Chancen der Migration – Chancen für den demografischen Wandel?
Internationale Migration und demografischer Wandel sind zwei herausragende gesellschaftspolitische Themen der Gegenwart. Die Migrationsfrage wurde in den letzten 15 bis 20 Jahren vorwiegend als Integrationsfrage diskutiert. Dabei ging es oft um die nachholende Integration von schon lange anwesenden Migrant(inn)en oder deren Kindern. Erst in der jüngeren Zeit vollzog sich ein Wandel. Das Augenmerk richtet sich nun stärker auf Fragen der gegenwärtigen und zukünftigen Migration als auf Integration. Die Frage nach einer proaktiven und gestaltenden Migrationspolitik gewinnt damit an Raum.
Gleichzeitig ist der demografische Wandel seit circa zehn Jahren auch zu einem großen gesellschaftlichen Thema geworden. Die Debatte rankt sich um die Themen Schrumpfung und Alterung der Wohnbevölkerung, aber auch zunehmend um das Thema Migration und Vielfalt. "Weniger", "älter" und "bunter" sind die Schlagworte dieser Debatte. Eine Verknüpfung der beiden Themenfelder hat sich in jüngster Zeit durch die Entwicklung am Arbeitsmarkt ergeben: Der aktuell zunehmende regional- und sektorenspezifische Mangel an Fachkräften und Auszubildenden führt in Politik und Wirtschaft zu Hoffnungen, diese Lücken durch Migrant(inn)en zu schließen.
Flüchtlinge als Hoffnungsträger des Arbeitsmarktes
Die Wahrnehmung von Flüchtlingen als demografische und Arbeitskraftreserve ändert sich rapide. Seit November 2014 ist für Asylbewerber nun schon nach dreimonatigem Aufenthalt die Arbeitsaufnahme möglich. Eine derzeit aufkommende politische Debatte gilt dem "Spurwechsel" aus dem Status des Asylbewerbers beziehungsweise Flüchtlings in jenen des Arbeitsmigranten. Diese neue Diskussion über die Potenziale von Flüchtlingen reiht sich in die allgemeine Debatte um Fachkräftemangel und den demografischen Wandel ein: Teils große Hoffnungen werden darauf gesetzt, die Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung in Deutschland durch "Ersatzmigration (replacement migration)" wenn nicht aufzuhalten, so doch zu lindern. Verknüpft mit der Debatte um den "Spurwechsel" für bereits eingewanderte Flüchtlinge ist die Debatte um den "Torwechsel", also die Eröffnung neuer Zugangsmöglichkeiten für Migranten, die wirtschaftliche Motive haben.
Man könnte diesen Schwenk in der Migrationspolitik als einen Paradigmenwechsel bezeichnen, wenn er sich verstetigen und politisches Momentum gewinnen sollte. Dazu bedürfte es aber mehr als einzelner Initiativen und Pilotprojekte oder der vagen Hoffnung, ein neues Einwanderungsgesetz könne die Verstetigung des Wandels und der Reformen bringen.
Was wäre für eine Neuausrichtung der Migrationspolitik nötig?
1. Ein politischer und gesellschaftlicher Konsens über ebenjene Neuausrichtung. In Schlagworte gefasst hieße dies, den Schritt von der Anerkennung als Einwanderungsland zur (weiteren und) schnelleren Ausgestaltung zu gehen. Konkret wäre dafür in vielen Bereichen ein institutioneller Umbau nötig, der die Chance zur Umsetzung notwendiger Reformen mit sich bringt.
2. Die Entwicklung einer kohärenten Migrations- und Integrationspolitik, die sowohl das aufgeklärte Eigeninteresse des Einwanderungslandes Deutschland als auch die völkerrechtlich verbindlichen humanitären Verpflichtungen in Rechnung stellt, abwägt, aber nicht gegeneinander ausspielt.
3. Eine außen- und migrationspolitische Strategie, die als konzertierte Aktion geplant, gesteuert und proaktiv ausgerichtet ist. Dafür bedarf es der Kooperation aller relevanten Akteure: Auswärtiges Amt, Goethe-Institut, Außenhandelskammern, GIZ, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge usw
4. Einbettung in europäische und globale Zusammenhänge, angefangen bei außen- und sicherheitspolitischen Themen über die Neuausrichtung der Entwicklungspolitik bis hin zur Reform der Wirtschafts- und Handelspolitik gegenüber Drittstaaten.
Eine legitime Frage bliebe dennoch: Wie realistisch wäre die Aussicht, den demografischen Wandel und Arbeitsmarktengpässe im Land durch Migration signifikant zu beeinflussen? Ein realistisches Bild gibt eine UN-Prognose, die im Jahr 2000 für einen Zeitraum von 50 Jahren erstellt worden ist. Als Zielgrößen wurden in dieser Studie erstens die Aufrechterhaltung der Bevölkerungsgröße, zweitens die der Beschäftigtenzahl und drittens die des Verhältnisses der Erwerbstätigen (15-64 Jahre) zu Transferempfängern ab 65 Jahren projiziert. Wollte Deutschland bei gegebenen demografischen Bedingungen seine Bevölkerungsgröße stabilisieren, benötigte es demnach jährlich netto 344.000 Einwanderer. Wollte man die Beschäftigtenzahl stabil halten, wären es schon 487.000 Personen. Und um das Verhältnis Beschäftigte zu Rentnern aufrechtzuerhalten, bräuchte man jährlich netto 3,6 Millionen Einwanderer.
Könnte also eine neue proaktive Migrationspolitik Teil der Lösung sein? Ja, zum Teil. Migration kann demografische Entwicklungen beeinflussen. Allerdings sind bestimmte Entwicklungen schon in die demografischen Strukturen eingeschrieben. Der drastischen Schrumpfung mag die Gesellschaft in Deutschland entgehen, der Alterung nicht. Hinter die Aufrechterhaltung des Generationenvertrags als Solidarpakt mag man aber ein Fragezeichen setzen. Der Paradigmenwechsel hin zu einer proaktiven Migrationspolitik kann zu einer Lösung beitragen. Andere Maßnahmen wie zum Beispiel die Qualifizierung von Personen ohne Berufsabschluss, die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie der Umbau der Sozialsysteme sind zusätzliche notwendige Schritte.
Dieser leicht gekürzte Artikel erschien im Original in der Beilage der neuen caritas "Migration und Integration Info", Ausgabe 4/2015: Demografischer Wandel und Migration.