angemessene Gesundheitsversorgung - sowie in Kita- und Schulplätze. Vor allem gilt es, die Bevölkerung zu gewinnen - durch gekonnte Kommunikation, die deutlich macht, welche Chancen in der Einwanderung stecken. Ein Klima der Offenheit und Akzeptanz ist das A und O einer Willkommenskultur. Falls es gelingt, neue Einwohner(innen) für ländliche Gebiete zu gewinnen, müssen ihnen alle Türen offenstehen, sprich gleiche Teilhabemöglichkeiten geboten werden. Schließlich gibt es genug andere Städte, in denen Einwanderinnen und Einwanderer sonst bessere Bedingungen für sich und ihre Familien suchen würden.
Dieser leicht gekürzte Artikel erschien im Original in der Beilage der neuen caritas "Migration und Integration Info", Ausgabe 4/2015: Demografischer Wandel und Migration.