Man muss seine Zeit nutzen – jede Minute
Ankunft in Berlin
Anwarshah floh als 13-Jähriger aus seiner Heimat Afghanistan. Seit Ende 2015 lebt er in Berlin. Mittlerweile ist Anwarshah 20 Jahre alt. Er wohnt in einer von einem Jugendhilfeträger betreuten Einzimmerwohnung in Berlin-Neukölln. „2015, als ich angekommen bin, wohnte ich erst in einem Jugendgästehaus”, erinnert sich der junge Mann. „Das war sehr gut für mich, weil ich lange unterwegs war. Wir waren zwar zu viert im Zimmer, aber es war das Beste, was mir passieren konnte. Ich hatte seit langem nicht auf einer Matratze geschlafen.” Das erste halbe Jahr konnte Anwarshah aufgrund seines Aufenthaltsstatus keine Schule besuchen. Die viele freie Zeit verbrachte er mit den anderen geflüchteten Jugendlichen, die im Gästehaus wohnten. „Wir haben immer draußen Fußball gespielt. Wir haben einfach versucht, den Tag zu verbringen”, erzählt er. Irgendwann beschlossen Anwarshah und seine Mitbewohner, untereinander nur noch Deutsch zu sprechen: „Obwohl wir ja alle dieselbe Sprache gesprochen haben, haben wir uns komplett verboten, Persisch zu sprechen. Das war schwierig, aber das hat uns sehr gut geholfen, Deutsch zu lernen.”
Ein Vormund kann Schutz geben
Im Juli 2016 lernte Anwarshah Ernst Rommeney vor dem Jugendgästehaus kennen. Er wusste nur, dass da ein Mann ist, der sein Vormund werden möchte. „Ich habe von anderen gehört, dass ein Vormund einen unterstützt und man mit ihm viel unternehmen kann. Das hatte ich mir gewünscht”, berichtet Anwarshah. „Naja”, ergänzt Ernst Rommeney. „Etwas schräg hast du mich schon angeschaut.” Beide lachen. „Das ist ja auch erst einmal schwierig zu verstehen, dass man jemanden hat, der die elterliche Sorge übertragen bekommt. Zudem kann es ärgerlich sein, weil man den Vormund fragen muss bei manchen Dingen. Es kann aber auch ein Schutz sein, wenn man sagen kann: Da muss ich erst meinen Vormund fragen.” Nach der Bestätigung durch das Familiengericht war Rommeney eineinhalb Jahre Anwarshahs Vormund – bis zu seiner Volljährigkeit. Doch er begleitet den jungen Erwachsenen immer noch. „Wir sind immer noch zusammen”, lächelt Ernst Rommeney. „Zum Beispiel bewerben wir uns zurzeit gemeinsam für eine Ausbildung.”
Man muss seine Zeit nutzen – jede Minute
Lernt man Anwarshah kennen, bemerkt man schnell den Ehrgeiz und die wachen Augen des jungen Mannes. „Ich glaube”, beginnt Anwarshah, „es ist nicht hilfreich, wenn man sagt: Ich weiß jetzt genug. Man muss immer mehr Informationen bekommen über alles, was es gibt in der Gesellschaft. Ich empfehle jedem: Nutzt eure Zeit - und zwar jede Minute.” Und das hat der junge Afghane getan. Nachdem er eine Willkommensklasse besucht hatte, wechselte er auf eine Schule mit Berufsqualifizierendem Lehrgang (BQL). „Das ist ein recht altes Bildungsinstrument, das für Jugendliche aus dem Ausland neu aufgelegt worden ist”, erklärt Ernst Rommeney. „Es wurde für Jugendliche entwickelt, die die Schule abgebrochen haben. Das ist eine zweite Chance mit großem Praxisanteil. Dieser Seiteneinstieg ist auch für einen jungen Menschen, der aus einem anderen Schulsystem kommt und zusätzlich durch die Flucht einige Jahre verloren hat, sicher eine gute Möglichkeit.” Anwar Shah entschied sich für einen Praxisschwerpunkt im Bereich Elektrotechnik.
Neben dem vierwöchigen Pflichtpraktikum in einer Elektrofirma nutzte er seine Sommerferien für ein zweites Praktikum. „Das war in einer Firma, die Leiterplatten herstellt. Das war sehr interessant für mich – besonders die automatisierten Prozesse der verschiedenen Maschinen. Ich habe mir viele Fragen gestellt: wie das alles funktioniert und die Maschinen wissen, was sie zu tun haben. Als ich erfahren habe, dass die Maschinen ihre Befehle von Programmierern bekommen, war mir klar: Ich möchte etwas in Richtung IT machen.” Nach einem Jahr schloss Said Anwar Shah mit einem Notendurchschnitt von 1,3 ab und wechselte auf ein Oberstufenzentrum. „Denn beim BQL”, berichtet der junge Mann, „konnte ich meinen MSA (Anm. d. Red.: Mittlerer Schulabschluss beziehungsweise Mittlere Reife) nur innerhalb von zwei Jahren machen. Ich wollte es aber in einem Jahr schaffen.” Und das ist ihm 2018 auch gelungen. Zudem sei er, so Anwarshah, seit einem Jahr Stipendiat der Start-Stiftung: „Ich bekomme darüber 100 Euro monatlich für Bücher und Schulmaterialien. Aber was viel wichtiger und sehr hilfreich ist: Man bekommt viele Seminare angeboten. Das ist sehr effektiv und informativ.”
Interessen wecken, Potenziale fördern und Chancen geben
Ernst Rommeney war auf der Suche nach einer Aufgabe für die Zeit nach seiner Pensionierung. Bei seinen Recherchen ist er schließlich auf einen Vormundschaftsverein des Caritasverbandes für das Erzbistum Berlin gestoßen. „Was mich unter anderem überzeugt hat, war, dass der Aufgabe als Vormund eine Art Ausbildung vorgeschaltet war”, erzählt Rommeney. So traf er damals gut vorbereitet auf den geflüchteten Jugendlichen. Seitdem sieht der Pensionär es als ihre gemeinsame Aufgabe, nach und nach die Probleme zu lösen, die anstehen. „Das waren eben Schule, Asylverfahren und Freizeitgestaltung”, erzählt er. „Ich habe immer geschaut, wie ich Anwarshah fördern kann, aber auch fordern. Ich bin mit ihm zum Beispiel zur Langen Nacht der Industrie gegangen. Da fährt man mit einem Bus durch Berlin und lernt verschiedene Unternehmen kennen. Ich wollte, dass er Betriebe aus seinem Interessensgebiet der IT und Elektrotechnik kennenlernt.”
Türöffner für Freundschaften
Ein besonderer Wunsch von Anwarshah war es unter anderem, mehr Deutsch zu sprechen – vor allem mit deutschen Jugendlichen. Der damalige Vormund schlug seinem Mündel vor, eine Theatergruppe bei der Staatsoper Berlin zu besuchen. „Stimmt”, erinnert sich Anwarshah. „Eigentlich war es mein Ziel, dadurch besser Deutsch zu sprechen. Aber dann hat es viel Spaß gemacht, mit den anderen zusammenzuarbeiten, gemeinsam Theater zu machen. Es gab viele witzige Momente und ich habe dort einige sehr enge Freunde gefunden.” „Und was hast du noch mal bei der evangelischen Jugend gemacht?”, fragt Ernst Rommeney. Immer wieder fungiert Herr Rommeney als Stichwortgeber. Man merkt, dass er Anwarshah viel selbst erzählen lassen möchte, anstatt über ihn zu reden. „Das hat Ernst mir auch angeboten. Das war ein internationales Jugendcamp in Wittenberg. Da waren 300 junge Menschen aus ungefähr 30 Ländern.” Anwarshahs Augen leuchten beim Erzählen. „Obwohl ich nicht wusste, was mich erwartet, bin ich hingegangen. Aber dann war ich dort und es war einfach ein Traum. Ich habe dort sehr viele Freunde gefunden.” Nach dem Camp besuchte er ein Jugendleiter-Projekt, in dem er lernte, selbst Jugendgruppen zu begleiten. Wenn sich die Gelegenheit biete, sagt er, könne er sich gut vorstellen, zukünftig selbst eine Gruppe zu leiten.
Die nächsten Schritte
Zurzeit ist Anwarshah auf der Suche nach einer Ausbildung. „Es gab schon ein paar Bewerbungsgespräche und einen Einstellungstest. Aber ich habe noch keine Rückmeldung bekommen”, sagt er. „Hast du eigentlich schon bei dem SOS-Kinderdorf nachgefragt?”, erkundigt sich Ernst Rommeney bei Anwarshah. Dort wurde er zum Probearbeiten eingeladen. Jedoch konnte der junge Mann den Termin nicht wahrnehmen. „Ruf einfach kurz dort an und frag nach einem neuen Termin für das Probearbeiten”, ermutigt Rommeney. Said nickt. Die Ausbildung sei als nächster Schritt besonders wichtig, erklärt Anwarshah: „Ich darf nur, bis ich 21 Jahre alt bin, beim Jugendamt bleiben. Danach muss ich mir eine eigene Wohnung suchen und alleine klarkommen.” Außerdem versuchen die beiden, einen afghanischen Pass für Anwar Shah zu bekommen. „Wir sind gerade dabei, die Geburtsurkunde zu bekommen. Wenn er die hat, bekommen wir seine Ausweispapiere”, berichtet Ernst Rommeney. Nur mit dem Pass aus seinem Heimatland sei es Said möglich, eine Ausbildungsduldung zu beantragen und anschließend, im besten Fall, einen gesicherten Aufenthalt. „Ich bin froh”, erzählt Anwar Shah, „dass ich diesen Weg nicht alleine gehen muss. Ernst unterstützt mich bei allem. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.”