„Integration darf nicht dem Zufall überlassen sein“
Wie sieht die Arbeitssituation in der Migrationsberatung aus?
Die Anzahl und Vielfalt der Beratungsanfragen sind enorm hoch. Neben den Klientengesprächen sind wir täglich mit Behörden, Institutionen, Rechtsanwälten und Ehrenamtlichen in regem Austausch. Für die zahlreichen Kontakte und Beratungstermine ist die zur Verfügung stehende Zeit jedoch meist sehr knapp. Da bleibt zwischendurch wenig Zeit, um die eigene Arbeit zu strukturieren.
Können Sie das momentane Aufgabenspektrum in der Flüchtlingsberatung und in der Migrationsberatung für Erwachsene (MBE) näher beschreiben?
Die häufigsten Fragen drehen sich um die Beschleunigung des Asylverfahrens: Wie bekomme ich endlich meinen Aufenthaltstitel und damit Sicherheit? Wann hat das Warten ein Ende? Viele verzweifeln an den langwierigen Prozessen, insbesondere wenn man von Angehörigen getrennt wurde und die Familienzusammenführung ungewiss ist.
Neben den asylrechtlichen Fragestellungen rückt auch die Integrationsarbeit immer mehr in den Mittelpunkt. Zentrale Themen sind hier: Sprache, Arbeit und Wohnen. Die Grenzen zwischen der Flüchtlingsberatung und der Migrationsberatung für Erwachsene sind hier
fließend.
Durch gute Einzelfallbegleitung und Zusammenarbeit mit anderen Akteuren können wir für die Klienten viel erreichen. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, ausreichende Angebote und Strukturen auf den Weg zu bringen, um eine erfolgreiche Integration zu ermöglichen. Manche Integrationsbemühungen bleiben jedoch unberücksichtigt. Die Verschärfungen des Asylrechts führen nicht zuletzt auch dazu, dass wir in der Beratungsarbeit neuerdings vermehrt mit Abschiebung und freiwilliger Ausreise konfrontiert werden.
Gibt es über die Einzelfallarbeit hinaus weitere Aufgaben, die Sie wahrnehmen müssen?
Im vergangenen Jahr sind nicht nur die reinen Beratungskontakte pro Mitarbeiterin und Mitarbeiter um ein Vielfaches gestiegen. Als Berater sind wir nun zunehmend gefordert, am Aufbau von funktionierenden Strukturen vor Ort aktiv mitzuwirken. Dementsprechend häuft sich die Anzahl von Abendveranstaltungen, Netzwerk- und Austauschtreffen, Ehrenamtsschulungen, Arbeits- und Projektgruppen. Auch innerverbandlich werden wir als Experten aus anderen Bereichen angefragt und sind an der Neukonzeption von Projekten beteiligt.
Kann die Qualität der Beratung in der gegenwärtigen Situation aufrechterhalten werden?
Ohne zusätzliche Personalressourcen ist es kaum möglich, den gegenwärtigen Herausforderungen gerecht zu werden. Integration darf nicht dem Zufall überlassen sein und davon abhängen, ob vor Ort Kommunen oder freie Träger ausreichende Beratungs- und Unterstützungsstrukturen vorhalten können.
Hier sollten die Rahmenbedingungen für den Ausbau einer bedarfsdeckenden Migrations- und Integrationsberatung gesetzlich besser geregelt werden. Als Verband haben wir selbst frühzeitig zusätzliche Fördergelder, zum Beispiel über den Europäischen Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) sowie über Kommunen einwerben können. Ohne diese Projektmittel hätten wir unsere Personalkapazitäten nicht erhöhen und damit viele Aufgaben nicht in dem bisherigen Umfang leisten können. Dennoch müssen auch wir angesichts des Arbeitsumfangs Abstriche machen.
Wie gehen Berater(innen) mit den an sie gestellten Erwartungen um? Halten sie diesen Erwartungsdruck auf Dauer aus?
Viele kommen zwangsläufig an ihre Grenzen, auch wenn die Arbeitsmotivation hoch ist. Durch den gemeinsamen Austausch im Fachteam versuchen wir, gut aufeinander aufzupassen. Die Unterstützungsbereitschaft in der Öffentlichkeit und die Besonderheit der Lage haben der eigenen Arbeitssituation anfänglich trotz aller Belastungen den nötigen Rückenwind verschafft.
Aktuelle rechtspopulistische Tendenzen in unserer Gesellschaft und die jüngsten asylrechtlichen Verschärfungen machen die tägliche Arbeit nicht einfacher. Die Bedarfe der Geflüchteten und die politischen Entscheidungsprozesse gehen oftmals aneinander vorbei. Es fällt zunehmend schwerer zu erklären, warum sich die Asylverfahren so lange hinziehen oder bestimmte Zuwanderergruppen trotz guter Bleibeperspektive von Integrationskursen ausgeschlossen sind. Weniger die Erwartungen von Klienten als das Unverständnis über behördliche Regelungen und damit verbundene Grenzen der Interventionsmöglichkeiten machen mir da zu schaffen.
Was wären sinnvolle Maßnahmen, um die Flüchtlings- und Migrationsberatung vor Ort zu stärken?
Der Fachdienst für Integration und Migration ist ein wichtiger Teil im caritativen Portfolio. Deshalb müssen entsprechende strukturelle Rahmenbedingungen gegeben seinVor dem Hintergrund, dass sich auch in anderen verbandlichen Aufgabenbereichen, wie zum Beispiel in der Kinder- und Jugendarbeit oder der Beschäftigungsförderung, neue Herausforderungen durch die Migrationsbewegungen auftun, sollte der Fachdienst als Hinweisgeber bei der konzeptionellen Entwicklung und Mitakteur in der Umsetzung von Projekten beteiligt sein.
Auf kommunaler Ebene sollten wir weniger über die Pflicht zur Integration als über ein Recht auf Integration diskutieren.Im Zusammenwirken von kommunalen Akteuren, bürgerschaftlich Engagierten, den Fachdiensten für Integration und Migration und natürlich den Geflüchteten selbst können meines Erachtens die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen angepackt werden. Unabhängig von aller rechtspopulistischen Stimmungsmache zeigt sich in der Praxis eben auch ein starkes solidarisches Miteinander.
Das Interview führte Antonella Serio vom Deutschen Caritasverband.
Dieser leicht gekürzte Artikel erschien im Original in der Beilage der neuen caritas "Migration und Integration Info", Ausgabe 3/2016.